»Wenn dieses Blut in der Lage ist, den Bann zurückzudrängen, vielleicht hilft es dann auch eurem ... Baum.« Sein linker Mundwinkel zuckte. »Oder dieser Wurzel.«
Hoffnung glomm in den Augen Alanels. Bedächtig griff er zu und brach die Versiegelung. »Mein Volk schuldet euch etwas, wenn dies hier wahrlich funktioniert.«
»Warum? Es ist das Blut Simons und er ist doch auch so etwas wie euer Prinz.«
Alanel schenkte ihm ein herzliches Lächeln und nickte zustimmend. »Ja. So etwas in der Art ist er wohl und noch viel mehr.«
Bevor er begann das Gefäß zu entleeren, wischte er besonnen Erde und Schmutz von den Malen roher Gewalt. Beinahe fürsorglich befreite er die Wundmale und blies peinlichst genau das letzte Körnchen beiseite.
Tropfen für Tropfen träufelte Alanel das kostbare Gut, beginnend des augenscheinlich intakten Geflechts, auf die zerhackte Fläche, doch nichts geschah.
Das Blut zog ein wie Wasser in heißem Sand. Ein zweites Röhrchen wurde ihm aufmunternd gereicht und er griff hastig zu. Kaum das der letzte sämige Tropfen versiegte, begann der Boden zu zucken und zu beben. Aufgeworfene Erde rutschte ins Loch und der Bann zog sich unvermittelt weit hinter ihr Sichtfeld zurück. Es war allein Alanel bestimmt, das pulsierende Leben zu erblicken. Tränen sammelten sich in seinen Augen.
Leichter Glitzer umgab die geschundene Wurzel und zarte hauchfeine Fäden frischen Holzes verbanden sich mit gegenüberliegenden. Es wuchs zusammen, was von Anbeginn zusammengehörte.
Staunendes hauchen entglitt den Reitern und sie entfernten sich von dem Loch, aus dem Alanel vor Freude lächelnd hervorkletterte. Er wischte sich die schmutzigen Finger an seinem Beinkleid. »Es funktioniert, die Ader wächst einander.« Er klatschte wie ein kleines Kind vergnügt in die Hände.
Der Wind wehte seicht und ohne nennenswerte Abkühlung über die weite grasbewachsene Hochebene. Vereinzelter Baumwuchs sorgte für Abwechslung in der sonst abwechslungslos anzusehenden Landschaft.
Den Bach, den Si'mon vor noch nicht allzu langer Zeit überschritt, nahm seinen Ursprung an dem vor ihnen ruhenden See. Dieser wiederum bezog seinen Zufluss von zwei aus den Gebirgskämmen stammenden Bächen. Vor einem Zehnttag machten sie halt an einem Ort, der ihn an sein Zuhause erinnerte. Ein Wasserfall, höher zwar als daheim, stürzte unaufhaltsam in einen mit Rosen bedeckten See.
Er konnte nicht umhin den gesamten Bereich um diesen und den See von dem unsäglichen Grau zu befreien. Er wollte der Schönheit dieses Ortes den Gefallen tun, wieder erblickt zu werden, führte ihm dieser die Liebe seines Herzens ins Bewusstsein.
Die Sonne stand hoch am Firmament und so war er gezwungen, sich mit der Linken die Augen zu beschatten. Mit der rechten hielt er lose die Zügel. Keine Wolke zog am Himmel ihre Bahn.
»An eurer Scharfsicht kommen wir nicht heran. Was seht ihr?«
Si'mon wendete den Blick und musterte seine Begleiter. Eine Zehn in zusammengeklaubten Rüstungsteilen. Jos versicherte ihm jedoch, dass all diese Männer ausgezeichnete Jäger oder Schwertkämpfer sein. Dem Sprecher perlte Schweiß auf der Stirn und ihm war sichtlich unwohl bei ihrem gewagten Ausritt.
»Vor diesem Krieg. Wie war es um dieses Land hier oben bestellt?« Er umging die Frage, wollte er den Unmut nicht weiter schüren.
