Manodriil schaute sich um, bildete sich ein, dass der Nebel weniger dicht, die Dunkelheit weniger Dunkel war. Seine Laterne schimmerte warm. Er strich zärtlich mit den Fingern seiner linken Hand über sie. „Wenigstens du bist bei mir“, flüsterte er. Dann schaute er auf, versuchte etwas in der Dunkelheit vor ihm zu erkennen. Seine Ohren stellten sich auf im Versuch, das dumpf gluckernde Schmatzen und Schlurfen der Nebelwelt zu durchdringen. Da! Das Knacken eines Zweiges? Oder doch wieder das Gurgeln dieser blubbernden Schlammtöpfe, die jedes Wesen, das einen Fuß auf sie setzte, sofort zu verschlingen versuchten.
Sie machten die Wanderung zu einer Strapaze. Oft schien es Manodriil verlockend, ganz auf ein Fortkommen zu verzichten. Doch jedes Mal kam der Punkt, wo er wieder an sein Licht dachte und daran, dass es für sein Volk scheinen sollte.
Wieder glaubte er, ein Knacken zu hören. Vorsichtig legte er seine Jacke um die Laterne, um sie abzudimmen. Zu sehr fühlte er sich als Zielscheibe, neben dem einzigen hellen Fleck, den es im Universum zu geben schien. Doch nützte es nicht viel, hinter ihm hörte er ein zischendes Geräusch, als atme jemand sehr dicht bei ihm aus. Erschrocken schaute er sich um. Dass es oder er nicht zu sehen war! Doch da – eine Nebelschwade zog weiter und gab einen flüchtigen Blick auf eine Bewegung frei. Was war das?
Da eine Flucht unter diesen Umständen unmöglich schien, er aber auch nicht kämpfen konnte, blieb Manodriil nicht viel mehr als ein sehr aufmerksames Totstellen. Dachte er. Dass ihn seine lebendigen Augen jedem nachtsichtigen Tier verrieten, daran dachte er nicht.
Das Zischen kam näher. Als die nächste Nebelschwade davonwehte, fand er sich Auge in Auge wieder – mit zwei glühend grünen Augen, etwas höher als seine und weiter auseinander stehend. Er erschrak. Sein Schrei blieb ihm im Hals stecken.
Im nächsten Moment fand er sich auf der Erde liegend wieder. Die Jacke war von der Laterne gerutscht, sodass ihr Licht dahin schien, wo eben noch die Augen gewesen waren. Doch da war nichts außer der Dunkelheit.
Manodriil raffte sich auf und klopfte sich den Morast von der Kleidung, so gut es ging, und nahm seine Laterne auf. Zum Glück unversehrt! Er stellte sie wieder auf den Boden und zog seine Jacke an. Am liebsten wäre er weit weg, irgendwo, wo es freundlicher war, oder noch lieber, niemals von zu Hause fort gegangen.
Damals war er ausgezogen, sein Licht zu vergrößern. Er wollte etwas wirklich Bedeutendes schaffen. Nicht, dass ihn etwas gezwungen hätte. Er hatte eine ordentliche Lehre absolviert und ein gutes Auskommen. Ja, für jeden durchschnittlichen Jungen ein zufriedenstellendes Ergebnis. Nur nicht für Manodriil. Er konnte sich nicht mit der Vorstellung abfinden, dass das schon alles sein sollte. Wenigstens brauchte er jetzt auf niemanden sauer zu sein, hatte niemanden, dem er die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Er allein hatte sich entschieden.
Er hatte es einen inneren Ruf genannt. Manchmal glaubte er aber auch, das Schicksal bestrafe ihn für seine Sehnsucht nach etwas Bedeutenderem. Manchmal spürte er deutlich, dass er auf dem richtigen Weg war. Auch wenn es überhaupt nicht danach aussah.
Vor allem, weil hier überhaupt kein Weg ist, dachte er in einem Anflug von Zynismus. Den hatte er sich eigentlich abgewöhnen wollen. Aber naja, offenbar war er noch da.
