Am nächsten Morgen stieg Roana beim ersten Hahnenschrei aus dem Bett und machte sich auf den Weg zum Stall. Sie hatte herausgefunden, dass Rafael während der Morgenkühle für gewöhnlich mit Gandars Jährlingen trainierte. Da es nicht anders möglich schien an ihn heranzukommen, würde sie eben bei den Pferden auf ihn warten.
Der Himmel über Rodéna war in flammendes Rot getaucht, und obwohl die Sonne bereits aufging und mit lodernden Flammenfingern die Wolken berührte, war der von Mauern umschlossene Wirtschaftshof noch voller Schatten. Die Wächter auf den Mauern waren nicht mehr als schwarze Umrisse vor dem Morgenhimmel, aber Roana glaubte, trotz der Entfernung von allen Seiten die stechenden Blicke ihrer Augen zu spüren. Ein seltsames Gefühl von Unbehagen ergriff sie. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und versuchte Einzelheiten zu erkennen, aber alles was sie sah waren blass graue Schatten und ein gelegentliches Blitzen, wenn ein Lichtstrahl den Griff einer Waffe traf.
Sie beschleunigte ihre Schritte und war froh, als sie den Stall erreichte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie eine der Lampen neben dem Eingang vom Haken nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Beide Stalltüren standen weit offen und ließen genügend Helligkeit herein, um sich zurechtzufinden.
Roana trat ein. Noch war alles still. Die Pferde dösten in ihren Verschlägen und das gelegentliche Zischen eines schlagenden Pferdeschweifes war der einzige Laut in der Stille.
Roana betrat den Unterstand ihres Fuchshengstes, streichelte den Hals des Tieres und gab ihm eine Handvoll Datteln. Während der Hengst zufrieden kaute, legte sie ihm ein Halfter an und führte ihn aus dem Verschlag zur anderen Seite des Stalles hinüber. Auf dem Platz vor der Sattelkammer band sie ihn fest, griff sich eine Bürste vom Haken neben der Tür und begann mit energischen Bewegungen sein rotes Fell zu bürsten.
Während sie arbeitete, gingen ihr unablässig die gleichen, beunruhigenden Gedanken durch den Kopf. Sie war fest entschlossen, sich auf die Suche nach Herzog Gandar zu machen, aber sie wusste immer noch nicht genau, wo sie damit beginnen sollte. Hielt ihr Oheim sich überhaupt noch auf Sizilien auf oder hatte er die Insel längst verlassen?
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Mit Gandar war ihr mehr als ein Freund und Verwandter genommen worden. Auch wenn es für einen Außenstehenden manchmal schwer zu erkennen war, ging ihre Beziehung doch weit über Verwandtschaft, über das normale Verhältnis zwischen Freunden hinaus. Das Gandar mit einem Mal nicht mehr da sein sollte war schlicht unakzeptabel. Aber nach ihrer Rechnung hatte er schon acht Tage Vorsprung. Und mit jedem Tag der verstrich, wurden es mehr.
»Das machst du ziemlich geschickt«, bemerkte eine tiefe Stimme in ihrem Rücken. »Für eine feine sizilianische Edeldame jedenfalls.«
Roana fuhr herum, die Hand mit der Bürste zum Wurf erhoben und erstarrte mitten in der Bewegung.
Obwohl sie an der Stimme erkannt hatte, wem es gelungen war sich derart lautlos an sie heranzupirschen - auf Rafaels Anblick war sie nicht vorbereitet.
Heilige Muttergottes, er sah wirklich atemberaubend aus, so wie er da auf der Schwelle stand; eingerahmt von den wuchtigen Steinblöcken des Rundbogens, Kopf und Schultern von der Morgensonne in flammendes Rot getaucht, während sein restlicher Körper in graues Zwielicht gehüllt war.
Wie ein gefallener Erzengel ging es ihr durch den Kopf, der jeden ins Verderben reißt, der ihm zu nahe kommt.
