Der nächste Morgen wartete mit Sonnenschein auf Dallas, was gerade in dieser Gegend der Welt eine echte Seltenheit war und noch lange keine Garantie für insgesamt sonniges Wetter den ganzen Tag über. Gut gelaunt und halbwegs ausgeschlafen wickelte er sich in die Bettdecke und ging an sein Notebook. Er begann damit Orte und Sehenswürdigkeiten zu googeln, die für ihn vielversprechend aussahen. Dann wieder kam ihm der Gedanke, dass es nicht die Art von Ort war, die er eigentlich suchte, wenn er sie schon googeln könnte. Vielleicht fände man unbekannte Orte nur, wenn man gezielt die leeren Flecken von GoogleEarth aufsuchte, oder am Ende eines Tages einfach irgendwelche Wege einschlug, die womöglich nur mit dem Allradwagen zu bewältigen waren. Das Letztere gefiel ihm von der Idee her. Wer weiß, was man da finden könnte. Als nächstes checkte er sein Handy. Colin hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. Dallas war noch nie der Typ gewesen, der nach dem Schlussmachen nicht wirklich Schluss machte. Colin offenbar schon. Aus reiner Neugier hörte er sich die Nachricht an, nur um sich gleich darauf zu ärgern. Colin war offensichtlich betrunken, im Hintergrund lief irgendwelche Partymusik und irgendjemand, eine männliche Stimme, sagte, es sei keine gute Idee, der Anruf. Colin hinterließ trotzdem ein paar wüste Beschimpfungen. Duhh biss so ein blööder Aarsch, fikkk dich. Glaub jaaa nicch, dass duu nochmaal bei mir landen könnntesst, duuu herzzzloses Monsster, duuu beziehungsgestööörter Schotten-Aarsch… Dallas drückte den Rest weg und löschte den Kontakt. Dann überlegte er kurz, ob er sich bei Andy melden sollte. Sexy Andy. Er könnte fragen, ob er gut zur Arbeit gekommen war. Nein. Er würde sich mit ihm verabreden, wenn sie wieder nach Inverness kamen. Und er war kein beziehungsgestörtes, herzloses Monster. Er war auf der Suche. Zehn Minuten später war er beim Frühstück mit dem Team.
Der Tag verlief so, wie sie es sich vorgenommen hatten. Janice briefte wie immer -zu lange, dann schlug Robert vor, das Fyrish Monument, eine sehr spektakulär auf einem Hügel gelegene Ruine, aufzusuchen. Damit waren alle einverstanden. Sie würden dorthin wandern müssen, wusste Robert, was etwa zwei Stunden dauern würde. Janice reagierte nicht begeistert. „Zwei Stunden?“ „Wo bleibt dein Sinn für’s Abenteuer?!“ Tariq war offenbar ganz versessen darauf, Janice auf einem zweistündige Fußmarsch zu Diensten zu sein. Sie schaute noch immer kritisch und schien zudem auf eine Reaktion von Dallas zu warten. „Du solltest dir vorher ein paar feste Schuhe besorgen, die auch Regen aushalten“, schlug er vor. „Bist du immer so- praktisch?“, gab sie zurück und Dallas wusste nicht, ob das eine Kritik oder Einsicht oder gar zweideutig war. Sie schaute eher amüsiert als angenervt und wandte sich dann lächelnd an Tariq. „Wie wär’s, wenn du mich begleitest?“, bot sie an. Das war, soweit er beurteilen konnte, ein Punkt für Tariq. Dass es tatsächlich weibliche Taktik und der Versuch war, ihn eifersüchtig zu machen, kam ihm nicht in den Sinn. Nach dem Aufbruch sollte Robert erst zum nächsten Outdoor- Laden fahren, was bedeutete, wie Janice durch googeln herausfand, dass sie zurück nach Inverness müssten. Dallas fand das auch okay. Dann würde er allein zu diesem Monument wandern und sie könnten ihn dort abholen, wenn sie aus der Stadt zurück waren. Danach konnten sie immer noch weiter fahren bis zum Gasthof am Fuße des Ben Wywis, der auf der Route der BBC Locations lag. Robert sah nicht gerade sehr angetan aus von der Vorstellung, Tariq und Janice ohne Dallas in die Stadt zu fahren, aber die Vorstellung von Janice ohne feste Schuhe, schien ihm noch weniger zu gefallen. Als Dallas letztendlich am Ausgangspunkt des Wanderweges zum Fyrish Monument ausstieg, ließ Robert ihn wissen, dass er gut auf sich aufpassen solle und er selbst mit den Turteltäubchen in fünf Stunden zurück wäre. Dallas grinste, winkte noch einmal in den Wagen und machte sich dann auf. Allein. Das würde ihm sicher guttun. Er hatte einen kleinen Daypack dabei und seine Kameraausrüstung in einer Tasche und irgendwie freute er sich so richtig auf den Anstieg und das schottische Wetter, egal wie es weitergehen würde.
