Nachdem Alanel mit Si'mon auf der Schulter aufgebrochen war, ließ Ma'rit lauthals verkünden, dass in Absprache mit Ly'an ihrer aller Herrin beide ausgezogen seien, um ein beharrliches Gerücht zu verfolgen. Es bestünde der naheliegende Verdacht, dass eines der verschollenen Häuser noch nicht dem lähmenden Bann erlegen sei.
Es gab seither zahlreiches Gerede über das Unterfangen, aber auch verstohlene Blicke. Si'mon konnte nicht mit einem der Wächter unterwegs sein. Er aß von eben jenem Kuchen, den er eigenhändig vergiftete. Er spürte mahnende Augen auf sich ruhen. »Du hast versagt.«
Trotzig drehte er sich zu dem Sprecher herum. »Wohl kaum. Es ist eine List.«
»So? Was für eine List es wohl sei?«
Erschrocken riss er die Augen auf, als er verstand, dass er begann, sich um seinen Kopf zu reden. Sein Onkel und Ziehvater jedoch legte ihm die Hände auf die Schultern und nickte. »Unsere Zeit wird kommen.«
Ly'an hielt sich wieder öfter im Hain Erebors auf und ließ diesen bewachen. Sie beobachtete den Baum und den Wuchs der Blätter. Ma'rit wich ihr seit dem hinterhältigen Anschlag nicht mehr von der Seite und wenn doch, so blieben stets zwei seiner Wächter in unmittelbarem Zugriffsbereich.
Sie saß im Schneidersitz und schloss gedankenverloren die Augen. Sie schlief nicht, wie ihr geliebter Junge es an diesem Ort beliebte. Sie trug das Erbe ihrer Mutter in sich, die wie sie selbst mit der Gabe Gayas gesegnet war. Alle Lynken waren seit jeher naturverbunden und lebten im Einklang mit dieser. All ihre architektonischen Ausführungen passten sich dem Verlauf und dem Wuchs der Natur an. Ausschließlich die ebenerdig errichteten Häuser ähnelten jenen der Menschen, obgleich Fenster, Fassade, Türen und alles, was das Auge zu sehen ergab, mit naturbehafteten Friesen und Schnörkeln versehen wurde. Die meisten ihrer Behausungen jedoch fand man in den Ästen großer kräftiger Bäume.
Sänger ihres Volkes saßen mitunter viele Tageswenden zusammen und besangen einzelne solcher Gewächse, derer durch ihren Gesang beeinflusst, in Höhe wie Breite vorbestimmt wuchsen. An Machen wand sich ein gewachsener Treppenverlauf an seinem Äußeren bis hinauf in den Wipfel. Breite und ausladend kräftige Äste trugen Plattformen, auf denen Wohnbereiche errichtet werden konnten.
Gayadisten hingegen hegten Zwiesprache mit Mutter Natur. Sie waren es, die die Energien Gayas lenkten und für die Sänger anlockten. Sie wussten um den Bestand der Tiere, wo sich gesunde Herden aber auch erkrankte, wie sterbende aufhielten. Die Gabe mit Gaya zu kommunizieren versiegte, als Erebor den schützenden Bann um den Hain errichtete und alles außerhalb der ewigen Starre anheim viel.
»Ly'an«, flüsterte es, doch sie hielt ihre Lieder weiterhin verschlossen. Die Stimme wurde flehender, beinahe herrisch. Sie wurde unsanft gerüttelt. »Ly'an, bitte.« Müde öffneten sich ihre Augen und sie blickte in erregt und erschrockene hinauf. Sichtlich erleichtert nickte ihr Gegenüber. »Ma'rit? Was ist los«, erkundigte sie sich geschlagen.
Anstatt zu antworten, lenkte er ihren Blick mit der linken Hand unter ihrem Kinn haltend. Ihre Augen weiteten sich und begab sich ruckartig in gebückte Haltung.
Sie lächelte und ein unbeschwertes Funkeln huscht über ihre Züge. »Er lebt. Si'mon ist wohl auf.«
Ihr Bruder nickte unterdessen und fügte anbei. »Und es hat begonnen.«
In nicht zu greifender Höhe erblühte eine einzelne Knospe Erebors zu voller Pracht. Eine milchig weiße Blüte, geformt wie ein secheckiger Stern. Lila zeichnete die Form in ihrem Inneren nach und verblasste Richtung Mittelpunkt. Mittig jener schimmerte es blass golden.