Die Abendmahlzeit in der Ca´Ferroni war in vollem Gange. Verführerische Düfte nach Gebackenem wehten Joran entgegen. Die Fenster zum Innenhof waren weit geöffnet und angeregtes Stimmengezwitscher untermalt von Gelächter drangen an seine Ohren. Was ging da vor? Joran hätte den Portego normalerweise nicht betreten: Nachdem er seine restlichen Waren und die Geldschatulle ausgeladen und sein Boot für die Nacht vertäut hatte, wollte er nur noch auf seinen Strohsack fallen und schlafen. Doch im Obergeschoss schien sich etwas Ungewöhnliches zuzutragen. Er stieg hinauf, öffnete einen Flügel der hohen Tür und blieb wie angewurzelt stehen.
Vier, nein fünf ältere Damen scharten sich um den langen, schmalen Eichentisch. Oben an der Tafel saß seine Mutter, mit Jacopo zu ihrer Linken. Zu ihrer Rechten saß die Kaufmannswitwe Barbera Gambacorti, eine alte Freundin seiner Mutter. Anschließend die Schwestern Isabella und Lucrezia Parenti, ebenfalls alte Freundinnen, und am Ende der Tafel zerbröckelte eine Frau, die er nicht kannte, ein Stück Kuchen und schob sich die Stücke in den beinahe zahnlosen Mund.
Die Tafel war mit dem schlichten Geschirr aus der Küche gedeckt und die hohen Tischkerzen steckten in Leuchtern aus bemaltem Holz. Das alles schien die Damen nicht weiter zu stören, denn sie schwatzten und kicherten über irgendeinen Unsinn wie junge Donzelle. Niemand hatte seine Ankunft bemerkt und Joran wollte sich schon unauffällig zurückziehen, als ein Schwall Zugluft die Kerzen zum Flackern brachte und die schweren Vorhänge vor den Fenstern blähte, als bewege sie eine Hand.
»Gott steh mir bei!«, sagte Monna Marliana, als hätte sie einen Geist gesehen.
Alle Köpfe fuhren zur Tür herum und Joran hatte keine Möglichkeit mehr, sich unauffällig zurückzuziehen.
Er kam in eine Gesellschaft, die auf sein Auftauchen ganz und gar nicht vorbereitet war. Als er den Raum betrat, brachen die Damen eine nach der anderen in Worte der Überraschung aus. Die Schwestern Parenti hatte sich erhoben, seine Mutter dagegen wirkte wie erstarrt vor Schreck, das Gesicht vollkommen farblos. Jacopos Rechte lag auf ihrem Handgelenk und hielt es auf der Tischplatte fest, während er leise auf sie einsprach, doch Joran war beinahe sicher, dass sie im nächsten Augenblick anfangen würde zu schreien. Ohne einen Laut, ohne die leiseste Regung, stand er neben der Tür und verspürte eine große Kälte in seinem Inneren, als sei ein Frost gekommen, der alles Lebendige zu Eis erstarren ließ.
»Willkommen Messèr Ferroni«, sagte Jacopo mit betonter Deutlichkeit. »Es ist gut, Euch wohlbehalten wieder hier zu sehen. Wie waren die Geschäfte?«
»Erfolgreich, danke.«
Jetzt erhob sich auch Monna Gambacorti. »Joran? Tatsächlich, Joran Ferroni. Seht ihn euch an! Aus dem Jungen ist ein Mann geworden! Und was für ein ansehnliches Exemplar.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und er beugte sich wohl oder übel darüber, um einen angedeuteten Kuss darauf zu hauchen. Auch die Parenti Schwestern traten nun vor, um ihn zu begrüßen und ihn der vierten Dame vorzustellen. Er hörte zu, ohne wirklich zu begreifen, was sie ihm erzählten. Die Worte und Töne machten ihn schwindelig und er hatte Mühe, den Anschein von höflichem Interesse aufrecht zu erhalten. Schließlich war er bei Marliana angelangt. Seine Augen glitten über ihr Gesicht. Sie starrte ihn an, mit Pupillen, die riesengroß waren vor Furcht, doch sie gab außer einem scharfen pfeifenden Einatmen keinen Laut von sich.