Kaum gedacht, schon bemerkte er, dass er etwas freier atmen konnte, etwas entspannter war. Neugierig spürte Manodriil dem Gedanken nach. Legte sich etwas von dem Nebel? Ein Fetzen Mond kam kurzzeitig in Sicht, verschwand aber wieder.
Was auch immer das war, was mich eben aufgesucht hat, offenbar will es mich nicht angreifen, oder wenigstens nicht sofort, dachte er. Sonst hätte es das längst getan. Mit diesem Gedanken wurde ihm ein wenig wärmer. Vielleicht kriege ich das Feuer an. Er kniete sich hin und stocherte in seinen Fundstücken.
Tatsächlich entzündete sich ein Funken und übertrug ein Glimmen auf die Schafsködel. Er pustete sie an und stockerte weiter in den Blättern. Nach einer Weile gähnte Manodriil und gab auf. Er rollte sich auf der Seite zusammen, einen Arm um die Laterne gelegt. So schlief er schnell ein.
Eine Holzhütte im Wald. Eins der Fenster steht offen. Eine Gardine wird hinaus geweht. Er will sie sehen. Doch hält ihn seine Angst am Rande der Lichtung fest, als habe er vor, hier Wurzeln zu schlagen. Die Begegnung war unvermeidlich – aber er fürchtete sie, als würde sie den Tod bringen. Was, wenn sie ihm seine Ideen ausredete? Die Meinung anderer brachte ihn schnell ins Wanken, doch ihre allein hatte die Macht, ihn ganz zu zerstören. Da – eine Bewegung auf der Veranda? Was, wenn sie...
Sei eigener Schrei weckte ihn. Er fuhr hoch. Er schaute sich um, konnte aber nichts erkennen. Das Glimmen war erloschen, nur seine Laterne verbreitete Licht. Er seufzte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. So blieb er eine Weile sitzen. Weitere Tränen flossen nach. Unfähig, schalt er sich, als seine Tränen nachließen. Er schüttelte den Kopf und weinte weiter.
Irgendwann war der Strom versiegt. Er setzte sich vor sein imaginäres Lagerfeuer, die Arme um seine Knie gelegt, und wippte vor und zurück. Fast wäre ihm das Wesen mit den grünen Augen willkommen – stopp! Nein, nein, nein, dachte er, entsetzt, was passieren könnte, wenn sein Gedanke wahr würde. Bloß nicht! Ich bin ja nicht lebensmüde! Ich will leben! Er sprang auf, stopfte die Schafsködel, Blätter und den Ast in seine Jackentaschen und nahm die Laterne auf.
Welche Richtung er einschlagen sollte, wusste er nicht. Er hatte keine Ahnung, woher er kam und in welcher Richtung er aus diesem dunklen Land heraus finden könnte. Er drehte sich in die Richtung, in der die grünen Augen aufgetaucht waren. Das Wesen würde schon nicht mehr da sein. Und es war eine Chance, dass es dort relativ sicheren Untergrund gab.
Allerdings war die Fortbewegung sehr mühsam. Jeden Schritt musste er sorgfältig prüfen, ob der Boden auch tragfähig war. Mit seiner Laterne leuchtete er, ging gebückt vorwärts, damit ihr Licht auch den Boden erreichte. Wie lange er so Schritt um Schritt die Füße voreinander gesetzt hatte, wusste er nicht. Auch die Anzahl Schritte hatte er bald wieder vergessen. Trotz der unbequemen Haltung spürte Manodriil mehr und mehr seinen Körper. Zwar war ihm, als wäre auch der von der modrigen Dunkelheit durchdrungen, doch fühlte es sich besser an, als nur dazusitzen. Wirklicher. Der Junge richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Füße und nahm sich die Zeit, jeden kleinen Muskel einzeln zu fühlen. Die Beine schmerzten an manchen Stellen. Immer noch lebendiger als an einer Stelle hocken zu bleiben, befand Manodriil. In seine Nase stieg ein abgestandener Geruch, der ihn zu ersticken schien. Er hielt inne. Seltsamerweise schien dieser Geruch in ihm zu sein – nicht im Moor.
Was das nun wieder war? Er hatte Angst vor Besetzungen. Aber dann erinnerte er sich, dass das limbische System ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte – und der Geruch keinesfalls zufällig auftauchte. Irgendwas, das seinem Unterbewusstsein ein Signal gesendet hatte?
