Venedig, Juli 1256
Mit dem ersten Läuten der Glocken von San Marco verließ Renaud d’Airelle wie gewöhnlich seine schäbige Kammer in einem Mietshaus und trat auf den Campo Della Bragola hinaus. Er begab sich zum Hafen und besah sich die dort vor Anker liegenden Boote. Nach diesem ersten Kontrollgang kaufte er sich an einem der Essensstände auf der Piazza einen Imbiss, den er, scheinbar müßig umherschlendernd, verspeiste. Dabei ließ er jedoch keinen Augenblick in seiner Wachsamkeit nach. Sein Blick streifte jeden männlichen Passanten, auf der Suche nach dem Mann mit der Narbe im Gesicht. Manchmal setzte er sich auch einfach auf eine Treppenstufe und sah dem Treiben auf der Mole zu. Für die Hafenarbeiter und Bootsbesitzer, die ihn zu Anfang noch misstrauisch im Auge behalten hatten, war er inzwischen ein vertrauter Anblick. Sie sahen einen von Wind und Wetter gegerbten Mann, der sich gelegentlich ein paar Münzen mit einfachen Hilfsarbeiten dazuverdiente. Nicht weiter beachtenswert.
Sobald sich die morgendliche Geschäftigkeit am Hafen ein wenig legte, mischte er sich unter die Kunden, die Richtung Rialto strömten, um ihre Einkäufe für den Tag zu tätigen. Er benahm sich möglichst unauffällig, beobachtete und lernte Venedig und seine Bewohner besser kennen als jemals eine Stadt zuvor. All dieses Wissen erschien ihm jedoch nutzlos und diente nur dazu, ihm die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens vor Augen zu führen. Die Venezianer waren so zahlreich wie Wassertropfen in der Lagune. Wie sollte es ihm da gelingen, einen Einzigen herauszufinden?
Und Gott schwieg.
D’Airelle war überzeugt, dass es seinen Gebeten nicht an der nötigen Inbrunst mangelte, doch die vom Abbé verheißene göttliche Hilfe ließ nun schon beinahe zwei Wochen auf sich warten. Insgeheim fand d’Airelle, dass er sich lange genug in Demut und Geduld geübt hatte. Er wollte zurück nach Akkon in die vertraute Gemeinschaft seiner Brüder. Doch zuvor musste er das verteufelte Reliquiar wiederbeschaffen. Er verstand ohnehin nicht, wie es dem Dieb gelungen war, die Reliquie zu stehlen. Hatte Gott selbst sich gegen Akkon und die Basilika St. Andreas gewandt? Fand er die Verehrung, die seinem Sohn an diesem Ort entgegengebracht wurde, mangelhaft? Es war nicht ungewöhnlich, dass eine mächtige Reliquie selbst den Ort wählte, an dem sie ihre Wunder zu wirken wünschte. Dagegen war menschliches Handeln machtlos.
Vielleicht war der Diebstahl aber auch die Strafe für den Frevel, den die selbstherrliche Entscheidung des Abbé darstellte. Keiner der Brüder war einverstanden gewesen mit seinem Plan, einen höchst gefährlichen Gegenstand aus dem Besitz des Ordens als Lockmittel zu benutzen. Sie hatten geschlossen dafür plädiert, eine Kopie in dem Reliquiar zu verstecken.
»Oh, natürlich«, hatte der Abbé gespottet. »Es ist ja auch so leicht, eine Kopie anfertigen zu lassen.«
»Leicht«, hatte der Älteste der Brüder ungerührt entgegnet, »ist es sicher nicht. Aber es ist möglich. Ich werde zusammen mit d’Airelle und ein paar Freiwilligen zu den Dörfern ins Hinterland hinausreiten. Dort finden wir bestimmt einen geschickten Handwerker, den ein paar zusätzliche Münzen überzeugen, den Mund zu halten.«
»So einfach, glaubst du, ist das?«
Der Bruder hatte genickt. »So einfach ist das.«
»Nun gut.« Der Abbé hatte vorgegeben, sich der Meinung der Brüder zu beugen, was er in Wahrheit jedoch niemals vorgehabt hatte. Das Reliquiar war geblieben, wie es war, die erwarteten Diebe waren zu spät gekommen und nun hatten sie die Katastrophe.
D´Airelle machte ein abfälliges Geräusch. Nicht zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass ihre Bruderschaft mit einem Fluch behaftet war. Aber es stand ihm nicht zu, seine Befehle infrage zu stellen. Der Abbé war noch immer sein Meister und das durfte er nicht vergessen. Mit einem leisen Seufzer suchte d’Airelle sich einen Platz im Schatten und nahm seine Beobachtungen wieder auf.