Ihre Hand sank herab und die Bürste polterte zu Boden. Mit einem Mal fühlte sie sich schrecklich schwach und einer Ohnmacht nahe. Beinahe lässig stieß er sich vom Türrahmen ab und kam näher. Sein muskulöser Oberkörper war nackt und glänzte feucht. Er trug keinen Verband mehr und der Messerstich, den sie ihm beigebracht hatte, war als schmaler roter Strich sichtbar.
Er hatte sich seit zwei oder drei Tagen nicht rasiert und die dunklen Bartstoppeln ließen ihn noch undurchschaubarer und gefährlicher wirken als gewöhnlich. Sein langes, dunkles Haar war ebenfalls nass, und kleine Rinnsale liefen ihm über Brust und Arme.
Roanas Blick folgte gebannt dem Weg eines Wassertropfens quer über seine Brust und den flachen Bauch, bis zu der Stelle unterhalb seines Bauchnabels, wo der Tropfen im Stoff seiner Beinlinge versickerte.
Sie musste sich gewaltsam zwingen, ihre Augen von ihm abzuwenden und auf ihre Füße zu starren, bevor ihre Lungen bersten und sie zitternd und keuchend nach Atemluft schnappen würde.
Er hob eine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Es war, als würden sie beide von der Hitze, die diese kurze Berührung entfachte, miteinander verschmolzen. Ihre Blicke trafen sich und langsam breitete sich jenes laszive, wissende Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Lauf!
Aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Weder ihr Mund, noch ihr Hirn, noch ihre Beine.
Sie spürte seinen warmen Atem, die Wärme seines Körpers. Unbekannte, verwirrende Gefühle wallten in ihr auf. So viele Gefühle. Sie war darin verloren.
Und dann beugte er den Kopf vor und küsste sie. Verlockend, verführerisch. Umgarnend. Sie wollte nicht reagieren. Sie wollte sich nicht fühlen wie das Kaninchen, das von der Schlange gefressen wurde, wie das Lamm, das dem Wolf gegenüberstand.
Sie wollte nicht … sie vertraute ihm nicht … sie …
Seine Lippen verließen ihren Mund und zogen eine lodernde Spur entlang ihres Kiefers zu ihrem Nacken. Seine Finger strichen ihr Haar beiseite und dann bedeckte er ihre Haut mit Küssen, die so zart wie die Berührung eines Schmetterlings waren. Das war ihr Untergang. Plötzlich spürte sie ein Verlangen, das die alten Ängste und den alten Ekel überwand, das stärker war als alles andere. Die Vergangenheit war vergessen ob der Gefühle, die er in ihr weckte, ob der unglaublichen Süße des Augenblicks.
Rafael fühlte, wie das hastige Schlagen ihres Herzens hinter der sanften Erhebung ihrer Brüste zu einem Trommelschlag wurde, der sein eigenes Herz schneller schlagen ließ. Er legte seine Arme um sie und hielt sie fest, als ihre Lippen aufeinandertrafen. Sie fühlte sich so gut an. So verdammt gut. Sie gab ihm das Gefühl lebendig zu sein, weckte Empfindungen in ihm, die er lange vergessen geglaubt hatte.
Aber so schnell, wie der Moment gekommen war, ging er auch vorüber. Nicht, dass sie angefangen hätte, sich zu wehren. Sie wurde nur einfach sehr still in seinen Armen, die Glut ihrer hellen Augen trübte sich. Ihr bläulicher Farbton wandelte sich zu Grau, zu Nebel und Frost, zu winterlicher Kälte. Sie wurde vollkommen steif und er hatte mit einem Mal das Gefühl, etwas Lebloses im Arm zu halten. Rafael blinzelte, eher verblüfft als wirklich erschreckt, aber er ließ sie los. Sie wankte, ihre Knie gaben nach und sie landete auf ihrem Hinterteil im Stroh, bevor er auch nur eine Bewegung machen konnte, um sie aufzufangen.