Manodriil leuchtete die unmittelbare Umgebung mit seiner Laterne ab, kam zu dem Schluss, dass es hier ebenso gut war zu lagern, wie an dem vorherigen Platz, und setzte sich. Dann beobachtete er diesen Geruch, das Gefühl zu ersticken.
Sofort wurde sein Atem etwas freier. Er schneuzte sich.
Woher kannte er diesen Geruch, dieses rauchige, erstickende Gefühl? Kaum hatte er die Frage gedacht, als in ihm eine Traurigkeit aufkam. Er lauschte weiter nach innen. Es war, als fiele etwas Unischtbares durch seinen Kopf in ihn rein und würde im Hals stecken bleiben. Er musste würgen, aufstoßen. Sein Herz zitterte. Was sich anfühlte wie ein Überfall eines Geistes, war nicht mehr als eine sehr lebendige Erinnerung. Eine Erinnerung, gegen die er ankämpfte. Aber zu spät. Sie suchte sich ihren Weg durch den Hals in den Bauch. Sein Körper wehrte sich noch mit heftigem Aufstoßen, was es ihm erschwerte, die Erinnerung ganz zu fassen zu kriegen. Wie er aus Erfahrung wusste, der schnellste Weg, die unangenehmen Körpergefühle loszuwerden. Er begann zu frieren. Dieses Mal kam die Kälte von innen. Sein Körper wehrte sich weiter mit Aufstoßen. Fetzen von Erinnerungen kamen und gingen – bis ihm bewusst wurde, dass er sie peinlich fand. Aus Versehen hatte er etwas behauptet, was gar nicht stimmte, nur ein kleiner Rechenfehler – doch schon stand er als Angeber da, was peinlich genug war. Aber den Fehler eingestehen, jetzt, wo er schon das Etikett unsymphatisch erhalten hatte? Wie peinlich wäre das denn! Eingestehen, dass er gar keine besondere Fähigkeit hatte, sondern sich einfach vertan hatte? Unmöglich!
Und obwohl er sich selbst gerade nicht mochte, wurde ihm warm. Vom einfachen Anerkennen seines Gefühls von Peinlichkeit!
Mit dem Selbstlob kehrte ein Teil des Erstickungs-Gefühls zurück.
Er konzentrierte sich wieder aufs Spüren.
Aufstoßen. Ersticken.
Traurigkeit.
Die Augen geschlossen. Lange, blonde Zöpfe rahmten das bleiche Gesicht. Etwas Puppenhaftes hatte sie, wie sie auf dem weißen Daunenkissen lag. Sie schien zu schweben.
Aufstoßen. Ersticken.
Ich will nicht.
Angst, ins Licht zu treten.
Sie wollte lieber schlafen als gesehen werden.
Gelähmt blieb sie liegen.
Die Hütte.
Ihre Hütte.
Aufstoßen.
Manodriil tauchte auf aus seiner inneren Welt. Gelähmt. Mehr wollte er nicht. Nicht jetzt. Aufstoßen. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben. Nicht jetzt! Kann ich nicht erst dieses verdammte waberndmodrige Zeug hier hinter mir lassen? Kann ich nicht zu meinen Leuten zurückkehren? Muss ich ausgerechnet hier hocken, im Nichts, im Dunkeln, mit dieser ganzen abscheulichen Gurgelei und Gluckserei? In ihm stieg Wärme auf, als er seine Wut zuließ. Auch sein Atem wurde freier. Aufstoßen.
Ein helles Land, ein Berg, Sand – das alles irgendwo über ihm. Hell und freundlich. Das Moor tief unter der Erdoberfläche gelegen, verborgen. Er wollte hinauf. Eine Stadt, aus hellen Steinblöcken errichtet, mit Zwiebel-förmigen Dächern. Sonne, viel Sonne. Und bunt gekleidete Menschen.
Ob sie einen wie mich annehmen? Ob sie mich auch nur ansehen? Es war ihr Volk, nicht seines. Sein Volk lebte in Höhlen, die es nur bei Tage verließ um zu arbeiten. Es galt als gefährlich, länger draußen zu bleiben als zum Erfüllen der Pflicht nötig war.
