Akkon 1249
Die Überraschung, die Joran bei Luccas Anblick zunächst gelähmt hatte, verflog rasch.
»Verlasst auf der Stelle mein Haus«, befahl er.
Lucca lächelte spöttisch. »Und wenn nicht? Was machst du dann, Söhnchen?«
Joran musste sich eingestehen, dass er es nicht wusste. Die Eindringlinge waren zu dritt und Luccas Kumpane hatten schon unter Beweis gestellt, wie kräftig sie waren. Auf Julian konnte er nicht zählen und sonst war niemand im Haus.
»Was wollt Ihr?«, fragte er grollend.
»Du zeigst recht gute Anlagen zum Händler, Söhnchen. Deshalb habe ich mich entschlossen, dir ein höchst profitables Geschäft anzubieten.«
»Hört auf, mich Söhnchen zu nennen.«
»Oh, aber die Chancen stehen gut, dass du mein Sohn bist. Weder Marliana noch Ordelaf haben blaue Augen. Hast du dich nie gefragt, von wem du die deinen geerbt haben könntest?«
»Nein.«
Lucca schüttelte traurig den Kopf. »Wie viele gemeinsame Jahre haben wir versäumt, weil niemand die entscheidende Frage gestellt hat. Oder hat der gute Messèr Ferroni sie gestellt und es dann vorgezogen, die Antwort zu vergessen? Hat er alles daran gesetzt, zu verschleiern, dass ihm seine geliebte Gemahlin einen Bastardsohn beschert hat? Hm? War es so?«
»Ich glaube Euch kein Wort«, stieß Joran hervor. »Verschwindet! Erzählt Eure Märchen woanders.«
Lucca erhob sich. »Aber, aber«, tadelte er milde. »Ich weiß, ich habe dich unvorbereitet mit meinen Neuigkeiten überfallen. Ich werde dir ein paar Tage Zeit geben, um alles zu überdenken. Danach sehen wir uns wieder, das verspreche ich dir. Gehab dich wohl, mein Sohn.« Er winkte seinen Kumpanen und verließ das Haus.
Jorans Erleichterung war jedoch nicht von Dauer. Irgendetwas hatte sich verändert. Er merkte es, wenn er zum Einkaufen in den Basar ging oder zum Hafen, um nach den einlaufenden Handelsschiffen Ausschau zu halten. Die Menschen wichen ihm aus, als sei er mit Aussatz behaftet, musterten ihn mit abfälligen Blicken oder steckten hinter seinem Rücken die Köpfe zusammen. Seine neugewonnenen Freunde hatten plötzlich zu viel zu tun, um sich mit ihm abzugeben. Joran machte seinen Warenbestand zu Geld, so gut er es vermochte, doch niemand schien bereit, ihm neue Waren zu verkaufen. Er brütete nächtelang über der Frage, was er falsch gemacht haben konnte, doch ihm wollte nichts einfallen. Innerhalb weniger Wochen war sein Leben in tausend Splitter zerbrochen. Er brauchte jemand, dem er vertrauen konnte und der ihm half, die Scherben wieder zusammenzusetzen.
Er schrieb an seinen Vater in Venedig, schilderte ihm, was sich ereignet hatte und bat um Rat, doch im günstigsten Fall würden Wochen ins Land gehen, bevor er auf eine Antwort hoffen durfte. Er war sich selbst nicht sicher, warum er darauf verzichtet hatte, Luccas Behauptung in seinem Brief zu erwähnen. Die ganze Sache erschien ihm zu ungeheuerlich, zu weit her geholt, um wahr zu sein. Doch war sie das wirklich? Die Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen und je länger Joran darüber nachdachte, umso weniger gelang es ihm, das Ganze als Zufall abzutun. In seine Empörung mischte sich Besorgnis. Es ärgerte ihn, dass er versäumt hatte, Lucca wenigstens nach Namen und Herkunft zu fragen. Einerseits verspürte er nicht den Wunsch, dem Mann noch einmal zu begegnen. Ordelaf Ferroni war sein Vater und würde es in seinem Herzen bleiben, wie auch immer die Wahrheit lauten mochte. Andererseits nagte die Ungewissheit an seinem Selbstwertgefühl. Da an eine erfolgreiche Handelsniederlassung nicht mehr zu denken war, ersparte er es sich, sein Kontor zu öffnen und streifte stattdessen durch die Stadt, auf der Suche nach Informationen über den Mann namens Lucca. Er fand nichts.
