Dieser eine Moment des Zögerns genügte der panischen Yukiko, um ihre Angreiferin zurückzustoßen. Sie wusste nicht, was die Aufmerksamkeit der Frau wohl abgelenkt haben mochte – und eigentlich war ihr das auch vollkommen gleich – Tatsache war, dass dieser glückliche Umstand ihr die Gelegenheit bot, dieser mit aller Kraft, die sie aufwenden konnte, das Knie in den Bauch zu rammen, sich loszureißen und einen erneuten Fluchtversuch zu starten.
Adrenalin rauschte durch Yukikos Körper, schaltete vorerst jegliches Schmerzempfinden aus, ermöglichte es ihr, ihre verbliebenen Energiereserven zu mobilisieren. Ohne wirklich auf ihre Umgebung zu achten, drehte sie den noch immer im Loch steckenden Schlüssel um, riss die Tür auf und stürzte in den dunklen Flur hinaus. Das Blut rauschte in ihren Ohren, der erneute Energiestoß beflügelte sie regelrecht. Nu ein einziger Gedanke dominierte Yukikos Verstand:
Sie musste so schnell wie möglich fliehen, egal wohin. Die Zukunft spielte in diesem Moment keine Rolle, denn wenn es ihr nicht gelang, dieser Frau zu entkommen, dann würde sie mit ziemlicher Sicherheit keine mehr haben.
Wie fremdgesteuerte rannte Yukiko durch die Gänge. Sie wagte es nicht, zurückzuschauen, zu sehr fürchtete sie sich davor, womöglich die fremde Frau oder gar noch weitere Verfolger zu erblicken. Und obwohl sie nicht wusste, welchen Weg sie nun eingeschlagen hatte, war es ihr so, als würde sie jemand anleiten, ihr den richtigen Pfad weisen; instinktiv bog sie in die 'richtigen' Seitenflure ein, schaffte es, jeglichen Hindernissen auszuweichen, ungesehen zu bleiben.
Nach einiger Zeit – dem Mädchen kam es wie eine Ewigkeit vor – spürte sie, wie ihre Kraft nachließ. Ihre Beine wurden verkrampften sich und wurden unsäglich schwer, ein schmerzhaftes Stechen ergriff ihre linke Seite. Sie wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Angestrengt nach Luft schnappend stützte sie sich an der Wand ab, versuchte, ihren Atem wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Abgesehen vom rasanten Pochen ihres Herzens und ihrem röchelnden Atem war Yukikos Umgebung von einer absoluten, geradezu unheimlichen Stille erfüllt.
Hatte sie ihre Verfolgerin abgehängt? Es schien beinahe so zu sein... Trotzdem konnte und wollte sich Yukiko noch nicht gestatten, sich deswegen in falscher Sicherheit zu wiegen – die Situation konnte in einem zum anderen Moment schließlich ins Gegenteil umschlagen.
Sie schloss ihre Augen und rieb sich ihre schmerzhaft pochende Stirn; sowohl ihre Stirn als auch ihre Hände waren heiß, der Schweiß lief ihr unangenehm am Rücken hinunter. Soviel körperliche Betätigung wie in dieser Nacht hatte sie in ihrem gesamten Leben noch nicht leisten müssen.
Sie hatte ihr Limit nicht nur erreicht, sondern auch weit überschritten. Doch noch war nicht an Ruhe zu denken; jetzt, da sie wenigstens ihre Verfolger abgeschüttelt hatte, musste sie unbedingt Katsuya, Riho und ihre Mutter finden und danach schnellstmöglich aus diesem unseligen Anwesen verschwinden.
Yukiko schlug mühsam ihre Augen auf, wollte sich gerade schon zwingen, weiterzugehen – als ihr auffiel, dass etwas nicht stimmte:
Ein eigenartiges, rötliches Zwielicht schien den Flur, in dem sie sich gerade befand, zu erfüllen. Es erinnerte Yukiko entfernt an die Morgenröte, doch dieses Licht wirkte viel düsterer, irgendwie unheilvoll. Und überhaupt, war es gerade eben nicht noch dunkel gewesen? Die Sonne jedenfalls sollte noch nicht aufgegangen sein!
