Die Sonne stand hoch am Himmel und spendete womöglich die Letzten angenehmen Temperaturen der vor ihnen liegenden Monde. Vereinzelt trillerten noch ein paar gebliebene Schwingen ihre Lieder und lockerten die anstrengende Atmosphäre. Noch zur späten Abenddämmerung des vergangenen Tages trafen einige Lastenkarren ein, um erneut Ladung aufzunehmen. Der Schacht hoch oben des Gebirges, konnte keine Kippungen mehr aufnehmen und so entschlossen sich die Baumeister verbliebene Massen Abseits des Geländes aufzuschütten.
Eine Botschaft erreichte Goram und Ben, die gerade zu Tisch saßen und Bauabschnitte diskutierten. Der Bote wurde sogleich gehört und im Anschluss entlassen. Das großzügig aufgetischte Mahl blieb danach erkaltend stehen und sollte abgeräumt werden. Ben entschuldigte sich und verließ den Raum.
Er begab sich auf die mittlere Plattform des äußeren Torhauses, um von dort den Arbeitern bei ihrem Vorankommen zu beobachten. Die Zugbrücke war mit schweren Kettengliedern, die zu seiner rechten wie linken an soliden Rädern vorbeiführten, mit einer großen robusten Winde verbunden. Brusthoch ragten die Mauern rings um ihn herum und mussten noch auf gesamt eine komplette Länge anwachsen, um die abschließende Raumdecke zu erhalten. Auf der darauf folgenden Ebene sollte sodann eine überdachte Brustwehr gebaut werden, mit hinterrücks errichteten Turmaufbauten.
Ganze neun Tote und das bei einer schlichten Erkundung eines Tunnels. Yaeko mein Freund, du wirst mir fehlen.
Er fasste sich mit geschlossenen Augen zum schmerzerfüllten Herzen, welches durch seine Brust hämmerte und schluckte schwer.
Von dem Baugelände der künftigen Stadt nahte ein Reiter mit unbekanntem Wimpel, dennoch in der Machart der ihm Bekannten und ließ sein Pferd kurz vor der halb herabgelassenen Zugbrücke halten. Zwei sich gegenüberbefindliche Arme, die sich gebeugt bei den Händen fassten, zierten das fremde Symbol. Der eine proportioniert wie das eines Menschen, der andere entsprach der Größe eines Naïns. Er sah auf und hob den getragenen Wimpel empor. »Ich bringe Kunde für unseren Fürsten, man berichtete mir, er befinde sich auf dem Baugrund der Burg«, rief der Reiter über den Graben hinweg.
Einer der an der Winde beschäftigten Arbeiter erhob sich aus seiner Knieenden Haltung und winkte dem Boten zu. »Unser Fürst ist vor Ort, das stimmt. Er befindet sich hier oben im Torhaus. Wartet einen kleinen Moment, dann senken wir die Brücke.«
Der Bote nickte und senkte seinen haltenden Wimpel. »Habt Dank.«
»Erkennt ihr den Wimpel?«
»Nein Herr, noch nie gesehen«, erwiderte der Arbeiter, sah aber von seinem tun nicht auf.
Angestrengtes schnaufen mit einem folgend ächzenden lauten Poltern erklang. »Pah, das war‘s. Die Zugbrücke ist jetzt korrekt eingelassen und kann gebraucht werden.« Er warf eine stählerne ellenlange Stange achtlos zur Seite. »Gebt Acht, ich senke die Brücke!«
Der Arbeiter schlenderte in die Mitte des Torhauses und der Winde, die von bis zu vier Leuten bedient werden konnte und griff zu zwei Hebeln. Seine Person passte direkt zwischen diesen beiden und umklammerte diese mit kräftigen Händen. Er vergewisserte sich, dass sich der Bote zurückzog, und drückte die Hebel nach vorn. Zweifaches Klacken wurde von Kettenrasseln begleitet, sodann fing die Winde an sich allmählich, aber dennoch behutsam zu drehen. Dank der gewissenhaften Baukunst der Naïns polterte die Zugbrücke nicht achtlos hinab, sondern senkte sich sichtlich und mit Bedacht. Tadellos bemessen schmiegte sie sich in ihre Führungen und auf die drei Auflagepunkte der gegenüberliegenden Seite.