Das Startkapital, das sein Vater ihm mitgegeben hatte, ging im folgenden Monat zur Neige. Joran verkaufte sein Pferd und alles, was er entbehren konnte. Er zog aus dem Haus in eine billige Kammer und versuchte sich erst als Hafenarbeiter, dann als Fischer, während er auf Nachrichten aus Venedig wartete. Er verstand nicht, warum niemand ihm Waren verkaufen wollte. Irgendetwas schien in der Stadt vorzugehen, was außerhalb seines Einflussbereiches lag. Es betrübte ihn zutiefst, als Versager heimkehren zu müssen, aber er sah keine andere Möglichkeit. Er würde das nächstbeste Schiff besteigen, das Richtung Venedig fuhr, seinem Vater alles gestehen und demütig seine Enttäuschung ertragen. Schnell fand sich eine passende Galeere. Doch als er den Platz für die Überfahrt bezahlen wollte, musste er feststellen, dass man ihn übers Ohr gehauen hatte. Ein dreister Dieb hatte ihm die gesamte Barschaft entwendet und ihm anstelle seiner Geldkatze einen Beutel mit Kieselsteinen untergeschoben, um den Diebstahl zu vertuschen. Aus irgendeinem Grund fand der Kapitän der Galeere das lustig aber Joran konnte nicht mit ihm lachen.
Zwei Tage später wurde Joran aus seiner Kammer geworfen, und er musste sich zum Schlafen eine Kirche suchen, doch dort wurde er schon bald vom Priester vertrieben. Danach wanderte er bis zum Morgen ziellos umher. Sobald es hell genug war, ging er zum Hafen und mischte sich unter die Tagelöhner, doch niemand wollte ihm Arbeit geben. Joran ging zu seinem ehemaligen Haus zurück. Lange Zeit saß er auf einer Mauer gegenüber dem Eingang und hoffte auf einen Boten, der Nachrichten aus Venedig brachte. Als die Nacht anbrach und die Menschen sich in ihre Häuser zurückzogen, wandte er sich nach Norden, ging zum Basar und brach die Hintertür einer Werkstatt auf.
Er schlief in einer Nische, versteckt zwischen ausrangierten Körben und Ballen gegerbter Häute. Niemand belästigte ihn in dieser Nacht, aber am nächsten Morgen erwachte er zu spät und lief dem Besitzer der Werkstatt in die Arme, als dieser zur Arbeit kam. Der Mann verpasste ihm eine Tracht Prügel und stieß ihn auf die Straße, aber erst, nachdem er ihm seine guten Stiefel abgenommen hatte.
Am nächsten Tag erschien Lucca am Hafen, führte Joran zurück in das Haus, hieß ihn, sich an den gedeckten Tisch zu setzen und winkte einer Magd, mit dem Auftragen köstlich duftender Speisen zu beginnen. Jorans Magen knurrte verräterisch und er schämte sich ein bisschen für die Gier, mit der er über das Essen herfiel. Doch Lucca lachte nur, klopfte ihm leutselig auf die Schulter und forderte ihn auf nur richtig zuzulangen. Während Joran aß, begann Lucca zu reden, erzählte eine rührselige Geschichte, wie es zu dem unglücklichen Zerwürfnis mit Madonna Marliana gekommen war, und behauptete mit bebender Stimme erst vor wenigen Monaten von der Existenz seines Sohnes erfahren zu haben.
Joran legte den Löffel beiseite und trank einen Schluck Wein, während er sich Luccas Ausführungen durch den Kopf gehen ließ. »Was versprecht Ihr Euch von einer Verbindung mit mir?«, fragte er.
