»Wow. Was eine Aussicht.«
Vorn voran jubelte Jarik und warf beide Arme in die Luft. Der Beritt scharrte sich erregt um ihn und Ben, der sich in den Steigbügeln aufstellte und seinen Blick, mit der flachen Rechten vor der blenden Sonne, beschattete. Erst nachdem alle auf gleicher Höhe waren, beruhigten sich die erhitzten Gemüter seiner Begleiter, da sie keiner ernsten Gefahr gegenüberstanden, und sahen sich eigenst um. Sie befanden sich auf einer leicht ansteigenden Anhöhe und konnten von dieser aus, das gesamte Gebiet zwischen dem nördlich bis östlich verlaufenen Waldrand bis hinunter zum Pass überblicken. Üppiger Baumbewuchs behinderte ihren Blick in nördliche als auch östliche Richtung und schien deutlich größer, als ursprünglich angenommen.
Jarik genoss sichtlich den Anblick und sah vor seinem inneren Auge bereits Dinge, die andere noch nicht zu sehen vermochten. Er sog tief Luft in die Lungen und atmete hörbar erleichtert aus. »Von diesem Ort ausgehend, sollten wir unseren Siegeszug beginnen, Freunde. Schaut euch diesen herrlichen Flecken an.« Mit der rechten Hand zum Wald deutend. »Dort vor uns verlaufend der riesige Baumwuchs.« Sich im Sattel zum Pass drehend deutete er eine weitere Richtung an und zeigte an einen fiktiven Ort, wo sich ein kleiner Einschnitt im Gebirge befand. »Da unten, der eingerückte Bereich im Brehin für einen künftigen Steinbruch und dort drüben, ...« nun wieder in eine vollkommen andere Richtung weisend. »... noch vor dem Wald – die ebene Fläche – als möglichen Acker. Wie für uns geschaffen.«
Wieso schenken sie mir so viel Vertrauen? Was bin ich für sie? Okay, solange ich hier bin, werde ich sein was sie in mir sehen - hoffentlich. Ich werde versuchen zu sein, was ich schon immer sein wollte.
Jarik sprühte nur so vor Ideen und deutete mal in diese und mal in jene Richtung, folgen tat ihm jedoch niemand. Alle Anwesenden kamen seinen wirren Gedankengängen nicht mehr hinterher und warfen sich verhaltenes Grinsen entgegen. Ben nährte sich ihm und legte ihm die Linke auf die Schulter. »Du hattest Recht, Jarik. Ein malerischer Anblick und ein perfekter Ausgangspunkt für unser Unterfangen. Ein wahres, erstes Zuhause für unser Volk.«
Jarik hielt endlich inne, senkte den Arm und blickte seinem Freund verwundert ins Gesicht. Verunsichert verzog Ben die Brauen. »Was hast du?«
»Unser Volk?«
»Mhm, du hast schon verstanden. Ich sagte – unser Volk, ja. Ich muss mich damit abfinden, hier in dieser Welt – Rongard – zu leben, und somit stellt dein Volk ebenso das meine dar. Oder irre ich mich?«
Lange schauten sich die beiden an und musterten einander, als Jarik endlich die erdrückende Spannung brach, die sich ihm in die Gesichtszüge gegraben hatten. »Ich habe nicht zu wagen gehofft, dass du dich so entscheiden würdest. Du wirst sehen, unser Volk, wird dich lieben.«
Dankend der Anerkennung nickte Ben, da er sich nicht dazu in der Lage sah, seinen Dank in Worte zu fassen. Er wendete sich stattdessen ab und betrachtete weithin das Umland. »Jarik, du und Thanh. Nehmt euch eine weitere Schar zu jener und beginnt mit einer für uns vollendeten Karte dieses Geländes. Du kennst dieses Tal als Einziger von uns, weswegen du anfangs dabei sein solltest. Sobald wir genügend in Erfahrung gebracht haben, kann Thanh allein mit den Patrouillen ausreiten.«
»Ich nehme dich beim Wort. Nur solange wir noch nicht angemessen über die hiesigen Verhältnisse wissen.«
»Nun macht schon, haut endlich ab und lasst den Tross antraben. Eine Menge Arbeit wartet auf Erledigung und unserem Thanh jucken vor Aufregung schon die Finger.«
Bereits von Weitem gab Jarik Zeichen zum Aufsitzen und die Nahenden konnten erkennen, dass Bewegung in die Lagernden geriet. Befehle und Anweisungen wurden erteilt, sodass auch die ersten Karren in die richtige Richtung gelenkt wurden. Jarik orderte eine weitere Schar, ihm zu einem Ausritt zu folgen und Ben wartete auf die Entgegenkommenden.
