»Es ist schon erstaunlich, an was man sich alles erinnern kann.«
Der Schreiber sah mit erhobenen Brauen auf und bekam einen vollends entspannten Recken zu sehen. So wie jetzt würde man diesen Mann wohl seltenst zu Gesicht bekommen. Er saß, nein lag beinahe, in seinem hochlehnigem Stuhl. Die Beine ausgestreckt und die Stiefel nur noch halb am Fuß. Seine Augen hielt er geschlossen. Kleine Fältchen zeigten in sich in den Augenwinkeln, als er die Lippen zu einem Lächeln hob.
Die Düfte im behaglichen Raum mischten sich und so war es ihm kein Wunder, das sich die Glieder Rongards entkrampften. Der Geruch von frisch verbrannten Fichtenzweigen vermengte sich mit den Aromen heißen Apfeltees mit Zimt.
Er griff zu seinem Schreibbrett, auf welchem sauber ausgebreitetes Papier lag, und tunkte eine lange gräuliche Feder in ein Tintenfässchen.
»Erzählt einfach, was ihr seht, Ser.«
Leicht lüpfte sie die linke Braue des Gegenübers, doch er schwieg sich aus, was dem Schreiber schmunzeln ließ.
Rongard schüttelte langsam, kaum merkbar, den Kopf. Dessen Zungenspitze befeuchtete die Lippen und tief sog er Luft in seine Lungen. »Wir lebten damals auf dem ... Land.«
»Auf einem Hof?«
Er nickte zustimmend. »Mmh, ja. Ich weiß gar nicht mehr, wem dieser weit reichende Landstrich gehörte. War es eine Grafschaft, ein Herzogtum? Ich kann mich nicht entsinnen.«
»Wie war es so auf eurem Hof?«
»Oh. Es war alles andere als schön, dort ...« Der Schreiber sah abermals auf und runzelte die Stirn, hielt sich jedoch mit weiteren Fragen bedeckt und wollte nicht unterbrechen. »... eher, verfallen.«
Der Recken sprach leise, doch seine Stimme klang seltsam kindlich. Erinnerungen, die er glaubte, unlängst vergessen zu haben. Ein Leben, fernab aller hiesigen Sorgen und Abenteuer. Aus den Abgründen seines Geistes stiegen verloren geglaubte Empfindungen und Bilder der Vergangenheit empor. Seine Gesichtszüge zeugten von Zufrieden- und Gelassenheit. Die Hände lagen ruhig und kraftlos auf seinem Schoß.
»Wir lebten in einem zweistöckigen Haus. Mein Vater war ein ... wie sagt man ... Alleskönner? Wenn er nicht auf dem Felde stand, dann schwang er einen mächtigen Hammer in seiner kleinen Schmiede. Er konnte wirklich alles selber reparieren. Er war toll und Mutter liebte ihn dafür um so mehr.« Ein leichtes Schnauben entwich seiner Nase, als er wohl erheitert ein Bild in seinem Kopf ersann. »Immer dann, wenn sie backte, blieb Teig übrig. Es war stets so gewesen; ich kann gar nicht sagen, warum. Vaters Hand suchte komischerweise ausgerechnet zu solchen Tagen, wenn es am sinnlichsten duftete, nach genau diesem Rest.«
»Was ist daran so lustig«, erkundigte sich der Schreiber, da sein Recken die Szene augenscheinlich besonders mochte.
»Wisst ihr, dieser zu einem Klumpen geformt, lag immer in Reichweite des Fensters und dieses stand, genauso oft wie sie backte, offen. Vater hielt sich stets unterhalb dieses verborgen, lediglich sein muskulöser Arm war zu sehen. Tastend suchten seine, von der Arbeit schmutzigen, Finger dann den Teigrest.«
»Die Beziehung zu euren Eltern war herzhaft wie innig, nehme ich an?«
»Oh ja, das war sie. Ich musste helfen, klar. Anders ging es ja nun nicht. Ich ging Vater zur Hand aber auch Mutter. Gemeinsam säten wir Getreide und holten es nach der Reife wieder ein. Droschen die Ären und mahlten Mehl. Selbst auf dem Dach und der Veranda durfte ich bei schweren Arbeiten mich beweisen.«
»Oh, bestand denn euer Leben nur aus harter Verrichtung?«
»Nein. Das ist Unfug. Ich war doch noch ein Kind und frei es so lange auszukosten, wie es anhielt.«
»Verstehe.«
»Ich spielte und turnte vor dem Haus. Kletterte in der großen Scheune und versteckte mich in den Ruinen umstehender Gebäude.«
Rongard berichtete von dem Umfang seines Heimes und so erfuhr der Schreiber, dass es sich offensichtlich nicht nur um einen Gutshof handeln konnte, sondern um einen ehemaligen Weiler, den man gedachte sich selbst zu überlassen.