»Nun, die Frage ist eher, was du von einer Verbindung mit mir erwarten kannst, Joran«, erwiderte Lucca. »Wie mir zu Ohren kam, hast du gerade eine Pechsträhne, was deine Geschäfte betrifft. Ich habe ein Lager voller Waren, aber nicht die Zeit, mich selbst um den Verkauf zu kümmern. Du hast das Talent zum Handeln, aber nicht das Kapital, um Waren zu kaufen. Ich denke, wir können uns gegenseitig von Nutzen sein.«
»Heißt das, ich soll Eure Waren für Euch veräußern?«
»Ja. Ich zahle die Miete für dieses Haus und du bekommst einen festen Prozentsatz von dem Erlös, den du erzielst. Was hältst du davon?«
Die folgende Woche war wie ein glücklicher Traum. Joran arbeitete für Lucca und verkaufte die Waren, die er ihm bringen ließ, Schmuck, Gewürze und Schwerter, alles von ausgezeichneter Qualität. Zuerst hatte Joran Bedenken, ob es ihm gelingen würde, Käufer zu finden. Doch niemand schien sich an die Vorbehalte zu erinnern, die man ihm vor kurzem noch entgegengebracht hatte. Das verstand er nicht. Aber wer war er schon, sich über solche Nebensächlichkeiten Gedanken zu machen. Er war viel zu beschäftigt damit, sein neues Leben zu genießen. Alles wurde sogar noch besser, als er zum Essen in Luccas Heim eingeladen wurde. Es war ein prächtiges Haus mit Fußböden aus buntem Marmor, zierlichen, vergoldeten Lampen, getriebene Gerätschaften aus Metall standen neben schönen Gläsern, die schwarze Dienerschaft war gut geschult und Luccas Bibliothek ein Wunder der Welt. Lucca schien erfreut über sein Interesse und schenkte ihm ein Buch. Die Kopie war gerade erst fertig geworden. Der Band hieß `Liber abacci´, also Rechenbuch, war trotz des lateinischen Titels in Veneziano geschrieben und sein Verfasser war ein gewisser Leonardo Fibonacci aus Pisa.
Dieses Buch versetzte Joran in Aufruhr. Nach einer in Lektüre durchwachten Nacht erklärte er völlig aufgelöst, mit zittrigen Händen und glänzendem Blick, ob Messèr Lucca denn wirklich wisse, was die Arbeit dieses Herrn aus Pisa bedeute. Diese fünfzehn Kapitel, übrigens sehr schön und genau mit Beispielen aus der Handelswelt versehen, würfen das gesamte, von den Römern überlieferte Rechensystem über den Haufen, indem man die Zahlen der Ungläubigen benutze, wobei zum Rechnen die Kugeln unnötig würden und ein nacktes Blatt Pergament genüge, um mittels eines seltsamen, zwar nicht existierenden, jedoch sehr praktischen Dinges, Null geheißen, durch Addieren der untereinandergeschriebenen Posten die Summe zu erhalten und ... Joran verhaspelte sich.
Lucca schlug ihm lächelnd auf die Schulter. »Wie schön, dass dir die Null gefällt, mein Junge. Du kannst anfangen, sie in meinen Büchern zu benutzen, wann immer du willst.«
Was Joran auch tat. Sobald er sicher war, das Addieren mit dem neuen Zahlzeichen zu beherrschen, begann er die Bücher umzustellen. Diese Aufgabe beanspruchte den größten Teil seiner Zeit und war vielleicht auch der Grund, warum er Luccas neueste Warenlieferung nicht mit seiner üblichen Gründlichkeit prüfte. Erst am Abend, als er schon in seinem Bett lag und den Tag in Gedanken noch einmal durchging, fiel ihm ein, dass er in einer der Kisten etwas gesehen hatte, was dort nicht hätte sein dürfen. Er stand auf, warf sich eine Tunika über und ging ins Kontor hinunter. In einer der Truhen war ihm zwischen Hausrat und buntgewebten Teppichen ein kleines Kästchen mit Goldschmuck aufgefallen. Er zog eine Kette heraus, betrachtete den Anhänger, drehte und wendete ihn hin und her, bis er ganz sicher war, sich nicht zu täuschen. Der Anhänger war das Stück, das er in Auftrag gegeben hatte. Das Geschenk für seine kleine Schwester, das er nicht mehr hatte abholen können, weil ein feiger Mörder den Goldschmied umgebracht und alles Wertvolle aus seinem Haus geraubt hatte. Wie, bei allen Heiligen, kam Lucca in den Besitz dieser Kette?