Das Mädchen blinzelte – sicherlich war dies nur eine Täuschung, die durch ihre Erschöpfung bedingt war – doch als sie ihre Augen wieder öffnete, hatte sich nichts geändert.
Was war hier nur los? Wurde die gesamte Situation etwa zu viel für sie? Nun, verwunderlich wäre es jedenfalls nicht, wenn man bedachte, was sie bisher alles hatte durchmachen müssen... Vielleicht wäre es am Besten, wenn sie dieses seltsame Zwielicht einfach ignorierte und sich stattdessen lieber wieder auf die Suche nach ihren vermissten Begleitern und ihrer Mutter begab; daran ändern konnte sie sowieso nichts.
Yukiko wandte sich wieder dem Flur zu, der vor ihr lag und erblickte dann auf einmal eine blasse, helle Gestalt, die einige Meter von ihr entfernt erschienen war.
Sie trug einen schlichten, schneeweißen Yukata – ähnlich dem, den Yukiko selbst trug – das helle, braune Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wobei sich einige der vorderen, kürzeren Strähnen aus ihm herausgelöst hatten. Das auffälligste war jedoch die graue, prunklose Maske, die das Gesicht der Gestalt vollständig bedeckte; sie wies keinerlei Verzierungen oder Ornamente auf, lediglich zwei Löcher für die Augen waren in sie hineingebohrt worden.
Der Statur nach zu urteilen handelte es sich bei der Erscheinung um einen jungen Mann. Er war recht schlank, geradezu zierlich, doch das war nicht das, was Yukikos Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: Viel eher war es die Tatsache, dass er von einem hellen, geradezu andersweltlichen Schein erfüllt zu sein schien. Sein gesamter Körper erschien konturlos und fern, so, als würde man ihn durch einen Nebelschleier hindurch betrachten.
Yukiko starrte die Erscheinung wie gebannt an; einerseits schrie alles in ihr danach, schnellstmöglich das Weite zu suchen, doch auf der anderen Seite hatte diese Gestalt etwas an sich, das sie faszinierte, etwas, das ihr sagte, dass der, der dort vor ihr stand, keine Bedrohung für sie darstellte.
Aber wer war er? Der, dessen Stimme sie zuvor gehört hatte? Konnte er gar Hikaru sein?
Yukiko trat langsam, mit taumelnden Schritten näher, ihre Hand nach der leuchtenden Gestalt ausgestreckt.
„Wer... bist du...?“, fragte sie abgehackt.
'Du bist diejenige, die meine Rufe gehört hat', entgegnete er; seine Stimme klang tatsächlich wie Hikarus.
„Bist... bist du es...?“
Kaum hatte sie diese Frage gestellt, verpasste sich Yukiko einen geistigen Tritt; es war unmöglich dass diese Person, Erscheinung, was auch immer er sein mochte ihr Bruder war! Gut, er hatte dieselbe Stimme und auch die gleiche Haarfarbe, doch davon abgesehen...?
Hikaru war ein normaler Mensch und kein geisterhaftes Wesen!
Sofort zog Yukiko ihre Hand zurück und wich hastig einige Schritte nach hinten. Was tat sie da eigentlich gerade?
'Ich bin der, für den du mich hältst, derjenige, der dir in deiner Not beigestanden hat.'
Dass er ihr geholfen hatte, konnte Yukiko nicht von der Hand weisen – ohne seine Anleitung wäre sie wahrscheinlich schon längst geschnappt worden. Aber was mochte er sich dadurch nur von ihr erhoffen? Aus reiner Nächstenliebe wird er es gewiss nicht getan haben...
Jetzt, wo sie darüber nachdachte, glaubte Yukiko sich daran zu erinnern, dass diese Gestalt sie zuvor um ihre Hilfe gebeten hatte, dass sie ihn finden und retten solle.
„Warum ich...?“, fragte sie mit leiser, brüchiger Stimme.
Der Maskenträger ging langsam auf sie zu. Seine Schritte waren leicht und vollkommen lautlos, seine Bewegungen fließend. Yukiko wäre am liebsten noch ein Stückchen weiter zurückgewichen, doch sie konnte nicht – ihr gesamter Körper fühlte sich mit einem Mal so starr und unbeweglich an, so, als wäre sie in einer Art Paralyse gefangen.
