Ben fand auf diesen vorgebrachten Einwand keine passende Antwort und musste den bitteren Kloß in seinem Halse erst einmal verdauen. Er suchte Beistand bei Korian, der ihm bereits zwei Mal zur Hilfe eilte, um seine Haut zu retten. Dieser hatte hingegen anderes vor, als er erneut begann, die Anhöhe hinauf zukraxeln und starrte ihn grinsend und aus zusammengekniffenen Augen an. Er nickte kurz, kniete auf einem Bein nieder, senkte sein Haupt und erbot seiner Tochter es ihm gleich zu tun. Er suchte Blickkontakt, hob seine Stimme laut und deutlich von allen hörbar.
»Ja Herr. Ihr führtet uns von Anfang an und gabt uns unsere Aufgaben, die es zu erledigen galt und weiterhin gilt. Niemand von uns wagt zu widersprechen und überall lobpreist man euren Namen ...« Korian konnte sich ein Grunzen nicht verkneifen, als er fortfuhr. »... selbst, als ihr wie ein Tölpel mit den Kindern herumgetollt seid.« Die Umstehenden, die Zeuge dieses Aktes waren lächelten und konnten ebenfalls ein entsprechendes Kichern nicht zurückhalten. »Wir fühlen uns euch ergeben, Herr. Ihr könnt euch uns nicht verweigern. Steht dazu – mein Fürst.«
Wie zum Startakt sahen sich viele der Anwesenden an und taten es Korian und seiner Tochter nach wenigen Herzschlägen gleich. Sie knieten nieder und neigten ihr Haupt. Sogar die bereits vereidigten Jäger beteiligten sich dieser unterwürfigen Geste. Jarik gesellte sich neben seinen völlig verblüfften Freund, der sich immer unbehaglicher fühlte und verunsichert über die niederkniende Menge starrte.
»Es musste so kommen, mein Freund. Mein Bruder war nur der Erste, der es bemerkte. Dir bleibt nichts anderes übrig, als ihrem Wunsch zu entsprechen.«
»Aber ... Jarik.« Er blickte ihm direkt in die Augen und hob an zu widersprechen, als er ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte.
»Du hast keine Chance deiner Bürde zu entkommen.« Mit voller Stimme, die auch der Letzte der Knienden vernahm, rief er den zu vergebenen Titel aus. »Mein Fürst – Benjamin – Fürst von Neumark!«
»Fürst von Neumark!«, echoten die Übrigen, welches wie ein rollender Donner zu ihm hinauf walzte.
Ben lief es eiskalt den Rücken hinunter und ihm wurden die Beine schwach.
Na prächtig, jetzt bin ich nicht nur in einer fremden Welt gefangen. Ich bin auch noch Fürst einer Mark, verantwortlich für ein gesamtes Volk. Mir wird schlecht.
Der einsetzende Jubel weilte eine gefühlte Ewigkeit, als sein Volk begann sich zu zerstreuen und zu ihren Zelten zu gehen, um den morgigen Aufbruch vorzubereiten. Jarik musterte seinen Freund und legte ihm beschwichtigend den Arm um die Schulter. »War das jetzt so schlimm?«
»Ich weiß es noch nicht, geschweige denn, wie ich mit der Situation umgehen soll. Ich brauche Zeit, um das zu verdauen«, erwiderte Ben mit gesenktem Kopf und brüchiger Stimme.
»Sei dir gewährt. Sofern du mich brauchst – ich bin in meinem Zelt.«
»Mhm.«
»Noch was. Verliere dich bitte nicht zu sehr in deine Gedanken. Das Volk hat dich bereits von Anfang an als ihren Anführer gesehen, nur ohne offiziell dazu zu stehen. Es hat sich nichts geändert.«
Beide verabschiedeten sich mit festem Griff am Handgelenk. Ben schaute seinem Freund hinterher, bis sich dieser im Gewimmel der Zelte verlor. Er drehte sich Richtung Pass-Weiler, hockte sich an Ort und Stelle im Schneidersitz und legte den Kopf in die Hände. Er verdeckte seine Augen vor der Realität und atmete schwer.
Was mache ich hier nur, ich will nach Hause. Was habe ich angestellt, um all dies hier erleben zu müssen? So habe ich mir meinen Wunsch nicht vorgestellt.
Gedankenverloren zog er die Beine ans Kinn und umklammerte diese mit seinen kräftigen Armen. In der momentanen Verfassung war es ihm einerlei, ob er von anderen gesehen wurde oder nicht. Er vergrub sein Gesicht zwischen den Beinen, wog sich leicht vor wie zurück und hängte seinen Gedanken nach.
Der seichte Windhauch, der seinen Körper umwehte, nahm kaum merklich zu und es fühlte sich an, als wenn dieser gezielt sein rechtes Ohr sanft umstrich. Eine leise melodische Stimme schien in diesem zu schwingen. Vorerst undeutlich und fremd klingend. Er kämpfte, um seine Aufregung zu legen und versuchte angestrengt den Tönen einen Sinn abzuringen und lauschte, bis sie deutlicher wurden.