Sie saß still auf dem Boden, hob sehr langsam den Blick zu ihm auf und flüsterte: »Das also willst du als Waffe gegen mich verwenden, all diese …«
»Roana! All diese was?«
»Zärtlichkeit. Diese erschütternde, sinnverwirrende, mörderische Süße, die mich glauben lässt, ein anderes Wesen zu sein. Irgendwie in dir aufzugehen. Zumindest ein Teil von mir.«
»Waffe sagst du? Himmel, Roana.«
»Geh«, flüsterte sie mit einem rauen Unterton in der Stimme.»Geh fort Rafael, geh mir aus den Augen, ehe mir die Geduld reißt …«
Rafael lachte leise. »Das werde ich nicht. Und du willst es auch gar nicht.«
»Ich hasse dich«, platzte sie heraus. »Ich habe dich vom ersten Moment an gehasst, schon als du in Ahmads Garten …«
Sie hielt abrupt inne.
Etwas wie Amüsiertheit blitzte in seinen Augen auf. »Ich glaube beinahe, es ist dir ernst damit«, sagte er spöttisch. »Warum, Roana? Was habe ich dir angetan?«
»Das weißt du genau«, schnappte sie und rappelte sich auf.
»Nein«, sagte er. »Das weiß ich nicht. Wenn du auf meinen Kuss anspielst, dann belügst du dich selbst. Du hast ihn nämlich genossen …«
Roana sah ihn eine Weile ernst und schweigend an. Ihr Gesicht blieb dabei seltsam starr; sie lächelte, aber es war nur eine Maske, kein echtes Gefühl. »Du glaubst nicht, dass ich dein Feind bin, aber da irrst du dich«, sagte sie. »Das Einzige, was uns verbindet, ist die Aufgabe, Herzog Gandar zu retten und ich werde an nichts anderes denken, bis wir ihn entweder gefunden haben oder tot sind.«
Rafael wollte etwas sagen, aber Roana sprach schnell und mit erhobener Stimme weiter: »Welche Gefühle zwischen uns herrschen spielt keine Rolle, Rafael. Es spielt keine Rolle, dass ich dich hasse. Wenn du dich bereit erklärst, mit mir nach dem Herzog zu suchen werde ich deiner Führung so lange folgen, bis wir unsere Aufgabe erledigt haben. Nicht länger, aber auch keinen Herzschlag kürzer.«
»Ich stimme mit dir überein, dass jemand nach Dom Gandar suchen muss«, sagte Rafael. »Aber das wirst nicht du sein, Roana. Du reist in zwei Tagen mit einer Eskorte nach Morra.«
Roana starrte Rafael einen kurzen Moment lang finster an, bückte sich dann mit einer abrupten Bewegung nach der Bürste, wandte sich ihrem Hengst zu und begann seinen Rücken zu bearbeiten. Aufgeschreckt wich der Fuchs zur Seite.
Mit zwei Schritten war Rafael neben ihr und ergriff ihr Handgelenk, bevor sie es verhindern konnte. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen, als hätte sie sich verbrannt. Aber sie widerstand dem Drang, ihre Hand zu befreien.
»Lass deinen Zorn nicht an dem Pferd aus«, befahl er kalt und zog sie mit sich in einen der leeren Unterstände hinein. Sie versuchte jetzt doch, seine Hand abzuschütteln, aber Rafael hielt fest. Sie war stark, sehr stark für eine Frau, aber gegen Rafael konnte sie nichts ausrichten. Sie begann zu zittern, und er konnte ihre plötzliche Unsicherheit beinahe fühlen. Unsicherheit und – ja, Angst. Irgendwie hatte er ihren Schutzpanzer durchstoßen, hatte durch seine Berührung die Mauer, die sie zwischen sich und der Welt errichtet hatte, unterlaufen. Für den Bruchteil eines Herzschlages stand er der wahren Roana gegenüber, einer Frau, die sich völlig von der unterschied, die er bisher kennengelernt hatte.
Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie schlug seine Hand zur Seite, sprang zwei Schritte zurück und schüttelte ihren Dolch aus dem Ärmel.
»Tu das nie wieder, Rafael«, sagte sie leise. »Wenn du mich noch einmal berührst, töte ich dich. Es ist mein Ernst.«
»Das kannst du gerne versuchen«, erwiderte Rafael unbeeindruckt. »Aber beklage dich hinterher nicht über die Folgen.«
Roana lachte trocken. »Folgen für wen, Rafael?«
Sie hob die Hand mit dem Messer und schleuderte es ihm vor die Füße. Die Klinge fuhr eine halbe Handspanne vor Rafaels Zehen in den Boden und blieb zitternd stecken. »Ist es das?«, fragte sie. »Willst du mich deshalb nicht mitnehmen, weil ich gelernt habe, mit dem Dolch umzugehen? Bist du einer von denen, die meinen, eine Frau gehöre tagsüber an das Spinnrad und abends gewaschen und parfümiert ins Bett?«
»Sicher nicht«, antwortete Rafael. »Aber ich bin einer von denen, die glauben, dass Dom Gandar dir nie und nimmer den Umgang mit einer Waffe hätte beibringen dürfen.«
»Und warum nicht?« Sie trat vor, bückte sich und riss mit einer zornigen Bewegung den Dolch aus dem Boden und hielt Rafael die Waffe dicht vor das Gesicht. »Weil das hier eine Sache der Männer ist, wie?«
Rafael schüttelte seufzend den Kopf, drückte die Waffe nach unten und trat einen Schritt auf Roana zu. Sie wich hastig bis zur hölzernen Trennwand des Verschlages zurück. Rafael blieb stehen. Er spürte, dass sie ihn angreifen würde, wenn er auch nur einen Fußbreit näher kam.
»Du siehst das falsch, Roana«, sagte er in absichtlich gemäßigten Tonfall.
In Roanas Augen blitzte es zornig auf. »Das sagst gerade du«, zischte sie. »Du bist doch auch einer von denen, die ohne ihre Waffe nicht existieren können.«
»Aber im Gegensatz zu dir trage ich jetzt keine. Und ich laufe nicht herum und lege mich mit jedem an, der mir auch nur einen schrägen Blick zuwirft«, warf Rafael ein.
»Ich tue nichts anderes als jeder Mann«, gab Roana zurück, »ich wehre mich, wenn man mich bedroht.«
»Nein«, sagte Rafael. »Das tust du nicht. Du wehrst dich, bevor man dich angreift, und das macht dich zu einer nahezu unberechenbaren Gefahr für jeden in deiner Umgebung.«
Roana funkelte ihn wütend an. Sie schien etwas sagen zu wollen, beließ es aber dann bei einem ärgerlichen Schnauben.
»Du willst stark sein, Roana«, fuhr Rafael unbeeindruckt fort. »Aber Stärke bedeutet auch, die eigenen Grenzen zu erkennen. Warum akzeptierst du nicht, dass du eine Frau bist, und benimmst dich entsprechend?«
»Und wie, glaubst du, sollte sich eine Frau in meiner Lage benehmen?«, fragte sie höhnisch. »Brav zu Hause sitzen und abwarten, bis man ihr die Nachricht bringt, dass ihr Oheim tot ist?«
»Wenn du glaubst, aus deiner Verwandtschaft mit Dom Gandar irgendwelche Ansprüche ableiten zu können«, sagte Rafael ruhig, », wenn du denkst, das Recht auf irgendwelche Forderungen zu haben, dann täuschst du dich, Roana.«
Roana lächelte, doch es war wieder dieses rätselhafte, schmallippige Lächeln, das er schon ein paar Mal an ihr beobachtet hatte und das ihn beinahe ängstigte.
