Si'mon schlief in dieser Nacht, nicht in seiner heimeligen Bettstatt im Ratshaus seines Volkes, so jedoch in einem eigenen Zimmer in Wolffs Haus. Er empfand sein Daliegen als endlos, bis ihn endlich der erholsame Schlaf ereilte. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab.
Ein goldenes Glitzern am Horizont lenkte seinen über die üppig bewachsenen Getreidefelder gleitenden Blick. Von seinem Standpunkt aus konnte er den Bachverlauf in beide Richtungen überblicken, bis dieser stetig schmaler und auf Grund der ferne aus seiner Wahrnehmung verlief.
Vom Wehrgang, oberhalb des weit offen stehenden Tores, sah er es. Wiederkehrend, fordernd, so einladend, golden und warm. Es zog ihn in seinen Bann, munterte ihn auf zu ihm zu kommen.
Wie hypnotisiert begab er sich zu seinem ersehnten Ziel und mit jedem Schritt, der ihn näher herantrug, fühlte er sich leichter. Die Bürde seines Erbes lastete nicht mehr so schwer und er war frei wirren Gedanken. Eine in goldfarbenen Schimmer umhüllte Frau saß am Bach und spielte mit ihrer linken Hand im Wasser. Es wehte kein Lüftchen, aber ihr Kleid bauschte, mit jedwedem Schöpfen des kühlen Nasses.
Sie summte mit geschlossenen Liedern eine ihm unbekannte Melodie. Er neigte den Kopf lauschend zur Seite und schloss ebenfalls die Augen. Die Töne klang in seinen Ohren seltsam fremd aber beruhigend und in seltsamerweise schön. Er trat näher an die Erscheinung heran und erfuhr ein Lächeln, welches nur eine Mutter ihrem Kind zu schenken in der Lage war.
Er kannte diese Frau nicht, jedoch spürte er keinerlei Furcht. Er fühlte sich so sicher wie nirgends sonst.
»Ich musste lange auf dich warten. Schön, dass du den Weg zu mir fandest, Si'mon.«
Erstaunt geriet seine Stimme ins Stocken. »Wer ... bist du? Ich glaube ... ich kenne dich, doch gesehen hab ich dich nie.«
Sie nickte und reinste Barmherzigkeit strahlte aus ihren tief grünen Augen. »Doch Si'mon, du kennst mich. König der Menschen und Erbträger des lynkischen Geschlechts.«
Seine Gesichtszüge erschlafften, als ihm gewahr wurde, neben wem er da saß. »Du ... du bist Gaya? Mutternatur?«
»Ja, so nennt man mich und mit vielen anderen Namen auch. Si'mon, dein ist die Aufgabe dieses Land von dem Einfluss längst vergangener Zeiten zu befreien. Nur ein Erbe zweier Geschlechter königlichen Geblüts ist dazu in der Lage diesem zu trotzen, denn die gebündelte Macht deines Blutes ist es, welches die Unendlichkeit überdauert.«
Die Brauen zu einem ›V‹ verzogen fasste er sich mit der Rechten an die Stirn und schüttelte verneinend den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht.«
Gaya hob ihre linke Hand, gefüllt mit dem Wasser des Baches und goss es ihm übers Haupt. »Worte reichen nicht aus, um dir zu erklären. So will ich versuchen es zu zeigen.«
Beinahe sofort schlossen sich seine Lieder und was er sah, erschreckte ihn zu tiefst. Szenen aus den verschiedensten Perspektiven huschten an seinem inneren Auge vorbei.
Riesige aus Eisen und Stein erbaute Häuser, die dem Himmel zu trotzen schienen. Monströse metallene Schwingen, die einen donnernden Schall hinter sich herzogen. Boote, aus selbigem Material, die aus kopfgroßen Löchern Feuer spien. Menschen, die mit krachenden Stöcken marschierten und ihresgleichen töteten. Gewaltige Klumpen stürzten pfeifend vom Himmel und verursachten unvorstellbare Zerstörung, wo sie auftrafen. Gebäude zerbarsten, Flächen so weit das Auge erblickte vielen Flammen anheim. Ein gigantischer Pilz, so riesig und doch so schön, erschien am Horizont. Er wuchs von innen heraus und schien nur aus Feuersbrünsten zu bestehen. Ein nahender Sturm und ein ungeahnt heftiger Sog zermalmten, was den Bemühungen vorheriger standhielt.
Plötzlich war es friedvoll und still, beängstigend ruhig und finster wie in tiefster Nacht. Jahreswenden zogen an ihm vorbei und er konnte verfolgen, wie verbrannte Erde erneut ergrünte. Wälder wuchsen und Tiere begannen, sich zu regen.
Er befand sich in einem gänzlich aus Stein gefertigten Raum, in jenem sich Menschen vor Blut und Schmutz starrend drängten. Mehrere aber bei Weitem nicht alle bemühten sich ins Freie, die übrigen blieben, und schufen sich eine Welt unterhalb der Oberfläche. Die, die eine Zukunft unter freiem Himmel anstrebten, trennten sich einander. Einige suchten ihr Heil in kargen Wäldern, andere auf den weiten Ebenen oder im Schutze der Schluchten. Alle jedoch teilten eine Gemeinsamkeit - ihre Körper und Sinne veränderten sich, vielmehr passten sich den neuen Gegebenheiten an.
Jene, die ihr Leben fortan in den Gebeinen der Erde verbrachten, wuchsen kleiner dafür kräftiger. Die in die Wälder gezogenen verbanden sich der Natur, galten als behänden und hellohrig - geborene Jäger.
In den Schluchten mussten sich dort niedergelassene so anpassen, dass sie dem rauen Gelände wie dem kargen Umland trotzen konnten. Ihre Körper wurden stämmig und grobschlächtiger. Einzig jene auf den weiten Ebenen blieben ihren Wuchs treu.
»Alle sind wir eins?«
Ihre Antwort glich einem Hauch. »Ja. Im gewissen Maße ist dem so. Es vergingen unzählige Jahreswenden, in jenem, die Natur ... ich ... Zurückeroberte, was einst der Mensch in seinem Eifer nahm. Es waren ihre eigenen Zeugnisse und Errungenschaften, denen sie letzten Endes zum Opfer vielen.«
»Aber was bedeutet dann diese Lähmung?«
»Wisse Si'mon, dass das, was ihr als Bann oder die graue Lähmung bezeichnet, nur das Leben erstarren lässt, nicht jedoch das des Todes. Auch trotzt dein Körper, dein Blut, jenem Gesetz. Es liegt einzig an Dir, die vergangene Zeit, welche sich erneut versucht zu erheben, zu fesseln.«
»Aber ...«
»Ich bin noch zu ausgezehrt, als dass ich länger bei dir verweilen kann. Geh Si'mon, befreie das Land und das Leben, so befreist du auch mich. Voran jedoch, befreie meinen Bruder und dessen Kinder. Ich spüre ihn vor Schmerz sich winden.«