Er hasste es. Hasste es, in die Dunkelheit gesperrt zu sein. Hasste die Regeln, die freie Bewegung beschnitten. Regeln, die ihm weißmachen wollten, dass es richtig war, sich klein zu halten.
Er spürte wieder die Erstickungsgefühle aufsteigen und wusste, dass er noch lange nicht soweit war, das Moor zu verlassen. Der Gedanke lähmte ihn buchstäblich und er musste gähnen.
Vorsichtshalber legte er sich an Ort und Stelle hin, einen Arm um die Laterne gelegt, und schlief schnell ein.
Ein Schloss mit Türmchen und unregelmäßigen Erweiterungsbauten. Ein Mühlrad im Bach. Ein Wald. Er weiß, dass er hier Antworten finden kann. Er geht auf den Bach zu. Es tut gut, die Frische zu spüren. Die Luft atmet Reinheit und Frieden. Seine Gedanken schweifen ab. Es wird wieder stickig. Alles ein Traum? Was ist Traum, was ist Wirklichkeit?
Er hatte sich selbst verlaufen, verrannt in die Idee, vollkommen sein zu müssen. Es war niemals gut genug, nichts was er tat, nichts was er erreichte, nichts was er konnte. Immer wieder prüfte er seine Wünsche, Pläne, Ziele, ob sie das Beste waren, was er machen konnte. Natürlich waren sie es nie. So ist das mit den Idealen: Die Wirklichkeit kann sie niemals einholen. Droht ein Ideal verwirklicht zu werden, ein neues verbessertes dämmert am Horizont empor.
Ganz so, wie dieses Schloss nie ganz fertig zu sein schien, immer wieder war ein neuer Anbau angefügt worden.
Er trat ein durch das Haupttor, an dessen Seite ein Wachhaus stand. Doch war kein Wächter zu sehen. Manodriil blieb in der Eingangshalle stehen. Eine Treppe führte zu einer Galerie. Voraus lagen mehrere Türen im Halbdunkel. Niemand kam, um ihn zu begrüßen. Er fröstelte. Für eine der Türen musste er sich entscheiden. Oder doch lieber die Galerie erforschen? Ihm schwindelte bei dem Gedanken. Nein, er würde sich für die zweite Tür von links entscheiden und sehen, wohin sie ihn brachte. Schon als er auf sie zuschritt, spürte er, dass seine Entscheidung richtig war. Sein Körper sendete augenblicklich allerlei Signale, die er nicht deuten konnte. Ihm wurde kalt, aber es war eine bewegliche Kälte, keine Starre. Angst, ja. Aber Angst muss nichts Schlechtes verheißen. Dennoch blieb er vor der Tür stehen, und lauschte in sich hinein, bevor er die Klinke runterdrückte.
Als er eintrat, sah er eine Frau in einem langen, schwarzen Kleid. Etwas aus der Mode gekommen, aber sie war ja auch eine Erinnerung. Ihre dunklen Haare waren in einem Pagenschnitt frisiert. Sie musste Mitte ihrer Zwanziger sein. Er betrachtete sie aufmerksam. Natürlich kannte er sie. Sie hier zu finden, musste bedeuten, dass er sie ebenfalls ungerechtfertigt beschuldigt hatte. Er konnte es nicht glauben, aber da ihm richtig warm bei dem Gedanken wurde, konnte er durchaus wahr sein. Er wollte es genau wissen.
Neiiiiiiiiiiin! Du hast dich eingemischt! Ja, das hatte sie. Aber nicht sie als Person. Sondern all die Meme, die Abdrücke ihres Einflusses, die seit frühester Kindheit in ihm hinterlassen worden waren. Hatten sie sein Glück blockiert? Zumindest die eine Partnerschaft, die gerade aus der Vergangenheit den Weg in sein Bewusstsein gefunden hatte.
Das kann sich ja ewig weiter drehen, dachte er. Er sollte seine Nachforschungen unterlassen und sein Leben leben. Vermutlich war es das Gesündeste.
Ihm wurde warm.