»Mein Liebster, wo bist du nur? Ich kann deine Nähe spüren aber Du bist nicht hier, du fehlst mir so sehr.«
Katrin bist du das? Das ist deine Stimme. Bitte hilf mir
»Mein Liebster, du bist fort und niemand kann dich finden. Wo auch immer du bist – halte nicht fest an mir. Du musst deinen Weg gehen, auch wenn es bedeutet, dich für immer Freigeben zu müssen. Geh und finde deinen Weg – ich lasse dich ziehen.«
Der ihn umspielende Wind flaute ab und die Stimme wurde zu einem kaum hörbaren Wispern. »Vergiss niemals, ich liebe dich aber es muss so sein, wollen wir uns jemals wiedersehen.«
Ben wippte weiterhin vor sich hin und spürte eine neue Anwesenheit – rechts neben ihm, ganz deutlich. Eine Hand nährte sich ihm. Vorsichtig und behutsam legte diese sich sanft auf seinem nackten Unterarm. Ein Kribbeln durchflutete seinen gesamten Körper, angenehm und beruhigend. Dem Gefühl nach, die Hand einer Frau.
»Ihr fühlt euch allein, nicht wahr? Was beschäftig euch? Denkt ihr an eure Weggefährtin? Katrin?«
Ben hob den Kopf und blickte in die leuchtend blaue Augen Lerinas, die direkt vor ihm in die Hocke gleitete und ihm ein herzhaftes Lächeln schenkte.
»Lerina. Wie lange seid ihr schon hier? Solltet ihr euch nicht bei eurem Vater aufhalten?«
»Verzeiht, ich habe euch beobachtet und gehört, als ihr in Gedanken laut von jener Frau spracht. Ist sie ... eure Gemahlin?«
Überrascht zuckten ihm die Brauen und verneinte mit einem kaum merklichen Kopfschütteln, ohne dabei den Blickkontakt abzubrechen. Ihre Augen schienen ihn förmlich zu verzehren und seine Härchen an den Armen richteten sich auf. Ihre Augen glichen einem Tor in den Himmel, so durchdringend Blau und einladend.
»Was seht ihr in meinen Augen, Herr?«
»Oh«, verlegen sah Ben zur Seite und betrachtete weiter, möglichst unauffällig, ihr elfenhaft geschnittenes Gesicht. Seine Stimme wurde leise und ruhiger.
»Sie ist nicht meine Gemahlin. Ich verlor sie, als ich in dieses Land kam – vermutlich für immer. Eine Geschichte, die ich euch gern ein andermal erzählen möchte.« Er kämpfte mit aller Macht die Tränen nieder, die ihn übermannen wollten.
Immer noch die zarte Berührung auf seinem Arm fühlend, begann Lerina seinen Arm sanft zu streicheln. Mit ihrer anderen Hand hob sie behutsam sein Kinn, um ihm direkt in die Augen blicken zu können. »Herr, verzeiht. Ihr seht betrübt aus und glaube euch verstehen zu können. Glaubt mir, wenn ich euch beteure, dass das gesamte Volk Neumarks hinter euch und euren Idealen steht und stehen wird. Verzeiht mir nochmals, aber ich kann nicht anders.«
Kantzengleich drückte sie ihm geschwind ihre Lippen auf die seinen und verweilte so einige wenige Herzschläge. Der Kuss kam unerwartet aber nicht abschreckend und äußerst lieblich zugleich. Samtweiche Lippen auf den seinen sanden ein Gefühl der Geborgenheit durch die Muskeln und ließen ihn endlich entspannen. Kurz bevor er sie an sich ziehen konnte, um sie zu halten, entzog sie sich ihm und schaute ihn rasch einer Reaktion abwartend an.
»Verzeiht, Herr. Ich geh jetzt lieber.«
Noch bevor Ben nach ihrer Hand greifen konnte, um sie zum Bleiben zu überreden, stand sie auf und lief hinab zu den Zelten. Ihre Haare, wie ihr Kleid wedelten hinter ihr her. Das getragene Kleid schmiegte sich von vorn gegen ihren tadellos geformten Körper und betonte ihren schmalen Wuchs und ihre wohl gerundeten Brüste. Bei näherer Betrachtung fiel auf, dass sie barfuß unterwegs war und eben so in das Durcheinander der Zeltstadt verschwand.
Wieso fühle ich mich bei dieser Frau so geborgen. Sie ist mir fremd und doch so nah, so als würde ich sie seit einer Ewigkeit kennen. Was war mit dem Wind? War das eine Botschaft? Soll ich mich hier in diesem Land binden und mich meiner Liebsten entziehen? Was soll ich nur tun – verflucht ich weiß es nicht.
Ben stand auf und reckte seine eingeschlafenen Beine, die kribbelnd wieder zum Leben erwachten. Noch lange wanderte er umher und lauschte leisen Gesprächen, die in den Zelten und an den Feuern geführt wurden, bis er sich in seine Decke hüllte und einschlief.