»Du wirst es nie begreifen«, sagte sie. »Dom Gandar ist mehr als ein Verwandter für mich. Ich werde tun, was immer nötig ist, um ihn zu retten.«
»Roana«, sagte Rafael mühsam beherrscht. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass ich jetzt in Rodéna das Sagen habe? Dass du nichts, aber auch gar nichts tun kannst, ohne meine Erlaubnis?«
Roana sah ihn schweigend an, aber es war ein Schweigen ganz besonderer Art, etwas, das mehr ausdrückte, als Worte es vermocht hätten.
Rafael machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du glaubst mir nicht? Gut. Wenn du Wert darauf legst, dass ich dich wie eine Närrin behandele, dann werde ich das tun. Du hast in Rodéna nicht so viele Freunde, wie du mich glauben machen willst. Die Männer mögen dich vielleicht für deine Furchtlosigkeit bewundern, aber sie fürchten dich auch. Und du kannst mit einer Waffe so gut sein, wie du willst, du wirst von Dom Gandars Rittern nie respektiert werden, solange du keinen Hehl daraus machst, wie sehr du sie verachtest.«
Sie zögerte, senkte für einen Moment den Blick und sah ihn dann herausfordernd an. »Worauf willst du hinaus?«
»Du belügst dich selbst, Roana. Du glaubst jeden Mann in Rodéna zu hassen, mich eingeschlossen, aber du …«
»Ich habe allen Grund dazu«, schnitt sie ihm das Wort ab.
Rafael lachte trocken. »Aber wenn ich dich jetzt nach einer Erklärung für deine Gründe fragen würde, dann könntest du mir darauf nicht antworten, richtig?«
Sie wandte sich abrupt von ihm ab. Ihre Stimme bebte vor Zorn. »Man hat mir - Dinge angetan«, zischte sie. »Dinge, von denen du nicht die geringste Vorstellung hast. Deren Auswirkung du niemals begreifen könntest, selbst wenn du dir die Mühe machen würdest, es zu versuchen. Also hör auf, meine Gründe infrage zu stellen. Ich will mit Männern nichts mehr zu tun haben. Dich eingeschlossen.«
Rafael hob die Hand und betrachtete demonstrativ seine Finger. »Dinge, Roana? Seit wann bist du zu feige, etwas beim Namen zu nennen? Warum sagst du nicht, dass man dir Gewalt angetan hat? Du bist schließlich nicht die einzige Frau auf Sizilien, der so etwas zugestoßen ist. Aber du allein bist es, die eine Tragödie daraus macht.«
Seine Worte erzeugten eine andere Wirkung, als er erwartet hatte. Ein Schatten von Schmerz, aber auch von etwas Anderem, von etwas, dass er nicht beschreiben, nicht greifen konnte, huschte über Roanas Züge.
Rafael wusste nicht, warum er es tat, aber er trat näher an sie heran, streckte die Hand aus und berührte sie flüchtig an der Schulter. Roana fuhr auf, schlug seinen Arm beiseite und wandte sich mit einem Ruck ab.
»Lass mich, Rafael!«, stieß sie hervor. »Ich brauche dein Mitleid nicht! Deines am allerwenigsten!«
Rafael erstarrte. »Das glaube ich dir gerne, Roana«, sagte er gepresst. »Du hast genug davon in dir. Wer soviel Selbstmitleid hat wie du, braucht das anderer nicht mehr. Er hat auch kein Anrecht darauf.«
Seine Worte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie fuhr herum, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber nur ein raues Krächzen zustande. Ihre hellen Augen sprühten vor Zorn.»Oh ja, und du kennst mich gut genug, um das zu wissen wie?«, fuhr sie ihn an. »Du bist ja auch einer von diesen allmächtigen Männern, die alles ganz genau wissen. Verzeih, dass ich das vergaß.«
»Vielleicht weiß ich mehr als du denkst«, entgegnete er ruhig.
Roana presste die Lippen zusammen und sah an ihm vorbei.