Es dauerte keine zwei Stunden, dann war er an dem Monument angekommen. Es war ein recht hohes, mächtiges Mauerwerk und er vermutete, dass es wohl die Reste einer alten Kathedrale wären. Allerdings sah es dafür, wenn man näherkam, zu neu aus und es gab auch keine weiteren Mauerreste. Dallas setzte sich erstmal für ein Picknick auf einen Felsen und genoss die Aussicht. Die Weitsicht war phänomenal und die endlose Landschaft um ihn herum gab ihm zum ersten Mal seit dem Anfang ihrer Reise das Gefühl wirklich in Schottland angekommen zu sein. Er atmete tief durch und genoss mit jedem Atemzug die frische Luft. Dann holte er seine Kamera heraus und begann zu fotografieren. Zur einen Seite sah man die Förde von Cromarty, deren Wasser das Licht reflektierten, zur anderen Seite sah man in der Ferne die Erhebung des Ben Wyvis, der aussah, als läge dort schon etwas Schnee. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte Dallas, dass er nicht mehr allein war mit seiner Kamera. Eine Frau in einem roten Anorak hatte seinen Picknickplatz eingenommen und wartete offenbar ab, bis sie ihm nicht mehr ins Bild laufen würde. Sie hatte ein paar Walking-Stöcke dabei und einen Collie an der Leine. Der schien sich für Dallas‘ Rucksack zu interessieren. „Danke für’s Warten“, rief Dallas ihr zu, „ich bin fertig.“ Sie nickte und ließ den Collie von der Leine, der jetzt für sich das Monument erkundete. Dallas ging zu der Walkerin. Als er näherkam, fiel ihm auf, dass sie nicht mehr jung war und so fand er es ganz erstaunlich, dass sie allein mit dem Hund hier unterwegs war. „Sie sind wohl keine Touristin, Ma`m.“
„Wie kommst du denn darauf, Laddie?“
„Nun, sie haben es nicht eilig, sind allein hier oben mit dem Hund.“
Sie nickte. „Bist du ein Tourist?“
Gute Frage. „Ich denke, nicht wirklich. Ich bin beruflich hier, komme aus Edinburgh.“ Er überging den Teil, wo er jahrelang mit verschiedenen Typen in London lebte.
„Weißt du, was das ist?“ Sie überging irgendwie auch gerade irgendeinen Teil und zeigte auf das Monument. Er schüttelte entschuldigend den Kopf. „Ich dachte, Reste von einem Kloster oder so, aber keine Ahnung.“
Sie lächelte wissend. „Hab ich mir gedacht. Nun, wenn du aus der Gegend wärst, würdet du wissen, dass es aus dem achtzehnten Jahrhundert ist, aus der Zeit der Vertreibung aus den Highlands.“
„Was hat es damit zu tun?“, fragte Dallas, der jetzt neugierig war.
„Nun, der Laird des Munro- Clans hat es bauen lassen, damit die vom Land vertriebenen Pächter Arbeit und Brot hatten.“
„Das ist `ne schöne Geschichte. Bestimmt hat er damit vielen geholfen.“
„Das kann man sagen, er soll sogar nachts Steine vom Berg heruntergerollt haben, damit die Arbeiter sie wieder hinaufschaffen konnten und so länger Arbeit da war.“
„Lassen Sie mich raten, Sie sind vom Clan Munro?“
Sie lachte. „Na sicher doch, Luvvie.“
Dallas lachte auch. „Erzählen Sie die Geschichte jedem hier oben?“
„Hältst du mich für `ne Reiseführerin?“ Nun, das tat Dallas ganz gewiss nicht.
„Nein, dafür sind Sie zu gut ausgerüstet,“ sagte er und deutete auf ihren warmen Anorak. Sie fand das zum Lachen, auch wenn sie von dem Zusammenhang nichts wissen konnte.
