Joran fuhr zur Ca´Ferroni zurück, allerdings nicht ohne sich zuvor mit einem größeren Vorrat an Wein zu versorgen. Er schaffte alles in den Lagerraum, setzte sich auf seinen Strohsack und begann zu trinken. Die Leere, die sein Besuch bei Laura geschaffen hatte, wollte gefüllt werden. Da er nichts anderes hatte, musste eben der Wein herhalten.
In Gedanken kehrte er zurück zu dem Tag, an dem er nach Akkon aufgebrochen war. Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, hatte ihm der Umzug nicht schnell genug gehen können. Seine Familie hatte ihn zum Hafen begleitet, und als er schon dabei gewesen war, an Bord zu gehen, hatte Leocadia ihm ihr liebstes Haarband in die Hand gedrückt und ihm Ich hab dich lieb ins Ohr geflüstert. Er hatte seinen Eltern und seiner kleinen Schwester von Bord der Galeere zugewinkt, bis ihre Gestalten so klein wie Ameisen ausgesehen hatten.
Joran war siebzehn gewesen, hatte trotz aller Abenteuerlust seine Eltern vermisst und Angst gehabt vor der neuen Aufgabe, und davor, dem Vertrauen seines Vaters nicht gerecht werden zu können. Er hatte auf dem Schiff Leocadias Band nicht ein einziges Mal aus der Hand gelegt, bis der Konvoi das Mittelmeer erreichte und er damit beschäftigt gewesen war, seinen ersten Blick auf das Heilige Land zu erhaschen.
Die erste Woche in Akkon war genauso gewesen, wie Joran es sich erträumt hatte. Er war mit Empfehlungsschreiben und einem großzügigen Startkapital seines Vaters ausgestattet, was ihm alle Möglichkeiten eröffnete, in der Gemeinde der venezianischen Händler schnell Anschluss zu finden. Mit seinen neuen Bekannten war er an dem lang gezogenen Bogen entlanggelaufen, an dem der Hafen lag, dann in die Stadt hinein, um den Basar zu sehen. Die Vielfalt der angebotenen Gewürze war überwältigend und Joran konnte kaum fassen, welche Möglichkeiten sich hier boten.
Ich werde im Kleinen anfangen und mir Rücklagen bilden, sagte er sich. Und dann, wenn ich mir alles abgelauscht habe, was es zu lernen gibt, werde ich ein richtiger Händler und dann mache ich mein Glück.
Er mietete ein bescheidenes Haus im venezianischen Viertel, richtete sich ein Kontor ein, und probierte jedes neue Essen, das er sah, stopfte sich so lange mit Baklava voll, bis ihm übel wurde. Er tätigte erste Geschäfte und schrieb fleißig Briefe nach Hause, in denen er begeistert von seinem neuen Leben berichtete.
Das Unglück begann mit dem Gehilfen, den Joran zur Bewältigung seiner wachsenden Aufgaben einstellte.
Joran schloss hungrig und gereizt sein Kontor, erschöpft nach einem weiteren Tag anstrengender Plackerei im Warenlager. Der Mann stand vor dem Tor und sprach ihn an, als er gerade seine Tür verriegeln wollte.
»Verzeiht, mein Herr, es hat den Anschein, als könntet Ihr einen tüchtigen Gehilfen gebrauchen. Ich bin stark und ich kann zupacken. Vielleicht wollt Ihr es einmal mit mir probieren?«
Joran war nicht in der Stimmung für lange Verhandlungen. Er war mürrisch, weil er den ganzen Tag nicht die Zeit gehabt hatte, sich mehr als ein paar Bissen trockenes Fladenbrot in den Mund zu schieben. Er wollte zum Basar gehen, um noch eine Baklava zu ergattern, bevor der Händler seinen Laden schloss. Er stellte den Mann kurzerhand ein.
Der Mann erschien am nächsten Tag zur Arbeit und packte gleich tatkräftig zu. Sein neuer Helfer hieß Julian und während der folgenden Woche stellte sich heraus, dass er in Akkon und Umgebung jede Gasse und jedes Dorf kannte. Er führte Joran zu den Werkstätten einheimischer Handwerker, wo es Waren zu entdecken gab, die er alleine niemals gefunden hätte. Joran kaufte, und verkaufte wieder an andere Venezianer, die nach Hause fuhren. Die Münzen in seiner Schatulle mehrten sich und Joran war glücklich.
Es wurde sogar noch besser, als Julian in einem Wüstendorf außerhalb der Stadt einen Handwerker ausfindig machte, der unglaublich filigranen Goldschmuck herzustellen vermochte. Der Mann schien seiner Kunst keinen sonderlich hohen Wert beizumessen und Joran hätte am liebsten laut gejubelt, über den günstigen Preis, den er ausgehandelt hatte. Er kaufte alles, was der Mann vorrätig hatte und fragte, ob er ihm auch ein Stück nach seinen Wünschen anfertigen könne. Der Goldschmied nickte und ließ sich genau beschreiben, was Joran wünschte.
