Im Burghof stand Jarik mit Artemis an den Zügeln und wartete. Goram saß auf seiner dressierten Ziege, sowie eine Schar der Schwertmänner zu Ross. Humpelnd und schwer atmend erschien Ben im Hauptportal des Palas und nickte seinem obersten Schwertmann und Freund zu, der Artemis vorführte.
»Wird es gehen?«, flüsterte er seinem Fürsten zu.
»Es muss, mein Freund, danke.«
Ben griff zum Sattel und in die Mähne seiner Stute. Jarik stellte sich vorsichtshalber hinter ihm.
»Auf drei.«
»Eins ... zwei ... drei.« Mit einem schwungvollen Hüpfer, von Jarik hinten im Kreuz gehalten, hing sich Ben mit dem linken Fuß in den Steigbügel und schwang sich hinauf. Mit dem Fuß war er leicht ans Hinterteil Artemis gekommen und bekam es sofort zu spüren. Dank der festen Bandage schmerzte es nicht sonderlich, jedoch ließ ihn ein unangenehmes Pochen zusammenzucken. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, vernahm hingegen ein geflüstertes »Autsch.«
»Wir reiten hinauf zur Stadt unserer Freunde. An jenen Ort, an dem andere für unsere gemeinsamen Ziele ihr Leben gaben. Auf!«
Jarik beobachtete Bens Züge und bemerkte die verdeckte Trauer, die nicht nur an ihm nagte. Eine huschende Bewegung am Fenster zu Bens Gemach fiel ihm in den Blickwinkel. Demnach war sein Fürst die Nacht über nicht allein und ließ ihn trotz Betrübnis lächeln.
Unterwegs passierten die Reiter fleißige Arbeiter, Menschen neben Naïns und alle grüßten freundlich der Prozession. Ein jeder wusste von dem Vorfall hoch oben, wie auch den zu beklagenden Opfern.
Jarik ließ absitzen und beließ die Schar vor dem Zugang zur Naïnstadt. Nur Ben und er selbst wollten Goram begleiten. Die Schwertmänner, sowie das gemeine Volk hatten das Versprechen erhalten, sich später die Stadt ansehen zu dürfen, zumal viele jener, die über den Winter keine warme Unterkunft fanden, dort verweilen würden. Goram bot Ben an, auf der Ziege hinaufzureiten, lehnte aber mit grinsendem Nicken ab und griff zu einer von Korian gefertigten Krücke. Zu dritt begaben sie sich auf die Anhöhe innerhalb der Höhle, die sie nach wenigen Augenblicken verschluckte.
»Was für ein atemberaubender Anblick«, ließ Ben verlauten, nachdem er sich eine gefühlte Ewigkeit das Panorama des Plateaus und dem weinenden Fries ansah.
Von Links, einem der beiden möglichen Wege, die von dem Balkon abzweigten, nährte sich mit weit gespreizten Armen Aguschal. Begleitet wurde er von Galoth zu seiner Linken und Kabar zur Rechten. Die Brüder freuten sich, ihren Weggefährten und neuen Freund Jarik wiederzusehen.
»Vater, ich freue mich, dich zu sehen. Natürlich auch euch, Fürst Benjamin. Jarik.« Er reichte jedem die Hand und umarmte sie herzlich, um mit der Zweiten, auf des jeweiligen Rücken zu klopfen.
»Das Wasser hat sich also seinen Weg gebahnt und füllt den Sichelgraben?«
»Das tut es mein Sohn. Lass uns gehen und nachsehen.«
Aguschal bedeutete den Dreien vorauszugehen und so gingen beziehungsweise humpelten die Gefährten in entgegengesetzte Richtung. Unter einem gewachsenen Vorsprung hindurch auf eine ebene Fläche, wo zwei wehrhafte Türme einen See flankierten und eine hölzerne, reichlich mitgenommene Plattform auf dem See hinausragte. Nur noch einer der Türme war mit zwei Posten besetzt, die den Ankömmlingen zuwinkten.
»Das ist also die besagte Kippvorrichtung.«
»Stimmt, Benjamin. Nun dient sie nichts mehr als ... ja, ich weiß auch nicht, als was.«
»Sie dient uns als Mahnmal«, beantwortete Kabar.
»Ist die Tafel fertig, mein Sohn?«
»Ja Vater, das ist sie.« Aguschal hielt sich Links und blieb zwischen den beiden Türmen stehen und deutete auf den Fels.
Ben und Jarik blickten sich verwundert an und Goram bedeutete ihnen, weiterzugehen. Der Fels an der gezeigten Stelle wurde bearbeitet und in Fels gehauene Buchstaben zierten ein Bildnis. Ein Schmiedeamboss und ein dahinter auf Hinterhand stehendes Pferd mit aufgelegten Vorderläufen. Darüber das gleiche Symbol des Naïnhof-Weilers. Zwei sich gegenüberbefindliche Arme, die sich gebeugt bei den Händen fassten, die eine groß wie der eines Menschen, die andere eines Naïns. Direkt daneben die Namen der Gefallenen und ein Text.
»In ewiger Freundschaft und in Treue fest, beklagen wir hier gemeinsame Freunde. In Gedenken derer Opfer trauern wir um ...«
Ben verschloss die Augen und atmete sichtlich schwer, er trauerte offen um die Gefallenen und seinem Freund. »Danke«, hauchte er und eine einzelne Träne rann ihm die linke Wange herab.