»Du hasst dich, weil du weißt, dass du nie wieder unter die Menschen in Rodéna oder Morra treten kannst, ohne dass man dir Blicke nachwirft und dir entweder Unverständnis oder Furcht entgegenbringen wird. Du hasst dich, weil du es nicht wagst, vor dir selbst zuzugeben, dass die Berührung eines Mannes nicht so abstoßend ist, wie du dir einzureden versuchst. Und du hasst dich, weil du dich danach sehnst, wie eine normale Frau behandelt zu werden.«
Sehr langsam wandte Roana ihm das Gesicht zu. Der Blick ihrer Augen bohrte sich in den seinen und Rafael erkannte darin einen wahren Sturm von Gefühlen: Furcht, Verzweiflung, Hass, aber auch stumme, unendlich flehende Hilferufe.
»Du verstehst nichts«, flüsterte sie. »Nichts.«
Plötzlich wirbelte sie zu ihm herum. »Was weißt du schon von Frauen?«, schrie sie ihn an. »Du bist nichts, als ein Söldner, der weiß, wie man ein Schwert führt. Ein käuflicher Mörder. Ein Ungeheuer- ich – ich hasse dich … du …«
Ihre Stimme zitterte, verlor den Halt und ging plötzlich in ein würgendes Schluchzen über. Sie krümmte sich wie unter Schmerzen, schlug die Hände vor das Gesicht und begann haltlos zu weinen.
Wortlos wandte Rafael sich um. Aber dann konnte er nicht gehen. Nicht so. Er spürte, dass er zu weit gegangen war, dass er einen Punkt in Roanas Seele berührt hatte, den er besser unangetastet gelassen hätte.
Langsam drehte er sich wieder zu ihr herum. »Warum bestrafst du dich selbst?«, fragte er.
Ihr Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken. Ihre Lippen zitterten, aber sie brachte keinen Laut hervor. Rafael trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und hielt sie, wortlos und fest, bis ihre Schultern aufhörten zu zucken und die Tränen an seiner Brust versiegten. Er spürte die Wärme ihres Körpers durch den Stoff ihrer Tunika hindurch, und ein aberwitziges, verzehrendes Gefühl der Wut stieg in ihm auf. Himmel, am liebsten hätte er denjenigen, der für ihren Kummer verantwortlich war, umgebracht.
Sein plötzlicher Zorn war auch in seiner Berührung spürbar. Seine Hände streichelten ihren Rücken mit einer Heftigkeit, als könne er dadurch die Erinnerung, die Berührung eines anderen fortwischen.
Langsam hob sie den Kopf und sah zu ihm auf. Für die Dauer von drei, vier bangen Herzschlägen blickte er sie an, und mit einem Mal sah er alles mit erschreckender Klarheit - jedes Detail ihres Gesichts, jede Linie, den seltsamen Ausdruck in ihren hellen Augen, den der Schmerz hineingegraben hatte. Er sah das Gesicht unter der Maske, die wirkliche Roana, die sich unter stolzer Unantastbarkeit verbarg. Mit fast schmerzhafter Wucht wurde ihm klar, dass sie die Scham, die er während seines Daseins als Sklave gefühlt hatte, tagein tagaus fühlen musste. Seine Hand glitt hinauf, und seine Finger strichen sanft über die feinen Linien in ihrem Gesicht. Sie verharrte vollkommen reglos, und er wusste nicht, was sie dachte. Sie war zu gut darin, ihre Gefühle zu verbergen.
»Roana«, sagte er mit leiser Stimme. »Es tut mir leid … dass, was ich zu dir gesagt habe.«
Und das tat es ihm wirklich. Aber er hatte sich noch nie bei jemandem entschuldigt, und seine Stimme klang rau. Heiser. Als würde er ersticken.
Erfüllt von einem Schmerz, den er nicht zu lindern vormochte, ließ er sie abrupt los. Der Schmerz war etwas Neues. Etwas Ungewohntes. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Also wartete er ab. Wartete, dass sie sich zu seiner Entschuldigung äußerte, aber sie schien ebenso erstarrt zu sein wie er.