»Kommt heute in zwei Wochen wieder hierher zurück und die Kette für Eure Schwester wird fertig sein.«
In der ersten Woche schrieb Joran lange Briefe an Leocadia. In den frühen Morgenstunden setzte er sich auf das Dach seines Hauses und fertigte kleine Zeichnungen an, die er den Briefen beilegen wollte. Dazwischen streifte er durch den Basar, unterhielt sich mit den einheimischen Händlern und lernte die arabischen Bezeichnungen der angebotenen Waren,
In der zweiten Woche kaufte er sich ein eigenes Pferd und nahm Unterricht, um seine Reitkünste zu verbessern.
Als der Tag herangekommen war, an dem er das bestellte Schmuckstück abholen sollte, erschien Julian nicht im Kontor, sondern schickte einen Boten mit der Nachricht, er sei krank. Joran war überzeugt, das Haus des Goldschmiedes auch ohne Julians Hilfe finden zu können, und machte sich auf den Weg.
Im Dorf angekommen, fand er das Haus leer vor. Die Tür war nicht verriegelt. Er trat ein und fand überall Sand, der durch die Ritzen eingedrungen war. Alles andere war weg - die Teppiche, die Werkzeuge und die mit Stoff ausgeschlagen Kästen, in denen der Schmuck aufbewahrt wurde.
Habe ich das Haus verwechselt?, überlegte Joran. Aber er wusste, dass er richtig war. Er fragte in einer benachbarten Werkstatt nach dem Goldschmied, doch dass, was er von der Antwort zu verstehen glaubte, konnte nicht stimmen.
»Ein Raubüberfall? Die ganze Familie ist tot?«
Der Handwerker nickte. »Ja, ja, alle tot.«
»Hat man den Mörder gefasst?«
Er erhielt einen Wortschwall zur Antwort, von dem er nur begriff, dass der Überfall nachts geschehen war, während das ganze Dorf in tiefem Schlaf gelegen hatte. Enttäuscht und bedrückt machte sich Joran auf den Rückweg nach Akkon. Er brachte sein Pferd zum Stall und überließ es dem Knecht, das Tier abzusatteln. Der Mord an dem Goldschmied beschäftigte ihn und so maß er der Tatsache, dass die Tür seines Kontors nicht mehr abgeschlossen war, keine besondere Aufmerksamkeit zu. Vielleicht ging es Julian besser und er hatte beschlossen, seine Aufgaben vom Vormittag zu erledigen. Joran trat ein und fühlte sich von groben Händen rechts und links an den Armen gepackt und vorwärtsgeschoben. Zwei, drei Herzschläge lang war er zu verblüfft, um sich dem Griff zu widersetzen, doch dann begann er heftige Gegenwehr zu leisten. Was ihm jedoch nichts nützte. Die Männer schleppten in den Raum, den er als Schreibstube nutzte. An seinem Schreibtisch saß ein Mann, den Rücken der Tür zugekehrt und blätterte in seinen Unterlagen. Joran sah leicht gewelltes, schulterlanges Haar, das im Licht der Lampe blauschwarz schimmerte.
»Wer seid Ihr? Wie seid Ihr hier hereingekommen?«, knurrte Joran.
»Oh, Julian war so freundlich, mich einzulassen«, sagte der Mann und drehte sich um.
Joran entfuhr ein keuchender Laut. Hinter seinem Schreibtisch saß eine etwas ältere Ausgabe seiner selbst. Der Mann musterte ihn mit leisem Spott. »Die Ähnlichkeit ist wirklich erstaunlich, nicht wahr?«
»Wer zur Hölle seid Ihr?«, stieß Joran hervor.
»Mein Name ist Lucca«, sagte der Mann. »Ich bin hier, um dir ein kleines Geschäft vorzuschlagen, mein Sohn.«
Ein schrilles Kreischen riss Joran aus weinseliger Bewusstlosigkeit. Zum Glück besaß er die Gabe, mühelos zu erwachen. Er öffnete die Augen und war da - wachsam und für alles gewappnet.
»Hört auf zu kreischen!«, fuhr er den Eindringling an, eine junge Magd, die auf der Schwelle zum Lagerraum stand und ihn mit völlig entgeistertem Blick anstarrte.
»Was zur Hölle treibst du hier, Mädchen? Wer hat dich ins Haus gelassen?«
Die Magd hatte beide Hände vor den Mund geschlagen und schien fest entschlossen nun überhaupt keinen Ton mehr von sich zu geben.
»Antworte, verdammt. Wer hat dich hier reingelassen?«
»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Jacopo und trat über die Schwelle. »Gibt es einen Grund das Kind so anzuschnauzen?«
»Mir klingeln die Ohren von ihrem Geschrei«, knurrte Joran.
