»Hallo Yaeko, alles in Ordnung?«, fragte ihn einer der Posten, der bei ihren Pferden Wache hielt, mit einem Fingerzeig hinauf des Gebirges.
»Ja. Ich habe nur Sehnsucht nach dem Duft der Wiesen. Ich will hinüber zum neuen Weiler, um wieder ein paar andere Gesichter zu sehen. Willst du mich begleiten?«
»Gern. Was denkst du, wie lange müssen wir noch verweilen?«
»Nicht mehr allzu lange hoffe ich. Wir haben heute erneut eine Fackel in den Schacht geworfen.« Zitternd vor Kälte schlang er seinen Umhang fester um sich.
»Und? Komm schon, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.«
Yaeko grinste seinen Gegenüber hämisch an. »Wasser. Wir haben Wasser gesehen, nachdem wir den Zulauf wieder gesperrt haben.«
»Dann ist dieser verdammte Schacht endlich dicht?«
»Mhm, das erfahren wir zur morgigen Tageswende. Unsere kleinen Freunde wollen die Zeit noch abwarten und weiter abkippen. Danach seilen wir uns hinab und sehen nach dem Rechten.«
Die beiden sattelten zwei Pferde und redeten über Belangloses und dem stetig kälter werdenden Winden, die über die Ebene bliesen. Sobald sie in ihren Sätteln saßen, gab Yaeko Zeichen und gemeinsam trabten sie an. Den neuen Weiler konnten sie vage von ihrem Standpunkt aus erkennen.
»Von hier aus betrachtet, liegt der Weiler nahezu still da. Sind denn alle ausgeflogen?«
»Soweit ich weiß, spielt sich momentan der Hauptteil im südlichen Bereich ab. Die hinteren Gebäude wurden als Erstes fertig.«
Und so war es auch. Alle Bewohner des Ortes und viele Helfer aus den umliegenden Gehöften hatten sich im vorderen Freihof eingefunden. Die meisten schienen sich zu verabschieden, denn einige Karren waren mit Werkzeugen und diversen Utensilien beladen. Sie standen zum Aufbruch bereit und Pferde weilten angespannt davor.
»Ah, schaut zwei Schwertmänner der Mark.« Die Versammelten drehten sich in die gezeigte Richtung, aus derer sich die beiden genannten näherten und hoben zum Gruß die rechte Hand.
»Grüße. Wie ich sehe, sind einige zum Aufbruch gerüstet, ein weiterer Standort zu dieser Zeit?«
»Nein Oberscharführer. Unsere Arbeit ist getan und wir, bis auf unsere Freunde vom Fischgrund-Weiler, gehen Heim. Wir müssen unsere Höfe und Tiere für die Wintermonde vorbereiten.«
»Und wir vom Pass-Weiler wollen den Männern im Pass zur Hand gehen.«
Yaeko verzog unwissend die Gesichtszüge und legte seinen Kopf leicht zu Seite. »Was sind das für Beschäftigungen, von denen ihr redet?«
»Oh, ihr wisst es nicht? Das kleine Tal im Pass, die Wacht, wird erweitert und ausgebaut. Dort soll unter der Anleitung der Naïns die Fläche vergrößert und die Palisade durch eine solide Bastionsmauer ersetzt werden.«
»Das stimmt. Es müssen nur noch zwei Dächer bedeckt und Aufräumarbeiten getätigt werden, um unseren Weiler als fertig zu bezeichnen. Wir vom Fischgrund-Weiler wollen uns sodann hinüber zur Burg begeben, um bis zum Schneefall helfen.«
»Das sind wahrlich Neuigkeiten.« Yaeko ließ betrübt die Mundwinkel sinken. »Die geflügelten Bestien, hoch oben auf dem Plateau, lassen uns völlig vergessen, was sich hier unten abspielt. Habt Dank für die Auskunft.«
»Gern Oberscharführer. Reitet ihr wieder zurück?«
»Ja, wir sind nur ausgeritten, um den tristen Alltag zu entfliehen.«
Die beiden Schwertmänner grüßten abschließend und wendeten ihre Pferde. Die Versammelten sahen ihnen kurzweilig nach, um sich darauf um ihre eigenen Belange zu kümmern.
»Warum geben uns die Lenker der Lastenkarren keine weiteren Informationen?«
»Ich weiß es nicht. Vermutlich wissen sie es selbst nicht, oder haben es schlicht vergessen, uns zu erzählen. Wir hocken doch nur in den blöden Türmen und kommen gar nicht dazu, uns mit ihnen zu unterhalten. Was erwartest Du?«
Schweigend ritten sie nebeneinander zurück zur Höhle, in derer sich der Aufstieg zum Plateau befand.