Goram legte ihm behutsam die Hände auf die Schultern und drückte diese väterlich. »Ein Anführer, der ohne Scham zu Trauern imstande ist, ist einer, den man fürchten sollte. Ich bin froh und Stolz dich und die deinen als Freunde bezeichnen zu dürfen.«
»Dem schließe ich mich an und kann alle meine Bedenken und Voreingenommenheiten nur entschuldigen«, beteuerte Aguschal.
Anstatt zu antworten, nickte Ben nur.
Mit Brennstein gefüllte Feuerbecken standen in der Ratshöhle entzündet und spendeten wohlige Wärme, die den anwesenden die kalten Glieder entspannen ließ. Die wartende Schar, unten am Plateauzutritt, war samt Rösser in die Höhle gezogen, da der Wind draußen schneidende Ausmaße angenommen hatte. Galoth und Kabar ließen ihnen Brennsteinbecken bringen, damit diese die frostigen Temperaturen vertrieben und die Männer nicht froren.
Bëor und Würzwein standen auf dem Tisch und wurden gereicht. Jarik und Ben bedienten sich des Weines und die Naïns dem beliebteren Naïnbier, hergestellt aus den Tiefenpilzen, die mittlerweile auf den Beeten der Häuser reich gediehen.
»Goram, Aguschal. Unsere Freundschaft und dem gefestigten Bündnis nach, sollten wir für offene Verhältnisse sorgen.«
Goram hob seinen Becher und prostete beipflichtend zu. »Nach was verlangt es, was offen angesprochen werden muss, mein Freund?«
»Jener Weg, hinauf des Gipfels. Der, der nicht natürlichen Ursprungs ist. Wohin führt dieser? Ihr wisst, was dort oben ist.«
Aguschal schaute zu Boden und stellte seinen eigenen Becher auffallend langsam auf den Tisch – ihn betrübte etwas und lag schwer auf seinem Gemüt. Goram sah traurig zu seinem Sohn und nickte schnaufend. »Also gut.« Er hob den Blick. »Dieser Weg wurde einst von den unsrigen angelegt, um im Tal Acker zu betreiben und Schutt abzuladen. Am ende des Weges, auf dem Gipfel selbst, ruhen die Überreste unserer alten Außenschmieden.«
Er erklärte weiter, dass neben den Schmiedeanlagen Schächte in den Berg führten, in denen das uralte Eisenerz geschürft und zu Barren geschmolzen wurde. Dort oben befand sich einer der drei Zugänge zu ihrer angestammten Heimat. Als die Verbliebenen seines Volkes aus den Hallen flohen, um der Brut zu entrinnen, ließen sie das Tor offen stehen, auf der Hoffnung diesen Weg einst als Rückkehr nutzen zu können. Die Schmiede selbst zerfiel, als der Berg sich tosend teilte. Niemand vermochte zu erklären, wie es dazu kam. Einst war es lediglich eine Fläche von geschätzten zwei Hundertlängen. Dann bebte der Berg und driftete auseinander und schuf das heutige Tal – Neumark.
Ben, wie auch Jarik hörten gespannt zu und ließen sich nahebringen, dass die Werkstätten wiederaufgebaut werden könnten, sofern sie es schafften, den Bereich von der Brut zu befreien. Dazu sei es unabdingbar, in den Berg vorzudringen und die ›Kalmahrbrücke‹ zu erobern. Diese könne beidseitig voneinander getrennt werden, sodass der Feind, seitens des Berginneren nicht ausrücken würde, könne. Die Anlage müsse jedoch, wie es Aguschal einbrachte, mit einem erneuten Festungswall umgeben werden. Nicht nur ein Weg führt von dem Gipfel hinab. Ein weiterer solle westlich in eine weitläufige Ebene enden, die nicht erkundet war. Diesen Weg, nahm einst einige ihres Volkes, um fortan als Oberweltler zu leben.
Seit der Entzweiung, fünf Brüder an der Zahl, vermochten sich nicht einen Thron zu teilen. Es bestand allerdings kein Kontakt mehr und niemand konnte bestätigend einräumen, dass es diese gespaltenen Gruppen noch gab. Andererseits wäre es jedoch fatal zu behaupten sie seien ausgerottet. Fünf Brüder, die das gesamte Volk der Naïns spalteten. Den Einen zog es mit den seinen, zu anderen Ufern. Sie folgten den verlockenden Angeboten der spitzohrigen Lynken. Den Zweiten zog es nach Norden, Richtung Marschen. Dort richteten sie sich mit einer Höhlenstadt ein und trieben ungewollt die Morroval aus angestammten Wohnraum. Ein Dritter begab sich in jene unbekannten Ebenen. Der vierte Bruder suchte mit seinen Leuten passende Lebensumstände im Osten - niemand von ihnen wart mehr gesehen und der Fünfte blieb im Heim des Einers - Goram.
Nachdem der Weg und die Ortslage hinlänglich diskutiert waren, griff Aguschal seinem Vater an die Hand und beide drücken sie fest. Die Augen des Prinzen blickten betrübt und mit brüchig belegter Stimme erzählte er sein ganz persönliches Geheimnis.
Er war nicht allein auf sich gestellt, sondern hatte ein Weib und einen Hüpfling, welches die Pferdeherren als Kinder bezeichneten. Diese mussten jedoch in einer der Traumhallen zurückgelassen werden und konnten die letzten Fliehenden nicht begleiten.