„Ich erzähle so eine gute Geschichte nur, wenn sie jemand nötig oder verdient hat.“ Sie schaute ihn prüfend an. Er hörte auf zu lachen und wurde nachdenklich.
„Was ist mit mir? Habe ich die Geschichte nötig oder verdient?“, hakte er dann ein und suchte ihren Blick.
Sie legte den Kopf etwas zur Seite, als sie ihn genau betrachtete. „Beides, denke ich.“ Wie sie das sagte und wie intensiv sie ihn dabei musterte, kam ihm jetzt beinahe unheimlich vor. „Was meinen Sie damit?“
„Zeig mir deine Hand.“ Oh bitte …das war nicht ihr Ernst!
Sie schaute ihn noch immer an, also gab er nach und hielt ihr seine Hand hin. Sie begann sofort damit, die Linien darauf mit ihrem Zeigefinger nachzuzeichnen und schloss die Augen. Dallas blickte sich verstohlen um. Entweder um zu schauen, ob nicht plötzlich ein Zuschauer zu diesem peinlichen Schauspiel gekommen war, oder um ich zu vergewissern, dass da nirgends eine versteckte Kamera war. Der Collie setzte sich neben ihn und schaute zu. Das war … seltsam. Dann begann sie zu reden.
„Du warst in der Fremde und kehrst nun zurück …“ Dallas erschrak. Wie konnte sie das wissen?
„Du findest keine Ruhe, da ist etwas, was du versäumt hast …“ Sie konnte doch nicht wirklich wissen, dass er seinen Eltern nicht gesagt hatte, warum er sie verlassen müsste?
Er hielt die Ungewissheit nicht aus. „Was habe ich versäumt?“
„Du wolltest nicht lügen, also hast du geschwiegen …“ Fuck.
„Hören Sie auf, das ist doch alles Unsinn …“
Sie hielt seine Hand fest. „Kein Unsinn! Eine Warnung! Du wirst finden, wonach du suchst, bald schon, aber nimm dich in Acht vor … dem Mond …“
„Was, wieso der Mond?“ Was könnte ihm der Mond tun? Ihr Atem veränderte sich und schien unter den Augenlidern zu zucken, so als sähe sie etwas wie im Traum oder Alptraum.
„Der Blonde war nicht der, den du suchst … du musst auf den Schwarzen warten … er wird sich dir zeigen …“
Dallas hielt den Atem an. Sie prophezeite ihm doch nicht wirklich seine Zukunft? Der Blonde, war das Colin?
„Was wissen Sie über ihn?“ Wer sollte der Schwarze sein? Doch nicht Tariq. Andy war nicht schwarz.
Seine Frage riss die Frau aus ihrer Trance. Sie schlug blinzelnd die Augen auf. „Wie? Was war das?“
„Ich habe gefragt, was Sie über ihn wissen.“
„Über wen?“
Offenbar konnte sie sich nicht an ihre Prophezeiungen erinnern, wenn sie vorbei waren oder unterbrochen wurden. Er ärgerte sich jetzt, weil er so voreilig gewesen war.
„Sie erwähnten jemanden.“
„Tut mir leid, ich weiß nicht mehr. Ich hoffe, ich habe dir nichts Ungutes vorhergesagt. Ich halte normalerweise den Mund, wenn ich nicht sicher bin, ob es was Gutes ist.“
„Oh, ich denke, es war etwas Gutes. Ich glaube, es ging um … Liebe.“
„Wie schön, dann hoffe ich, dass du sie bald findest, Laddie.“
Sie. Ganz klar, sie hatte es vergessen.
Der Collie ging jetzt zu ihr und legte seinen Kopf in ihren Schoß. „Oh, Bonny hat keine Geduld mehr. Ich glaube, wir sollten weiter.“
Dallas nickte. Er reichte ihr ihre Stöcke an, dann verabschiedeten sie sich. „Danke nochmal für alles. Die Geschichte vom Monument und auch sonst.“
Sie lächelte und machte sich mit ihrem Collie auf den Weg. Dallas verfiel in Gedanken. Gab es das wirklich? Ladies, die in die Zukunft sehen? Menschen, die vom Schicksal füreinander bestimmt sind? Er kramte noch einen Schokoriegel aus dem Daypack, dann machte er sich auch auf den Rückweg. Bestimmt würden die drei anderen schon auf ihn warten und ganz sicher wären sie auch von dem Monument begeistert. Den Teil mit der Seherin würde er erstmal lieber verschweigen.