Die Sonne stand nicht mehr so Hoch wie zu Sommerzeiten, dennoch spendete sie zu Sonnenhoch genügend Wärme, um die kalten Schatten zu vertreiben. Ben stand auf der Zugbrücke des äußeren Torhauses, welche vor einem Zehnteltag ihren Platz fand und der provisorische Übergang endlich wich. Arbeiter trieben schwere metallene Bolzen in die Scharniervorrichtungen, die die Brücke mit dem Torhaus verband. Massive Ketten, ein jedes Glied so umfassend wie zwei aneinander gehaltene Männerfäuste, wurden parallel dazu, aus oberhalb des Tores eingelassene Öffnungen herabgelassen. Zur Linken und zur Rechten sollten diese mit der Zugbrücke verbunden werden, um diese von ihrer jetzigen Lage heben und senken zu können, um den Zutritt zur Burganlage zu verschließen. Ein riesiges Fallgitter lag in einzelnen Streben hinter dem künftigen Tor aufgereiht und wartete darauf von erfahrenen Schmieden zusammengesetzt zu werden. Das Einsetzen jenes, sollte jedoch noch warten, dafür die obere Bauebene vorerst abgeschlossen sein musste, um die Führung des Gitters und einen stabilen Halt zu gewährleisten. Steinmetze hämmerten und setzten letzte Steinquader, um die Auflageflächen der Zugbrücke zu stabilisieren.
»Benjamin, auf ein Wort bitte.«
Angesprochener drehte sich zu dem Rufenden herum, der sich aus der künftigen Stadt nährte und auf ihn zuhielt. Es war Korian, sein erster Schreiner, der dort zu Fuß heranschritt und winkte. Ben erwiderte die Geste und ging ihm entgegen, als hinter ihm lautes Rasseln und Scheppern ertönte. Erschrocken sprang er zur Seite und verengte die Augen zu schlitzen.
»Verzeiht, Herr. Mir ist nur die schwere Kette aus der Hand gerutscht«, entschuldigte sich ein verschmutzter Arbeiter, der sich gerade hinabbeugte, um nach dem fallen gelassenen Kettenglied zu greifen. Ein weiterer, sein Vorarbeiter, schimpfte und schüttelte fluchend den Kopf, als er mit seiner Kette schnaubend an ihm vorbei schlurfte.
»Ist schon in Ordnung. Die Dinger sehen scheinbar nicht nur verdammt schwer aus, sie machen auch höllischen Lärm«, beschwichtigte Ben und lächelte verhalten.
»Man, du kannst froh sein, dass unser Fürst so ein zuvorkommendes Wesen hat. In Bregeran hat man schon für weniger getötet«, motzte der Vorarbeiter.
»Lasst gut sein. Ich habe die Geschichten über Korint ausgiebig gehört. Diese Gegend scheint mir umfassend korrumpiert und Neumark ist nicht Bregeran.«
»Ja Herr, ihr habt natürlich recht. Ich bin es halt so gewohnt und habe dafür sorge tragen müssen, mein Volk aus den Zwängen ihrer Häscher zu bekommen. Fehler, auch noch so geringe wurden hart bestraft.«
»Ich bin mir sicher, dass ihr dem auch vortrefflich nachgekommen seid. Anstatt den Leuten jedoch vorwürfe zu machen, geht ihnen lieber zur Hand. Besser noch, zeigt ihnen, wie man es richtig macht.«
Der Schimpfende nickte und gelobte Besserung. Währenddessen war Korian heran und gesellte sich zu seinem Fürsten. »Herr, ich habe erfreuliche Kunde.«
»Korian, mein Freund. Was lässt dich so strahlen?«
»Der neue Weiler ist fast fertig und die überschüssigen Arbeiter schlagen in den Zeltstädten ihre Unterkünfte auf. Die Helfer aus dem Umland sind auf Heimwegen, oder kommen gar zu uns.«
»Sehr gut. Das bedeutet etwa zweihundert paar Hände mehr, die uns beim Vorankommen unterstützen.«
»Genau. Ich habe unterwegs Goram berichtet und er hat sich daraufhin sogleich auf dem Weg gemacht, um deren Berufskenntnisse in Erfahrung zu bringen.«
»Oje. Nun gut, er weiß wohl am besten von uns allen, wie sich das Wetter hier im Tal von seiner schlechtesten Seite zeigen wird. Er hat nahegelegt, soviel wie irgend möglich vor Einbruch des ersten Schneefalles zum Abschluss zu bekommen. Sonst noch Neuigkeiten?«
»Ja, die Patrouille vom Pass ist vor einem Zehnteltag eingetroffen. Gibt es Neues aus der Wacht?«
»Die gibt es, Korian, die gibt es. Begleite mich ein wenig.«
Nebeneinander durchschritten sie das zertrampelte Gelände vor dem Sichelgraben und der künftigen Stadt, wo mancherorts sogar schon die ersten Gebäude bezugsfertig standen. Vorbei an Baugerüsten und unfertigen Fundamenten gingen sie schweigend dahin. Ab und an blieben sie stehen und schauten den Arbeitern bei ihrem tun zu, bis Ben endlich das Schweigen brach. Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und saugte tief Luft durch seinen halb geöffnetem Mund. »Es ist schwerer, als ich mir je habe vorstellen können.«
»Ich versteh nicht recht«, gab Korian mit verhaltener Lautstärke zu und fummelte sich unbeholfen an seiner Weste herum.