'Du hast mir geantwortet und nun bin ich hier. Ich werde bei dir bleiben, so lange, bis du mich gefunden hast.'
Er kam direkt vor ihr zu stehen und schien sie stumm zu mustern. Yukiko hingegen starrte lediglich die Maske an, die es ihr unmöglich machte, auch nur den geringsten Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, die jegliche Regung verdeckte. Die Präsenz dieser Gestalt fühlte sich so flüchtig und ungreifbar wie ein sanfter Windhauch an, wie etwas, das zwar existierte doch nicht wirklich da war.
Yukiko war sich sicherer denn je, dass ihr Gegenüber eine Art Geisterwesen sein musste; vielleicht die Seele eines Toten, ein Naturgeist oder gar ein Dämon. Die Frage, warum sie in diesem Falle überhaupt in der Lage war, ihn wahrzunehmen, stellte sie sich gar nicht mehr; diese Diskussion hatte sie schon zuvor mit sich geführt und war zu keinem Ergebnis gekommen.
Aber in diesem Falle konnte er doch unmöglich ihr Bruder sein...
„Wer... bist du eigentlich...?“, brachte sie schließlich heraus.
'Namen sind kaum mehr als Schall und Rauch', bekam sie lediglich zur Antwort. 'Sollte ich jedoch einen haben, dann ist er dir bereits bekannt, Yuki.'
...Yuki.
Nein, wer auch immer er sein mochte – er hatte kein Recht dazu, sie so anzusprechen. Allerdings wagte sie es nicht, ihm zu widersprechen oder gar zurechtzuweisen.
Die geisterhafte Gestalt streckte ihre schneeweiße Hand aus und hielt sie Yukiko entgegen.
'Die Zukunft, die für uns liegt, hält nicht viel Gutes bereit. Lass' uns den Pfad, der zu ihr führt, gemeinsam gehen.'
Das Mädchen starrte ihn mit leerem Blick an. Dass sich etwas Dunkles am Horizont zusammenbraute, war ihr spätestens nach den Ereignissen der heutigen Nacht bewusst, aber die Frage war, was genau er mit seinen Worten zu implizieren gedachte.
Und ob sie ihm überhaupt vertrauen konnte.
Yukiko setzte gerade dazu an, ihm eine Antwort zu geben, als sich das rote Zwielicht mit einem Mal auflöste. Der andersweltliche Schein, der den Flur erfüllt hatte, wurde durch die von wenigen Wandlichtern gedämpfte Dunkelheit der Nacht ersetzt, die geisterhafte Atmosphäre verschwand.
Mit dem Zwielicht verschwand auch das leuchtende Geisterwesen. Stattdessen erblickte Yukiko, die vollkommen still und unbewegt dastand, eine ihr vertraute Person, die eilig auf sie zustürmte. Sie brauchte einige Moment, ehe sie den Neuankömmling erkannte.
„R...Riho...“
Das Mädchen spürte, wie ein Damm in ihr brach. All die Gefühle, die sie bisher zurückgehalten hatte, ihre Sorgen, ihre Ängste kehrten mit voller Wucht zurück. Auch die Erschöpfung machte sich nun besonders bemerkbar – Yukikos gesamter Körper begann zu zittern, ihre verspannten Muskeln schmerzten und eine unbeschreibliche Schwere ergriff sie und zog sie regelrecht nach unten.
Doch stärker als all diese negativen Empfindung war die Erleichterung.
Riho, ihre ihr wichtige Freundin, war am Leben und offenkundig unverletzt. Schon allein deswegen sah die Zukunft nun doch wieder zumindest ein klein wenig heller aus.
„Junge Herrin! Oh, ich bin so froh, Euch zu sehen!“
Yukiko spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen. Schnell verbarg sie ihr Gesicht im langen, weiten Ärmel ihres Nachtgewandes, wobei sie den weißen Stoff mit dem Blut ihrer noch immer offenen, brennenden Schnittwunde benetzte.