Er verbeugte sich steif. »Guten Abend, Mutter«, murmelte er.
Wie erwartet erhielt er keine Antwort. Doch immerhin schrie sie nicht, was daran liegen mochte, dass Jacopo unablässig auf sie einsprach, während er mit seinen Fingern beruhigend über ihren Handrücken streichelte. Dennoch war es nicht wegzuleugnen: Seine Mutter fürchtete sich zu Tode.
Vor ihm.
Diese Erkenntnis bohrte sich wie eine Pfeilspitze in seine Eingeweide. Was zur Hölle hatte er getan, um eine derartige Reaktion hervorzurufen?
Joran blickte zu Monna Gambacorti hinüber. »Ich will Eure Gesellschaft nicht länger stören. Gehabt Euch wohl.«
»Oh, es besteht keine Notwendigkeit, gleich wieder davonzulaufen. Ihr müsst uns von Euren Reisen ins Heilige Land erzählen. Jacopo wusste nur die bloßen Tatsachen in groben Zügen zu berichten. Wie ist es dort?«
»Heiß und staubig. Es würde Euch nicht gefallen, Monna Gambacorti. Zudem bin ich ein wenig erschöpft von der Reise und wäre sicherlich kein angenehmer Gesellschafter.«
»Nun, dann müsst Ihr wenigstens einen Schlummertrunk zu Euch nehmen. Kommt, setzt Euch zu uns an den Tisch.«
Joran tat, wozu man ihn drängte, und trank drei Gläser Wein hintereinander. Mit dem Vierten erhob er sich. »Ich wünsche den Damen noch einen angenehmen Abend«, sagte er. »Für mich ist es nun wirklich Zeit, mich zurückzuziehen.«
Er flüchtete beinahe aus dem Raum und kehrte ins Wassergeschoss zurück. Eine Weile saß er reglos auf seinem Strohsack, ließ den Kopf hängen und dachte nach. Seine eigene Mutter fürchtete sich vor ihm und diese Tatsache machte ihm schwer zu schaffen. Konnte sie ihm ansehen, welchem Blutrausch er sich hingegeben hatte, um seine Schwester aus den Klauen eines skrupellosen Hurenwirtes zu befreien? Sicher, er hatte versucht, gegen den vergifteten Zorn anzukämpfen, der tief aus den dunkelsten Abgründen seiner Seele in ihm emporgestiegen war, aber es war wie der Versuch gewesen, eine Sturmflut mit bloßen Händen aufzuhalten. Er hatte keinerlei Bedauern empfunden, beim Anblick der Toten, die er zurückgelassen hatte. Und er empfand auch jetzt nichts, bei der Erinnerung daran. Doch irgendein Makel schien ihm anzuhaften, den seine Mutter instinktiv erkannt hatte.
Mit einem Seufzer stand er auf, nahm seine Lampe und ging ins Kontor seines Vaters. Jetzt eigentlich das seine, wenn er es wollte, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, das Haus als seinen Besitz anzusehen. Er setzte sich an den Schreibtisch, zog die Mappe mit Pisanis Dokumenten zu sich heran und begann zu arbeiten.
Irgendwann nach Mitternacht erschien Jacopo, um nach ihm zu sehen. »Warum schlaft Ihr nicht, Joran?«
»Ich will alles in Ordnung haben, bevor ich Venedig verlasse.«
»Ihr seid doch gerade erst heimgekehrt. Wo wollt Ihr denn schon wieder hin?«
Joran zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Irgendwohin. Nur weg von hier.«
Der Alte trat näher und baute sich stirnrunzelnd vor dem Schreibtisch auf. »Ihr wollt weglaufen. Wovor?«
Joran warf angewidert die Feder auf den Schreibtisch. »Gott, meine eigene Mutter fürchtet sich vor mir! Du hast es doch gesehen. Sie war kurz davor, einen ihrer Anfälle zu bekommen. Was bleibt mir da anderes übrig, als fortzugehen?«
»Sie meint nicht Euch, Joran. Sie hat Lucca gesagt. Irgendetwas an der Situation muss sie an den Finsterling erinnert haben ...«
Joran setzte sich kerzengerade auf. »Was-?«
»Sie sagte Lucca. Es gibt keinen Zweifel ...«
»Ich hab´s gehört.«
»Als Ihr hereinkamt, war es, als sähe sie eine Geistererscheinung. Erklären kann ich´s nicht ...«
Joran stöhnte gequält. »Aber ich. O Gott.« Er verbarg sein Gesicht in den Händen und saß reglos da, weil seine Kehle zu eng war, um ein Wort hervorzubringen.