»Es ist nicht wichtig«, erwiderte sich schließlich, offensichtlich als Antwort auf seine letzten Worte. Er drehte sich wieder zu ihr um. »Doch, das ist es. Mir ist es wichtig.«
»Deine … Bemerkungen trafen teilweise zu«, sagte sie mit einem gleichgültigen Schulterzucken, aber in ihren Augen blitzte eine entsetzliche Trauer auf, die ihm etwas von ihrer inneren Qual verriet. Rafael fühlte sich noch erbärmlicher als zuvor, als ihm klar wurde, dass er sie viel tiefer getroffen hatte, als er beabsichtigt hatte.
Er streckte die Hand aus und berührte sanft ihren Arm.
»Ah, Roana, ich weiß nicht, ob es gut war, dass Dom Gandar uns zusammengebracht hat. Vielleicht stürzen wir uns nur gegenseitig ins Verderben. Du hättest die Macht dazu. Weil niemand mich so berührt wie du. Du erschütterst mein Inneres. Irgendwie weiß ich nicht mehr so recht, was ich mit mir anfangen soll.«
»Der gefürchtete Malik al Maut auf einmal so unsicher?«
Bei ihren Worten zuckte Rafael zusammen. Er hasste die Vorstellung von Unsicherheit. Vor allem hasste er es, wenn er derjenige war, um den es dabei ging. Trotzdem beschloss er, ehrlich zu sein. Wenn überhaupt etwas bei ihr wirkte, dann Ehrlichkeit. »Vielleicht. Ein bisschen.«
»Eigentlich müsstest du mich hassen«, sagte sie.
»Ich habe es versucht«, antwortete Rafael.
»Und?« Sie lächelte, müde, traurig, aber auch resignierend. »Ist es dir gelungen?«
Rafael schluckte. »Nein.«
Er beugte sich vor und strich sanft mit seinen Lippen über ihren Mund in der Hoffnung auf eine Einladung. Roana drehte mit einer kraftlosen Bewegung den Kopf zur Seite, damit sein Mund nur ihre Wange berührte, aber er hielt sie mit sanfter Gewalt fest. Sie erstarrte, doch es gelang ihr nicht, die Reaktionen ihres Körpers auf seine Berührung zu verbergen.
»Ich werde dir nicht wehtun«, flüsterte er.
Seine Hände streichelten sie zaghaft, ohne die Sicherheit, mit der er sich normalerweise bewegte, als hätte er Angst, dass sie sich von ihm losreißen würde, wie sie es bereits zuvor getan hatte. Nie zuvor war er so geduldig gewesen, so vorsichtig und sanft, doch ihre Reglosigkeit war beinahe unheimlich, wie die eines Rehs, das im Licht der Laterne eines Jägers erstarrt.
Seine Finger strichen an ihrem Kiefer entlang, bis zu einer Stelle direkt unter ihrem Ohr. Sie atmete zitternd ein und machte einen Schritt zurück.
Plötzlich, ehe er sich selbst wirklich über die Bedeutung seines Handelns im Klaren war, ergriff er sie bei den Schultern, zog sie zu sich heran und verschloss ihren Mund mit einem Kuss. Roana entfuhr ein Stöhnen bei der Berührung. Sie öffnete leicht ihre Lippen, zögernd zwar, aber sie öffnete sie. Er spürte ihre Reaktion, spürte, dass sie seinem Kuss nachgab, dass sie ihn erwiderte. Doch ihre leicht starre Haltung blieb ihm nicht verborgen, und auch die stumme Anschuldigung in ihrem Blick, konnte er nicht vergessen.
