Krampfhaft mahlten seine Zähne aufeinander, als ihn Bilder einer Vergangenheit einholten, an jene er sich augenscheinlich nicht erinnern wollte. Was sollte ein betagter Schreiber da zu sagen? Gab es überhaupt lebende Wesen, die nicht mit Taten oder Erinnerungen zu hadern hatten, welche sie lieber in die Endlosigkeit, in ein Vergessen ohne Wiederkehr, verbannen würden?
Die Stimme des Schreibers glich seiner inneren Unruhe. Besseren Wissens zwang er sich einfühlsam zu klingen, kannte er die Geister der Lebensbahnen. Ihn besuchte der Alb zumeist nachts und diese Geschehnisse wollte er nicht teilen. Seinem Gegenüber musste es ähnlich gehen.
»Was seht ihr?«
Die Antwort klang gepresst, so als würde die Worte zwischen den Zähnen hindurchgezwängt. »Helle tanzende Lichter. Sie sind überall und ... und es ist so heiß.«
Sich bewegender Lichtschein? Der Schreibstift des Alten neigte sich nieder. Der Mann musste nicht lange überlegen, welcher Geist ihn da zusetzte. Er trat hinüber zu Rongard und legte ihm behutsam die Hände auf die Oberarme. »Ser. Löst euch von dem Anblick und tretet aus der gefahrvollen wie schmerzhaften Umgebung heraus. Nichts kann euch etwas anhaben, ihr seid hier und weit aus dem Geschehen entfernt.«
Die Worte schienen den Recken zu erreichen. Seine Lunge bemühte sich, einen gewohnten Rhythmus anzustreben und seine Verkrampfungen schwanden zusehend.
»Betrachtet das Geschehen aus der Ferne, dort wo euch die Flammen nichts anhaben können«, drang er weiter in den Recken ein. »Ja, genau. So ist es gut, Ser. Seid ihr in Sicherheit? Was seht ihr?«
Rongards Finger spielten mit der Lehne seines Stuhles. Er kämpfte gegen seine innere Verspannung an. »Es ist tiefste Nacht, als mich etwas weckte. Ich kann nicht einmal sagen, was es war. Dieses unentwegte Flackern des Feuers, das ferne knistern und brausen ... ich weiß es nicht mehr. Soweit das Auge reichte, brannte es rings um unser Heim herum. Sie hatten die Felder in Brand gesetzt, wohl wissend, dass das Volk die Ernte dringend benötigte.«
»Wie schrecklich und unmenschlich gleichermaßen«, behauptete der Schreiber. Er schien es wahrhaftig und ehrlich zu meinen, was er sprach. Sein Mund stand leicht offen und ließ den Blick frei auf etliche Lücken in seinem Gebiss. Deutlicher hingegen war sein fasungsloser Ausdruck. »Wer tut solch Gräueltaten? Wurde deine Heimat auch durch Dämonen heimgesucht?«
Rongard schluckte und suchte in dessen Worten nach so etwas, was er als Hohn beurteilen könne. Weit gefehlt und so nickte er Indies. »Dämonen. Ja, so könnte man diese Menschen wohl nennen.«
»Es waren euresgleichen? Unvorstellbar.«
»Und doch war es so und sogar viel schlimmer. Ihr ahnt gar nicht, wie abgrundtief boshaft unseresgleichen sein kann.«
Der Alte schüttelte ungläubig den Kopf. »Noch ...«
»Ich erinnere mich an ... Schreie. Nein, sie riefen.«
Der Schreibstift kratzte unaufhaltsam über Papier, als der Zuhörer jedes Wort, das der Recken erzählte niederschrieb. Und so entstanden Buchstaben für Worte. Derer für ganze Sätze, die wiederum mehrere Seiten füllten.
Es muss für den Jungen, der der Maestro einst war, eine schreckliche Erfahrung gewesen sein. Mitten in der Nacht flammte das Umland auf. Nahrungsmittel, welche benötigt wurden, fielen den Flammen anheim. Verursacht von Personen, denen die Schicksale anderer egal schienen. Rongard berichtete dem Betagten, dass diese Männer nach seinem Vater riefen.
»Verräter«, brüllten sie immerzu, auch wenn dem Knaben nicht einfiele, aus welchem Grund sie es taten. Allesamt waren sie gekleidet wie Soldaten. Er beschrieb deren Machart und der Schreiber entschied sich für Söldner. Angeheuerte Meuchler, die für Sold viele Dinge vollbrachten und Gerüchte in Umlauf brachten, die weder der Wahrheit noch den Tatsachen entsprachen.
Rongards Vater musste ein Gegenspieler von jemandem gewesen sein, der sich seiner Machtstellung gefährdet sah. Der Junge kletterte vor Furcht aus dem Fenster seiner Kammer und verbarg sich in der angrenzenden Scheune. Von dort konnte er sehen, dass so weit das Auge reichte, jeglicher Schritt der Felder brannte. Er wusste, es würde nicht lange dauern können, bis all die vielen Arbeiter des Umlandes mit Schaufeln, Rechen und allerlei Hilfsmittel gegen die Flammen angingen.
Die Männer schlugen zu seinem Entsetzen nicht nur seinen Vater, auch seine Mutter zogen sie an den Haaren aus dem Haus und warfen sie rücksichtslos zu Boden. Der Schreiber glaubte jeden einzelnen Hieb, den man den beiden verabreichte spüren zu können. Der Recken beschrieb es, als würde es im Hier und Jetzt geschehen. Wut wallte in seinem Inneren.
Die Männer ließen erst von ihren Opfern ab, als sie aus der Ferne die mahnenden und koordinierenden Rufe der Helfer des Bauern vernahmen.
Rongard traute sich nicht aus seinem Versteck. Zu groß war dessen Furcht. Einer der Handlanger fand ihn, zusammengekauert hinter einem ballen Stroh. Er hatte, so habe man es ihm erklärt, am ganzen Leib gezittert und schrie fortwährend, als man ihn behutsam nach draußen trug.
Der Junge verlor in dieser Nacht nicht nur seine Eltern. Auf den Resten eines der angrenzenden Felder fand ein Helfer die verkohlten Überbleibsel eines Mannes - Rongards Onkel. Einzig einen zerknüllten, kaum noch zu entziffernde Nachricht konnte man seinem Stumpf, was einst eine Hand gewesen war, entnehmen. Darauf zu lesen, der Name eines Verrückten.
Dem Jungen erklärten sie, dass die Person hinter diesem jemand sei, der fernab der Reiche lebte und im entferntesten Sinne zu seiner Familie gehöre. Angeblich lebe er auf einer kleinen Insel, umgeben von allerlei Tieren. Dieser würde kommen, um ein Versprechen einzulösen.