Jacopo wandte sich zu dem Mädchen um und zog ihr behutsam die Hände vom Mund. »Warum hast du geschrien, Marietta?«
»O ich dacht´ er wär tot, Messèr Jacopo«, stammelte das Mädchen. »Er hat so dagelegen, als ob er´s wär.«
»Ich habe geschlafen«, bemerkte Joran giftig. »Das wird ja wohl noch erlaubt sein.«
Jacopo warf einen bezeichnenden Blick auf die leeren Weinflaschen neben der Strohmatratze.
Joran trat näher an Jacopo heran. »Das geht dich gar nichts an«, sagte er so leise, dass Marietta nichts davon mitbekam.
»Es geht mich durchaus etwas an«, gab Jacopo zurück. »Es ist hoher Nachmittag und Ihr seid sturzbetrunken. Von Eurem derangierten Äußeren ganz zu schweigen.«
»Du nimmst dir in letzter Zeit verdammt viel heraus Alter«, sagte Joran. Er fand es erniedrigend, solche Wortgefechte zu führen.
»Geh in die Küche, Marietta«, sagte Jacopo. »Die Köchin wird dir sagen, was zu tun ist.«
Das Mädchen eilte davon.
»Das Mädchen, die Köchin - und gerade trampeln noch zwei Weiber durch den Andron, wie ich sehe - was ist das für eine Invasion, die du mir da ins Haus geschleppt hast?«
»Ich habe einige der alten Dienstboten Eurer Eltern ausfindig gemacht und sie gebeten, mir zu helfen, das Haus für Monna Marliana herzurichten.«
»Ach, und wer bitteschön bezahlt diese ganzen Leute?«
»Sie verlangen nichts, außer einer warmen Mahlzeit.«
»Haha.«
»Sie tun´s Eurer Mutter zuliebe«,erwiderte Jacopo herablassend und wandte sich zur Tür. »So was nennt man Treue.«
»Du kannst von deinem unsinnigen Plan einfach nicht ablassen, hm?«
»Er ist nicht unsinnig, Herr. Ihr werdet sehen, Monna Marliana wird sich in der vertrauten Umgebung ganz gewiss erholen.«
»Oh ja, um dann noch tiefer in ihrer Hölle zu versinken, wenn sie wieder auf den Lido zurückmuss. Ich kann mir diese monströse Obszönität von einem Haus nämlich nicht leisten, kapiert?«
Joran warf die Tür hinter ihm zu, doch der Knall brachte ihm keine Erleichterung. Jacopo meinte es ja nur gut. Er tat alles, was er für nützlich hielt, um seiner Mutter zu helfen, aus der gleichen Anhänglichkeit heraus, die auch die anderen Dienstboten auszeichnete. Jacopo erwartete, dass sein Dienstherr das gleiche Ziel verfolgte. Doch Joran hatte das Gefühl, eine Schlinge um den Hals zu tragen, die sich mit jeder Stunde enger zuzog. Die Entscheidung, das Haus zu übernehmen bedeutete, seinen Lebenstraum zu Grabe zu tragen, und diese Vorstellung raubte ihm den Atem.
Er durfte sich nicht durch die Illusion von Normalität verführen lassen. Weder für ihn noch für seine Mutter war Normalität möglich. Vielleicht würden die Träume irgendwann verblassen, wobei er es im Grunde schon aufgegeben hatte darauf zu hoffen.
Joran wandte sich seinem Gepäck zu, fand ein sauberes Hemd und ging damit zum Brunnen im Innenhof. Er zog einen Eimer Wasser aus der Zisterne herauf und steckte den Kopf hinein. Das Wasser war scheußlich kalt, aber es verhalf ihm immerhin zu einem klaren Kopf. Den er dringend brauchte. Im Kontor wartete eine Truhe mit alten Geschäftsjournalen, die er durchsehen musste, um herauszufinden, ob sich daraus etwas Nützliches entnehmen ließ. Pisanis Aufzeichnungen musste er ebenfalls prüfen. Joran seufzte. Das Ganze versprach eine entsetzlich langweilige Angelegenheit zu werden, die ihn tagelang an den Schreibtisch ketten würde.
Er schlüpfte aus dem Hemd und goss sich den Rest des Wassers über den Körper. Über seinem Kopf ertönte ein Kichern. Er sah nach oben und entdeckte hinter der Brüstung der Loggia im ersten Stock zwei Mägde, die die Köpfe zusammensteckten, kicherten und ihn dabei unverhohlen bewundernd anstarrten.
Da war sie schon wieder, die Illusion von Normalität. In einem Anfall von Leichtfertigkeit drehte er sich zu den kichernden Frauen herum. Mit beiden Händen strich er sich das feuchte Haar aus dem Gesicht und warf ihnen eine Kusshand zu, bevor er sich das frische Hemd über die Schulter schwang und sich auf den Rückweg zum Lager machte.