Viele Helfer, die um die Felder herum oder in bemessenen Abständen samt Bettsatt und Herd einen eigenen kleinen Bereich beaufsichtigten, unterstanden seinem Vater. Gemeinhin beschrieb der Schreiber diesen als so eine Art Großbauern, bei dem alle Dinge auf dem Land des Eigners zusammenliefen.
»Ich hatte damals nicht die Sorgen und Abenteuer zu bestehen, wie zur heutigen Zeit. Mich belasteten weder Hunger, Kälte noch Einsamkeit. Auch kein Krieg mit solchen ... Wesen, wie die Winterdämonen.«
»Aber ... ihr kanntet Auseinandersetzungen, die mit der Waffe ausgetragen wurden?«
»Ich müsste lügen, wäre dem nicht so. Ich war zwar ein Bengel, mit genügend Unfug im Kopf, aber es wäre vermessen zu glauben, dass die Kriege rundherum an mir unteilbar vorübergingen. Spielerisch lernte ich die Grundprinzipien des Kampfes.«
Die Aufmerksamkeit des Schreibers waren geweckt. In diesem Moment könnte es so weit sein, den Ursprung des Geschickes und Umgang mit dem Schwert zu erfahren. »Habt ihr Erinnerungen an diese Zeit? Was brachte euch euer Vater bei?«
»Mmh. Mein Vater brachte mir nichts dergleichen bei. Er verabscheute den Krieg und alles, was damit zusammenhing.«
»Aber ...«
»Mein Onkel lief mit mir durch den Wald. Wir sprangen über Bäche, umgeknickte Bäume und Wurzeln. Ich durfte, sobald wir außer Sicht von Mutter und Vater waren, sogar an der Steilwand klettern.« Abermals glitten Fältchen über seine ansonsten glatte Züge. »Mit Stecken hieben wir aufeinander ein. Stechen, schlagen, schwingen ... es war anstrengend aber zunehmend lustig.«
»Er hat euch hart rangenommen?«
»Nein, natürlich nicht. Es machte riesigen Spaß. Mit der Zeit lief ich stetig schneller und fiel kaum noch hin. Sprang höher und weiter als bei meinen ersten Versuchen. Wo ich anfangs allzeit schmutzig und mit zerschrammten Knien und Händen nachhause kam, nahmen diese Umstände immer mehr ab. Zur Freude meiner Mutter.«
Jedes Mal wenn Rongards Onkel ihn Heim brachte, war irgendetwas mit dem Jungen. Es waren entweder aufgeschlagene Knie, zerschundene Hände oder ein zerkratztes Gesicht. Wenn all dies nicht war, standen seine Kleidungsstücke vor Schmutz und mussten über Nacht einweisen. Oftmals fand sein Vater blaue Flecke auf Beinen, Armen, Rücken und Brust. Er wollte seinem Vetter schon an den Hals, als er diese Blessuren wiederholt bemerkte. Es war der Junge selbst, der ihn davon abhielt und erklärte, dass er mit ihm die Klinge kreuzte.
»Klinge? War es eben nicht noch ..«
»Verzeiht. Natürlich war es ein Stecken, aber als kleiner Junge sah man vieles ... anders. Ich kletterte auch nicht über Baumstämme oder sprang über Bäche. Es waren Mauern und Zinnen. Hechtete von Dach zu Dach, um den Feind zu bekämpfen.«
»Aber wenn dieser Mann, euer Onkel, euch immerzu verdrosch. War er denn so lieblos?«
Der Recken überlegte scheinbar eine Zeit lang, dann verneinte er kopfschüttelnd. »Nein. Er bereitete mich auf mein Leben vor. Eines, welches ich bedurfte, um zu überleben. Ich wuchs heran und die Tage vergingen ...« er stockte. Etwas brachte ihm zum Nachdenken. Sein Brauen verzogen sich und seine Wangen begann, im tackt der Muskulatur, zu zucken.