Rihos Schritte wurden leiser, langsamer, ehe sie schließlich vollkommen erstarben. Die warme Hand des Kammerfräuleins berührten vorsichtig die verletzte Wange ihrer Herrin.
„Ihr wurdet verwundet...“, bemerkte sie mit düsterer Stimme. „Wie konnte das nur geschehen? Junge Herrin, ich hätte Euch wohl wirklich nicht-“
Weiter sollte Riho nicht kommen; noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, fiel Yukiko ihrer Freundin um den Hals. Die Tränen flossen nun unkontrollierbar, ihr Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
„I-Ich hatte solch eine Angst, R-Riho!“, brachte sie mühsam hervor. „D-Diese Frau, sie... Wie kann ein Mensch nur so schrecklich sein? U-Und du und Katsuya... Ich dachte schon, d-dass ich euch niemals wieder sehen würde...“
Riho erwiderte die Geste und drückte Yukiko fest an sich. Die junge Adelige spürte die Wärme ihrer Freundin, fühlte, wie diese ihr behutsam und sanft über den Rücken streichelte.
„Es wird nun alles wieder gut, junge Herrin“, wisperte sie dem jüngeren Mädchen ins Ohr. „Ich Euch nicht wieder aus den Augen lassen, ja? Niemand soll Euch jemals wieder Schaden zufügen...“
Auch wenn Riho ihr so etwas unmöglichen versprechen konnte, beschloss Yukiko, sie zumindest für den Moment beim Wort zu nehmen. Ihr Atem wurde wieder ruhiger und gleichmäßiger, ihre Ängste waren wie weggewischt.
Einige Momente später löste sich Riho aus der Umarmung. Sie griff in den Ärmel ihres Gewands und holte ein kleines, sauberes Stofftuch heraus, welches sie Yukiko gab.
„Säubert damit Eure Wunde“, forderte sie ihre junge Herrin auf.
Diese nickte und drückte es auf ihre Wange; sie zuckte leicht zusammen, als das scharfe, stechende Gefühl wieder aufblitzte.
Riho beobachtete Yukiko eine Weile lang, ehe sie dann auf einmal seufzte und das jüngere Mädchen eines tadelnden Blickes strafte.
„Junge Herrin, was habt Ihr Euch eigentlich bei all dem nur gedacht? Habe ich Euch nicht darum gebeten, im Lagerraum auf mich zu warten?“
Die Angesprochene blickte schuldbewusst zu Boden. Ja, sie erinnerte sich nur noch zu gut an Rihos Anweisung – hätte sie sie befolgt und artig gewartet, dann wären die Dinge sicherlich ganz anders gekommen.
„Ich... weiß es auch nicht...“, entgegnete sie mit leiser Stimme.
So gesehen entsprachen diese Worte der Wahrheit – sie konnte sich tatsächlich nicht erklären, warum sie naiv, dumm genug gewesen war, um so zu handeln, wie sie es getan hatte. Wie hatte sie nur auf ein Hirngespinst hereinfallen und dieses dazu auch noch für ihren seit Jahren vermissten Bruder halten können? Sie war wohl wahrlich nicht mehr zu retten!
Einige Momente lang dachte Yukiko ernsthaft darüber nach, Riho von dieser Stimme und der geisterhaften Erscheinung, die sie gerade gesehen hatte, zu erzählen, verwarf diese Überlegung allerdings beinahe sofort wieder – sie hatte ihrem Kammerfräulein nun wirklich schon genug Sorgen bereitet. Außerdem glaubte sie kaum, dass sie ihr glauben würde, schließlich wusste noch nicht einmal Yukiko selbst mit Sicherheit, ob sie sich das Gesehene nicht einfach nur zusammenphantasiert hatte; gerade extreme Stresssituationen wie die diese konnten dem Verstand immerhin auch in gewisser Weise zusetzen.
Riho seufzte erneut, bedachte Yukiko dann allerdings mit einem schmalen Lächeln.
„Nun, das macht Eure unbedachte Tat selbstverständlich noch lange nicht ungeschehen, aber bitte – versucht doch bitte, derartige Alleingänge in Zukunft zu vermeiden, in Ordnung?“
Das Mädchen nickte und erwiderte das Lächeln zaghaft.