Er wollte sie nicht auf diese Art. Er wollte sie ohne das geringste Zögern, ohne das Misstrauen, das wie eine drohend erhobene Schwertklinge zwischen ihnen stand. Zorn und Frustration überschwemmten ihn. Er wollte sie schlagen, küssen, quälen und streicheln zugleich und sich an sie klammern, wie ein Ertrinkender an einen Ast. Stattdessen löste er seinen Mund von ihren Lippen und hob den Kopf, aber er hielt sie immer noch fest. Er versuchte sie durch bloße Willenskraft dazu zu bewegen, ihn anzusehen, doch er musste feststellen, dass sie sich nicht so leicht manipulieren ließ. Ihr Blick verharrte irgendwo auf der hölzernen Trennwand hinter ihm, schien sich ganz auf einen Nagel zu konzentrieren, aber er spürte, dass sie etwas vollkommen anderes sah.
Er hob eine Hand an ihr Kinn und zwang sie, ihn anzublicken.
»Es wäre mir lieber, du würdest mir ins Gesicht schlagen.« Seine Stimme war betont lässig, beinahe spöttisch.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»O doch, das weißt du, Roana. Du ziehst dich vor mir zurück. Aber ich will nicht, dass du jetzt vor mir wegläufst.«
»Warum nicht?« Der bittere Ton ihrer Frage erschreckte ihn. Plötzlich war er wütend. Wütend auf sich. Wütend auf sie. Sie weigerte sich, ihre Haltung infrage zu stellen. Sie wollte, dass alles so blieb, wie es war.
»Du wirfst dein Leben weg, Roana«, sagte er.
»Ich?«, fragte Roana überrascht. »Ich werfe mein Leben weg? Nur weil ich nichts mehr mit Männern zu tun haben will? Du bist ja nicht ganz richtig im Kopf, Rafael!«
»Du auch nicht Roana«, gab Rafael ungeduldig zurück. »Du nimmst das, was ein Mann dir angetan hat als Maßstab und lässt dein Leben davon bestimmen. Das ist mehr als dumm. Das ist Wahnsinn.«
»Ich bin also wahnsinnig, ja?«, fragte Roana herausfordernd. »Schön. Du hast recht, Rafael. Ich bin wahnsinnig. Und da mein Wahnsinn darin besteht, dass ich atme, gibt es dafür eine einfache Kur.«
»Roana«, sagte Rafael in scharfem Ton, »hör auf mit dem Unsinn.«
»Du sagst, ich soll nicht sein, was ich bin. Auch dafür gibt es eine einfache Kur. Es ist genau die Gleiche.«
Rafael wusste, dass er sie verloren hatte. Er wusste es in dem Augenblick, in dem sich erneut ein Schleier über ihren Blick legte. Ein Schleier hinter dem sie ihre Gefühle und sich selbst verbarg. Er zuckte mit den Schultern, löste sich von ihr und wandte sich um. »Ich mag zwar viele Fehler haben, aber zumindest habe ich noch nie eine Frau gezwungen, mir gegen ihren Willen Gesellschaft zu leisten«, sagte er kalt.
Roana zuckte zusammen. »Können wir nicht einfach wie höfliche Fremde miteinander umgehen?«, flüsterte sie.
»Höfliche Fremde«, wiederholte er grimmig. »Nein ich glaube nicht, dass wir das können.«
Es gab etwas zwischen ihnen, dass zu stark war, dass sie niemals einfach nur höflich zueinander sein könnten. Feuer und Öl.
Verglühende Sterne. Blitz und Donner, Regen. Aber das konnte er ihr unmöglich sagen.
Sie sah ihn an. »Dann kann es zwischen uns gar nichts geben.«
»Versuche einmal, dass, was zwischen uns ist, zu beenden, meine überaus teure Roana«, sagte er spöttisch.
»Das werde ich. Ich kann es.«
»Das werden wir ja sehen.«
Bei diesen Worten wirbelte sie herum und stürzte aus dem Stall, ohne einen Gedanken an ihren Hengst zu verschwenden.
„Roana!“, rief er ihr hinterher, aber sie blieb nicht stehen, und er zwang sich, ihr nicht nachzulaufen. Für den Moment war sie sicher.
Für den Moment.