»Es gab Viehzucht und freilaufende Pferde, die wir je nach Bedarf einritten und in unsere Herden aufnahmen. Auch ist der Name Hochebene etwas merkwürdig gewählt. Wir befinden uns etwa zwei bis drei Zehnlängen oberhalb von Senkenthal. Mit ein wenig Glück stoßen wir auf Überbleibsel der damaligen Höfe. Auch gab es einen kleineren Weiler, nicht umschlossen wie Senkenthal ab groß genug für beinahe fünfzig Menschen.«
Si'mon blickte an dem Sprecher vorbei. Er wies mit seiner Rechten in jene Richtung. »Östlich liegt der Wald?«
»Richtig. So auch die beiden Höfe. Der Weiler jedoch befand sich noch hinter dem See.« Der Jäger zeigte entgegengesetzt seines Blickes.
Unvermittelt ritt Si'mon an und winkte seine Männer mit sich. »Ich möchte mir diesen Ort ansehen. Vielleicht wurde auch dieser verschont und wir können weitere Menschen befreien.«
Widerwillig folgten sie ihm. Sie konnten jagen, sie konnten etwas reparieren sogar mit dem Schwert wenige Hiebe austeilen und abwehren aber eines waren sie nicht - Krieger oder Kämpfer. Obgleich Jos ihnen versucht hatte einzureden eben dies zu sein, beharrten sie auf ihr einfaches Leben.
Sie nährten sich dem ausladenden, beinahe riesig wirkenden See. Das gegenüberliegende Ufer vermochten auch seine lynkischen Augen nicht zu erspähen. Dafür vernahm sein Blick anderes.
Eine Insel auf derer Wesen sich zu bewegen schienen. Er erinnerte sich an den erschreckenden Ausdruck auf dem Gesicht des Nomaden, als Mithrodin durch seinen Leib schnitt.
»Was ist das dort drüben?«
»Ihr meint die Insel?« Der Blick seines direkten Begleiters wurde heiter. »Auf ihr vergnügten sich einst zahlreiche Liebende. Wir kennen diese unter dem Namen Venusinsel.«
Si'mon konnte mit dem Begriff nichts anfangen und verzog die Brauen. »Venusinsel. Mhm.« Ein Schatten bewegte sich am Boden und erregte seine Aufmerksamkeit. Sein Blick hob sich hinauf zum Himmel und erblickte eine Schwinge. Eine überaus Große sogar und sie schrie, während dessen sie stetig über ihren Köpfe ihre Bahnen flog. Irgendetwas musste ihr Augenmerk erweckt haben.
Einer seiner Männer hob ebenfalls den Blick und deutete wissend nach oben. »Das ist ein Aar. Sie leben sonst tief in den Wäldern und kommen wenn überhaupt nur zum Jagen hinaus auf die Ebenen. Wolff muss einen ihrer Horste befreit haben.«
Wolff oder Alanel. Ob er das Haus gefunden hat?
Die Schwinge sank tiefer und Si'mon konnte Einzelheiten erspähen. Sie war nicht auf der Jagd. Sie suchte etwas - oder jemanden. Ihr Federkleid war durchgängig Braun und ihre Brust weißlich gesprenkelt. Ihre Augen glitzerten im Sonnenlicht leuchtend Gelb. Sie strahlten eine Art Intelligenz aus.
Der Aar zog seine Bahnen und schwebte widererwartend mit ausgestreckten Klauen über dem Trupp. Der Anblick war faszinierend. Mit ausgebreiteten Schwingen bemaß das stolze Tier beinahe eine komplette Länge und maß vom Kopf bis zum Schwanz etwa eine Halblänge.
Er konnte sehen, wie der Wind durch die Federn strich und diese sich ihm entgegenstemmten.
»Wie kommen hinüber?«
»Nahe dem Weiler gibt es einen Pfad. Das Wasser ist nur knietief, aber die Pferde können nicht mit. Sie würden einsinken.«
Si'mon nickte. »Dann los. Was auch immer dort drüben ist, es wartet auf sein Ende.«