»Schau, ich kam als einfache Person ... ein Unbekannter ... und führe nun neben einer großen Mark auch eine gewaltige menge Menschen. Alle verlassen sich auf mein Wort und ich trage derer Verantwortung.«
»Ah, aber du machst das äußerst gut. Wo liegt das Problem?«
Bens Blick richtete sich ins Leere und schien nur noch physisch anwesend zu sein. »Ich weiß meine geschlossenen Freundschaften zu schätzen. Wirklich. Auch das mir entgegen gebrachte Vertrauen. Nur ...«, er richtete seinen Blick auf Korian und schluckte. Seine Augen waren von Schmerz gezeichnet. »... ich fühle mich dennoch allein. Dem Allen hier nicht gewachsen.« Ben vollführte mit den Armen eine einschließende Geste, um das Ausmaß zu verdeutlichen.
»Ich glaube, ich verstehe.« Korian griff ihm mit den Händen auf die Schulter und drückte leicht zu. »Die Abende und Nächte können so allein reichlich lang und einsam sein. Du kennst meine Einstellung dazu und hast meinen Segen.«
Anstatt einer Antwort sahen sich beide tief in die Augen und Ben nickte dankend. »Ich weiß, danke. Ich weiß nur nicht, wann ich es wage, diesen Schritt zu gehen. Es kommt mir nicht richtig vor.«
»Du grämst dich, obwohl du nicht weißt, ob du jemals zurückkehren kannst?«
»Eben dies, ist mein Problem.«
»Was meint der Hüter dazu?«
»Er hat mir keinerlei Hoffnungen gemacht.«
»Aber, wo liegt dann dein Problem, wenn nicht darin?«
»Ich kann es nicht beschreiben. Ich glaube, ich stehe mir schlicht selbst im Wege«, flüsterte Ben und drehte sich weg. »Laut aktuellen Berichten kommen die Arbeiter an der Pass-Wacht schnell voran. Die Vergrößerung der Fläche ist beinahe abgeschlossen und die zusätzlichen Arbeiter werden dort willkommen sein. Vielleicht schaffen sie es noch vor dem ersten Schnee, das Fundament für die Mauer fertigzustellen«, lenkte er das verwirrende Thema in eine andere Richtung. Korian hakte nicht weiter nach und enthielt sich derlei Kommentare. Er ließ sich von seinem Fürsten alles über die Wacht erzählen, was er bereit war preiszugeben. Es war längst nach Sonnenhoch, als sich die beiden einander verabschiedeten und jeder seinem Tagwerk nachging. Ben war auf dem Weg zu Goram, um sich nach den Hilfskräften der Weiler zu informieren. Er hatte sich bereit erklärt sich um diese Angelegenheiten zu kümmern, solange Jarik eine Schar zur Patrouille ausführte. Er wollte sich die Palisade zu jenem Bergpass, die Klippenstieg-Wacht, ansehen, einen Umweg zur Schmiedeanlage einlegen, Yaeko einen Besuch abstatten und dort gleichzeitig nach dem Rechten schauen.
»Benjamin.«
»Goram.«
»Ich muss mit dir reden und es wird Dir nicht gefallen.« Goram senkte den Blick und schluckte schwer.
Ben hingegen verzog aufhorchend die Brauen. »Schlimme Nachrichten?«
»Nein, eigentlich nicht. Oder doch. Ich habe nicht ganz die Wahrheit gesagt.«
»Bitte, gerade heraus.« Ben verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte seinen versöhnlichsten Blick aufzulegen, den er imstande war.
»Du erinnerst Dich an deinen Schmied? Der, der so über alles erfreut war, etwas uralten Eisenerzes gefunden zu haben?«
»Halis, aber ja. Was ist mit ihm?«
»Nichts. Jedoch wird sich seine Vorfreude schnell abkühlen, da dieses Erz nur sehr selten in solchen kurzen Stollen vorkommt. Erze dieser Reinheit entstammen ursprünglich aus den tiefsten Minen unserer Berge.«
Bens Blick entgleiste. »Was wiederum bedeutet, dass der gute Herr Halis in Kürze, wenn überhaupt nur noch normales Eisenerz schürfen wird?«
»So in der Art, ja.«
»Warum hast du geschwiegen?«
»Schau, deine Leute brauchen alles, was sie aufmuntert und die Moral hebt. Sie haben viele Jahreswenden gefroren und hatten Angst. Sie haben hier in diesem Tal beinahe alles, was sie benötigen, um vielleicht sogar dieselbe Anzahl Jahreswenden in Frieden leben zu können. Aber ... sie dürfen eben nicht vergessen auch Rückschläge verarbeiten zu müssen.«
Ben nickte und kaute auf seiner Unterlippe herum. »Mhm, da ist was Wahres dran. Wir sollten dieses Gespräch jedoch lieber für uns behalten. Wann werden sie es herausfinden?«
»Schätzungsweise zur Mitte der nächsten Jahreswende. Mit etwas Glück auch erst darauf.«