Tageslicht erhellte den vor ihnen liegenden Tunnelausgang und ein Geräusch herabstürzenden Wassers füllte die Geräuschkulisse. Direkt hinter dem Ausgang waren weitere zwei Nischen in den Fels geschlagen, nur dass diese glatt poliert und die Sitzbänke sauber herausgearbeitet wurden. Ein Balkon mit steinernem Geländer und einer Fläche von etwa zwei Längen im Halbrund begrüßte die aus dem Tunnel tretenden und bot einen eindrucksvollen Anblick. Rechts und links jenes Balkons führten breite Wege seicht abwärts. Der Linke führte am Gebirge entlang, wo weitere Tunneleingänge auszumachen waren und endete an der Sohle des eigentlichen Plateaus. Der rechte Weg führte leicht abfallend zu einer kleineren Fläche mit einem natürlich umgebenen Gesteinsbogen mit einem Durchlass zu einer dahinterliegenden Senke, die von ihrer Position aus nicht einzusehen war.
Der Grund des Gebirgsplateaus war zu mehr als die Hälfte von einem kristallblauen See umspült, dessen Wasserspiegel von einigen Quellen sichergestellt wurde, die dem Gebirge entsprangen. Zwei von diesen stürzten von höheren Lagen als kleine Wasserfälle, aus Quellhöhlen, hinab in den See. Rundherum dieser beiden Katarakte waren Gerüste und starke Seile zu erkennen, auf denen Handwerker zu gange gingen, und dem Stein ein anderes Aussehen zugestehen wollten. An den Stellen, wo die Quellen aus dem Gestein führten, hatten begabte Hände Augen und einen Nasenansatz geformt, sodass es den Anschein bekam, diese Augen würden Tränen vergießen. Das geplante Felsrelief sollte die an der Oberfläche verbannten Naïns an ihre einstige Heimat im Berg erinnern. In ihrer ursprünglich Angestammten, gab es eine gewaltige Seenhalle, die ›weinende Halle‹, mit einem ähnlichen, aber deutlich enormeren Relief. Das Bildnis des ersten Königs und Einers ihres Volkes, welches die Versorgung der Wasserleitungen sicherstellte.
»Schau nur Galoth, die Augen – sie weinen. Unsere fleißigen Steinschläger haben bemerkenswerte Arbeit geleistet.«
»Ja, aber dafür haben sie den Höhlenzugang deutlich vernachlässigt. Bin mal gespannt, ob sie wenigstens an der Zisterne und der Überbauung weiter gearbeitet haben. Ich will ein ordentliches Dach übern Kopf wissen.«
»Griesgram – wie üblich. Wir werden es wohl gleich sehen, was sie geschafft haben und was nicht.«
Sie näherten sich der Balustrade und genossen die gebotene Aussicht. Mit den Händen am Lauf aufgestützt schauten sie über das Gelände und blickten hinab zum See. Dieser wurde mittels einer architektonischen Meisterleistung, eine riesige Zisterne, weiträumig überbaut, um der geringen Landmasse entgegenzuwirken und so stabile Bodenfläche zu schaffen. Der König der Naïns hatte seine Baumeister veranlasst, hier in diesem Gebirgstal eine neue Stadt für sein gebliebenes Volk zu errichten. Da das Herz des Berges nicht mehr sprach, war nicht sicherzustellen, dass sie jemals wieder in die Heimat zurückkehren konnten oder würden. Die Baumeister hatten das gebotene Gelände entsprechend der Wünsche vermessen und waren so zu dem Entschluss gekommen, den Gebirgssee überbauen zu müssen. Auf drei Ebenen sollte die Stadt ein solides Zeugnis ihres Könnens bieten. Handwerksbetriebe, Beete für ihre beliebten Tiefenpilze, Wohnhäuser, eine Kaserne wie auch ein Palast sollten so erschaffen werden. Die erste Ebene – der Grund, die zum größten Teil auf der Zisterne erbaut dastanden, war vollendet und stand mit einer Ziermauer umgeben bezugsbereit da.
»Schau, Tungdor hat nicht übertrieben. Die Grundebene ist komplett ausgebaut und man kann schon einige befüllte Beetfelder erkennen. Wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis uns endlich eine Taverne mit Bëor versorgt.«
»Komm weiter Galoth, der Prinz wird sich bestimmt in der Ratshöhle aufhalten, wenn er nicht gerade unten in der Stadt rumlungert, um mit den Baumeistern die zweite Bauetappe zu besprechen.«
Sie folgten dem Weg zu ihrer Linken und betraten einen der Tunnel, der vor einer soliden Tür endete und von zwei Wachen flankiert wurde. Vor diesen blieben Kabar und Galoth gehorsam stehen und nickten grüßend, wohl wissend, dass zum Wachdienst berufene im direkten Dienste des Prinzen oder Königs nicht mit anderen unaufgefordert redeten.
»Ist der Prinz zugegen?«
»Ja Kabar. Er wartet auf euch. Ihr dürft eintreten.« Beide Wachen traten zur Seite und gaben den Zutritt frei.
Kabar öffnete die Tür und trat, begleitet von seinem Bruder Galoth, in die Ratshöhle ein. Mehrere Stühle standen um einen grob gearbeiteten Tisch sauber aufgereiht, auf dem einige Karten und Schriftstücke scheinbar unsortiert herumlagen. Mit Brennstein befüllte Standbecken erhellten die Höhle, die keinerlei unnötigen Zierkram vorwies. Kahl, kalt und abweisend war sie eingerichtet und diente nur zu Besprechungen. Ein kräftig aussehender Naïn erhob sich von dem Eingang gegenüberstehendem Stuhl und schaute von einem jener Niederschriften auf, die er soeben noch las. Rumpelndes Schaben ertönte, als der Stuhl beim Aufstehen nach hinten geschoben wurde.