Ben klopfte dem Arbeiter sachte auf dessen Schultern. »Sehr gute Arbeit, weiter so.« Er lächelte freundlich. Sein gegenüber drehte sich ihm zu und hob kaum merklich die Mundwinkel. »Danke, Herr.«
Der Bote ritt an, führte sein Pferd über die herabgelassene Brücke und durch das ihm offen stehende Torhaus. Ben war derweil auf der abwärts führenden Treppe und betrat die Linke, der beiden Wachstuben, um zu dem Wartenden zu gelangen. Dieser war abgestiegen und tätschelte den Hals seines Tieres. Als er Ben nahen sah, senkte er sich auf ein Knie. »Herr.«
»Erhebt euch. Was bringt ihr mir für Kunde und erklärt mir das Symbol, welches ihr führt.«
Der Angesprochene richtete sich auf, lenkte seinen Blick auf das zierende Symbol und reckte es Stolz vor. »Herr, die Kunde lautet, der Naïnhof-Weiler ist fertig und ihr seid mit Gefolge eingeladen, diesen einzuweihen. Dieses freundschaftsbekundende Sinnbild soll das Zeichen unseres Weilers sein.«
Ben blickte vom Boten zum Wimpel und zurück. Ein ungläubiger Ausdruck lag in seinen Augen, bis der Funken der Erkenntnis in diesen aufflammte.
»Ach herrje, ja doch. Entschuldigt mein benehmen. Wir erhielten kürzlich einen traurigen Bericht. Ja, der Weiler am Zugang zur Naïnstadt.« Ben trat heran und hielt dem Gesandten die ausgetreckte Rechte entgegen. Dieser deutete die Geste richtig und reichte seinem Fürsten die Lanze samt Wimpel. Ben griff zu, führte sich den Stoff vor Augen und fuhr der Stickerei mit der linken Hand, ohne sie jedoch zu berühren, entlang.
»Eine sehr schöne Arbeit und passend der Lage. Richtet eurem Vorsteher aus, dass ich der Einladung nachkommen werde.«
»Danke Herr.« Der Bote verneigte sich und erbat mit ausgestreckter Hand die Rückgabe der Lanze und erhielt sie sogleich. »Es werden auch weitere Gäste geladen sein.« Ben neigte fragend den Kopf. »Einige hoffen auf weitere Ernennungen, Herr.«
Ben verschränkte die Arme vor der Brust, verzog die Brauen und musterte den Boten. »Auch wir haben viel Arbeit auf uns genommen ...« er deutete mit der rechten Hand das Baugelände. »... und haben noch mehr vor uns. Allerdings möchte ich der Bitte beipflichten. Geht davon aus, das wir Umhänge mit uns führen werden«, gab er dem entlassenen dann doch noch mit auf dem Weg.
»Danke, Herr.« Er bestieg gekonnt sein Pferd, hob grüßend die Lanze mit dem Wimpel.
Zumindest in den Weilern wird das Volk nicht frieren. Der Winter soll zu dieser Jahreswende kälter werden, als in den vergangen. Hoffentlich behält Goram unrecht.
Ein Schaudern durchfuhr seinen Köper und ließ ihn frösteln.
Noch bevor Ben im Begriff war sich umzuwenden, um die Baustellen des Palas und dem Bergfried zu mustern, trommelten erneut Hufe auf den Bohlen der Zugbrücke. Das anhaltende Geräusch veranlasste ihn den Blick abermals zu wenden und hob erstaunt die Augenbrauen. Schwertmänner rückten an, obwohl die letzte Patrouille erst vor einem Zehnteltag ausgeritten war und keine weiteren Scharen auf dem Weg sein sollten – oder doch?