Alle waren mittlerweile unterwegs und steuerten auf ihr Ziel zu. Auf halbem Wege zum eigentlichen Bauplatz des ersten Weilers sollte ein Steinbruch errichtet werden und Ben fragte sich durch die Menschenmenge nach dem besten Steinmetz. Dieser sollte sich um die Errichtung und Leitung dessen bemühen und Arbeiter aus der Menge heranziehen, um für stetigen Nachschub zu sorgen. Es dauerte nicht lange, als ihm ein Mann mittleren Alters entgegen kam. In Körpergröße ähnlich gewachsen wie Ben selbst und mit muskelbepackten Armen, die von schwerer Arbeit zeugten, stand dieser mit schwieligen Händen vor ihm.
»Ich bin Angrol Crimgon, Herr. Steinmetz. Ihr habt nach mir gefragt?«
»Das habe ich. Seit wann gehst du der Beschäftigung eines Metzen nach, Angrol?«
»Seit ich ein kleiner Junge war, Herr. Mein Vater brachte mir das Handwerk bei und lehrte mich den Umgang mit Hammer und Meißel. Ich durfte jedoch stets nur im Verborgenen diesem Geschäft nachgehen, damit mich die Gouwors nicht nach Ramdur verschleppen. Niemand kam von dort jemals zurück. Viele handwerklich begabte, so wie ich, arbeiten deswegen nur noch heimlich und unter der Hand.«
Ben hing die Zügel Artemis‘ locker über den Sattel und stieg ab. Er reichte dem Mann die Hand zum Gruß und beide fassten sich bei den Handgelenken, was denselben Zweck diente, wie in seiner alten Welt ein klassischer Händedruck. »Begleite mich ein wenig. Ich möchte dir etwas zeigen und deine Meinung darüber erfahren.«
»Gern, Herr.« Der Steinmetz neigte ergeben das Haupt und folgte ihm.
Gemeinsam, Artemis lief ihnen immer wieder Gras zupfend hinterher, schlenderten sie über das Gelände und Ben ließ sich die Handhabe des Metzens erklären und welchen Arbeiten Angrol bisher nachgegangen ist. Auch über die alltägliche Angst über dieses vermeidliche Ramdur ließ er sich berichten, wohin besagte Leute verschleppt wurden. Sie waren bereits einiges an Strecke gegangen, als die beiden vor dem Einschnitt im Brehin zum Stehen kamen.
»Was hältst du von diesem Platz? Kannst du dir vorstellen, hier einen Steinbruch zu errichten?«
»Wozu soll der Stein vorrangig dienen, Herr?«
»Wir wollen mit diesem für ordentliche Baufundamente und stabile Mauern sorgen.«
»Hm, dann wollen wir doch mal schauen, was uns dieser Fels zu bieten hat.«
Der Steinmetz begutachtete das Gelände sowie das Gebirge in groben Zügen und trat näher heran. Umherliegende Steine hob er auf und warf sie wieder fort. Aus einer seiner mitgeführten Taschen holte er einen schwer aussehenden Hammer und einen gekerbten Meißel hervor, beurteilte sein Werkzeug fachkundig und schaute sich suchend nach einer geeigneten Stelle um. Angrol erstieg einen kleinen Vorsprung und setzte den Meißel in einen Spalt. Weit holte er mit seinem wuchtigen Hammer aus, um diesen mit einem schnaufend harten Schlag auf den Kopf des Meißels niedersausen zu lassen. Ein solides Stück platzte daraufhin vom gewachsenen Gestein und fiel ihm direkt vor die Füße, welches er in seine schwieligen Hände nahm und forschend betrachtete.
Er schlug von weiteren Stellen erneut Stücke heraus und beurteilte auch diese wissentlich und nickte zufrieden. »Sieht gut aus, Herr. Wenn wir die erste äußere Schicht herunter schlagen, gelangen wir an guten Stein. Den Abbruch können wir aber zum Verfüllen der Fundamente nutzen. Wenn wir diesen kleiner zerschlagen und mit Erdreich vermischen, schaffen wir eine gute und feste Sohle.«
»Soll heißen, dass dieser Platz durchaus nutzbar ist?«
»Genau das, Herr.«
»Sehr gut. Es soll von heute an deine Aufgabe sein Angrol, diesen Steinbruch zu errichten und zu leiten. Geh und erkundige dich nach weiteren Steinmetzen, suche dir Unterstützung bei den Schreinern und Bauhelfern. Nehmt euch was ihr benötigt, um mit der Errichtung einer soliden Arbeitsfläche beginnen zu können.«
»Ich danke für euer Vertrauen, Herr. Ich werde mich sogleich darum kümmern«, bedankte sich Angrol mit freudigem Lächeln und quittierte mit eifrigem Kopfnicken.
»Errichtet eure Zelte in unmittelbarer Nähe, ich werde Männer zum Schutz abstellen, die ebenfalls hier lagern und euch beim Aufbau zur Hand gehen.«