»Ihr seid spät dran und habe euch früher erwartet, was gibt es zu berichten?«
»Verzeiht mein Prinz ...«, beide Naïns verneigten sich förmlich, »... wir haben am Pass zu den Ländern der Pferdemenschen unerfreuliche Beobachtungen zu melden.«
»Mein guter Kabar, gerade heraus. Was geht dort vor, hat die stinkende Brut den Pass entdeckt?«, verlangte Aguschal vornübergebeugt und auf seine Fäuste abgestützt zu erfahren.
»Nein mein Prinz, es sind die Menschen selbst.«
Aguschals Haltung entspannte sich sichtlich. »Das ist nichts Neues. Im Tal lungern häufiger eine handvoll der ihren herum. Was ist daran so beunruhigend, erkläre das.« Der verzog die Stirn und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder den Schriften.
»Nun ja, eine Handvoll nicht. Aber eine halbe Legion schon.«
»WAS?!« Aguschal rückte weiter vor und ließ seinen Mund dabei wie vor dem Kopf gestoßen offen stehen. Mit den aufgestützten Fäusten zerriss er ungeachtet das zuvor noch gelesene Schriftstück.
Die Gebrüder zuckten bei dem unerwarteten Ausbruch erschocken zusammen. »Ja mein Prinz. Sie haben sich am kleinen Rund des Passes verbarrikadiert. Eine Palisade errichtet, den Pass bereinigt und eine halbe Legion durch diesen geführt. Berittene und kampffähige Männer auf guten Pferden beschützen die zivilen.«
Galoth wippte nervös von einer Seite zur anderen, so als wolle er den Ausführungen seines Kameraden etwas hinzufügen.
»Weiter, was kommt noch? Ich fürchte, dass das nicht alles ist.«
»Deren Anführer, mein Prinz«, antwortet er.
»Was ist mit ihm?«
»Wir konnten belauschen, wie sie über einen angeblichen Sieg sprachen und brüsteten. Dieser Mensch führte eine komplette Hundertschaft an berittenen Kriegern in ein großes Lager mit einer Vielzahl von Gouwors. Sie schlugen alle nieder, ohne Verluste zu beklagen. Die Pferdemenschen nennen ihn Benjamin.«
Aguschal stieß sich vom Tisch ab, verschränkte seine Arme vor der Brust und blickte die Unheil überbringenden Boten arglistig an. Er begann am Kopfende des Tisches, wo er gesessen hatte, auf und ab zu gehen und murmelt mehr zu sich selbst und nickte wiederkehrend mit dem Kopf. »Hm, demnach reiten die Pferdeherren wieder? Haben sie sich wahrlich nach all den Jahreswenden ihre Abstammung ersonnen? Wer ist dieser Mann, der dieses geschundene Pack anführt und was, beim Hammer des Einers, trägt er für einen seltsamen Namen und woher kommt er?«
»Das wenige, dass wir belauschen konnten, sagt nicht viel über ihn aus. Er trägt die Rüstung eines einstigen Schwertmannes. Was unternehmen wir, wenn sie die Brut herführen oder bereits auf ihre Spur gelockt haben?«
Aguschal drehte sich seinen Spähern zu und unterbrach seine Wanderschaft. »Mein guter Galoth, wenn dieser Mann – Benjamin – mit seinem Beritt es vollbracht hat, eine große kampferprobte Patrouille zu vernichten, können wir davon ausgehen, dass sie sich zu verteidigen wissen. Mich würde viel mehr interessieren, wie er es geschafft haben mag, diesen verängstigten Haufen Unterjochter zu einen und in den Kampf zu führen.«
Angesprochener schaute beklommen zu Boden, zuckte mit der linken Wange und schüttelte den Kopf. Sodann hob er wieder den Blick und meinte: »Das konnten wir leider nicht in Erfahrung bringen.«
»Natürlich nicht. Mein Vater wird in wenigen Tageswenden zurück erwartet. Er soll entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Ihr beide hingegen werdet euch ausruhen, wir haben vor Ort eigene Probleme, die es zu bewältigen gilt.«
Galoth und Kabar sahen sich an und verengten ihre Augen angewidert zu schlitzen. »Die Morroval?«
»Obwohl wir unablässig Schutt und Seewasser in die Schlucht leiten, haben diese scheußlichen Viecher es geschafft, sich abermals ans Licht zu buddeln. Sie haben Krallen wie Schaufeln und wir sind eindeutig zu Wenige, um den Schacht in seiner Größe dauerhaft und in ausreichender Menge zu befüllen. Wir benötigen eure Äxte, um die Arbeiter zu schützen. Es wird immer Schwieriger, ihre Lasten abzukippen ... sie werden mutiger.«
»Die Morroval treiben sich doch meist nur in den dunklen Tiefen herum, wieso ausgerechnet hier?«
»Das wissen wir nicht. Das Tageslicht gibt uns Sicherheit, aber sobald es dämmert, versuchen sie unsere Arbeiter anzugreifen. Geht jetzt und ruht euch aus.«
Die beiden Späher verneigten sich und verließen die Ratshöhle, um zu ihren Wohnhöhlen zu gehen und dort eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Allein stand Aguschal vor dem Ratstisch und starrte mit leerem Blick auf die hinterlassene Unordnung, von Schreiben und Notizen.
»So, die Pferdemenschen haben sich also besonnen und einen Anführer erkoren. Hoffentlich ist Vater nicht zu blauäugig und reitet auf dem alten Bündnis herum.«