Jacopo legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich wollte niemals, dass Ihr so etwas durchmachen müsst, aber die vertraute Umgebung schien ihr so gut zu bekommen. Sie war beinahe die Alte, gelassen und heiter, erkannte ihre Bediensteten von früher und schlief in den Nächten durch, ohne von Albträumen gequält zu werden. Warum sie auf Euch dermaßen reagiert, ist mir unerklärlich.«
Joran ließ die Hände sinken. »Ich bin Lucca, dem Bastard, wie aus dem Gesicht geschnitten«, murmelte er.
Jacopos Hand auf seiner Schulter wurde schwer und Joran konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er begriff.
»Versprecht mir, dass Ihr nichts überstürzt, Herr. Ich möchte nicht morgen früh aufwachen, nur um festzustellen, dass Ihr wieder einmal verschwunden seid. Davonzulaufen macht die Dinge nicht besser.«
»Ich weiß.«
»Dann habe ich also Euer Versprechen?«
Joran schwieg.
»Werdet Ihr bleiben?«, hakte Jacopo nach.
»Es reicht, Alter«, antwortete Joran leise. »Es reicht.«
»Heiliger Markus!« Jacopo verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr macht es Euch sehr leicht, wisst Ihr das? Ihr hüllt Euch in Schweigen, gebt den Geheimnisvollen und erwartet, dass ich brav stillhalte. Aber für so einen Unsinn bin ich zu alt. Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was Ihr plant. Wenn Ihr es mir nicht sagen wollt, habe ich in diesem Haus nichts mehr verloren.«
»Willst du mich erpressen?«
»Alles, was ich will, ist, dass Ihr ehrlich seid. Das ist nicht zu viel verlangt.«
»Es gibt Dinge, über die ich nicht sprechen kann.«
»Über die Ihr nicht sprechen könnt oder nicht sprechen wollt?«
Joran sagte nichts; er saß nur da und betrachtete angelegentlich seine Finger.
»Gut, wie Ihr wollt. Dann gehe ich jetzt meine Habseligkeiten packen.«
»Das ist nicht nötig, Jacopo.« Joran stand auf und ging in der Kammer umher. »Ich verspreche zu bleiben. Zumindest, bis das Haus verkauft ist. Dann sehen wir weiter.«
»Ihr wollt also immer noch verkaufen.«
»Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich kann es mir nicht leisten.«
»Oh, tatsächlich?« Jacopo durchquerte das Kontor, hob den Deckel einer Truhe, zog einen der Lederbeutel heraus und leerte den Inhalt auf den Schreibtisch. Goldmünzen ergossen sich klimpernd über die Tischplatte. »Und wie zur Hölle erklärt Ihr dann das hier? Eine verdammte Truhe voller Goldmünzen?«
»Die Münzen gehen dich nichts an«, knurrte Joran. »Wer hat dir überhaupt erlaubt, meine Sachen zu durchwühlen?«
»Ihr habt mich die ganze Zeit angelogen. Diese Truhe enthält genug Gold, um das Haus zu retten.«
»Dieses Gold ist meine Zukunft«, schoss Joran zurück. »Mein Startkapital, für das ich verdammt hart gearbeitet habe. Ich will reisen, verdammt. Ich brauche kein Haus am Canalezzo.«
»Aber Eure Mutter braucht es, Ihr selbstverliebter Bastard!«
Joran wandte sich ruckartig zu Jacopo um und der Alte wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Raus!«, brachte Joran hervor. »Geh mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse und dir den mickrigen Hals umdrehe.«
Leise schloss Jacopo die Tür hinter sich.