Dann, mit einem Mal, kam ihr ein weiterer Gedanke, mit dem auch das Gefühl der kalten Beklommenheit schlagartig zurückkehrte.
„Warte – wo ist Katsuya?“
Nervös blickte sie sich um, in der Hoffnung, ihren Kindheitsgefährten irgendwo zu erblicken. Sehen konnte sie ihn in diesem Moment zwar nicht, doch langsame, schlurfende Schritte kündigten die Ankunft einer weiteren Person an.
Als der Bedienstete dann wenige Sekunden später tatsächlich um die Ecke gewankt kam, fiel Yukiko erneut ein Stein vom Herzen. Rihos missbilligenden Blick ignorierend wandte sie sich von dieser ab und ging Katsuya einige Schritte entgegen. Aufgrund der dämmrigen Beleuchtung war es ihr nicht möglich, auf die Entfernung hin sonderlich viel auszumachen, doch als sie sich ihm annäherte, wurde ihr eine klarere Sicht auf seine Züge gestattet – woraufhin sie nicht nur ein wenig erschrak:
Katsuya sah alles andere als gut aus.
Er war leichenblass, in seinem Gesicht, seiner gesamten Haltung, lag eine unvorstellbare, geradezu schmerzhaft wirkende Erschöpfung. Sein rechtes Auge war blutunterlaufen, wobei ein eigenartiger Kontrast mit der violetten Farbe der Iris gebildet wurde, das linke verdeckte er mit seiner Hand.
Als er Yukiko erblickte, hellte sich seine Miene sichtlich auf; mit letzter Kraft brachte er ein Lächeln zustande.
„Junge Herrin... Ich bin wirklich... froh...“
Ein plötzlicher, krampfhafter Hustenanfall hinderte ihn daran, seinen Satz zu Ende zu führen. Yukiko eilte sofort zu ihm hin und hielt ihn, in der Befürchtung, dass er andernfalls zusammenklappen konnte, an den Schultern fest.
„Was ist mit dir geschehen, Katsuya?“, fragte sie entgeistert.
„Ihr seid in Sicherheit... Es war... nicht umsonst...“, murmelte er lediglich, so, als hätte er ihre Frage gar nicht gehört.
Yukiko warf Riho einen fragenden Blick zu, der lediglich mit einem Schulterzucken quittiert wurde.
Was ging hier nur vor sich? Wie kam es, dass sich Katsuya nun in solch einem erbärmlichen Zustand befand? Das Mädchen hatte so viele Fragen und keine einzige Antwort...
„Junge Herrin, ich kann Eure Verwirrung verstehen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns noch immer in feindlichem Territorium befinden – es wird nun höchste Zeit, von hier zu verschwinden“, gab Riho stattdessen mit einem drängenden Unterton zu bedenken.
Eine Bemerkung, mit der sie vollkommen Recht hatte; tatsächlich grenzte es wohl beinahe an einem Wunder, dass bisher noch kein Wachsoldat erschienen war.
Yukiko nickte.
„Ja, machen wir uns auf die Suche nach Mutter!“
Wo mochte Sakuya nur sein? Bisher war es dem Mädchen nicht gelungen, auch nur den geringsten Hinweis auf den Aufenthaltsort ihrer Mutter zu finden. Die Sorge und die Ungewissheit drohten sie innerlich zu zerreißen, doch mit Rihos und Katsuyas Hilfe würde es ihr bestimmt gelingen, sie zu finden! Ihr Kammerfräulein hatte ihr schließlich versprochen, dass alles gut werden würde, nicht wahr?
Ja, nun würde alles wieder in Ordnung kommen...
Riho zögerte; Yukiko blickte sie erwartungsvoll an, doch die junge Frau wich ihrem Blick aus.
Warum tat sie das? Warum... antwortete sie ihr nicht?
„Riho? Komm', wir müssen sie finden!“
Diese schüttelte schließlich – zu Yukikos Irritierung – ihren Kopf.
„Nein, junge Herrin. Wir müssen dieses Anwesen sofort verlassen.“
Was sagte sie da?
„Wieso? Mutter ist doch noch hier! Bitte, wir müssen sie suchen!“
Rihos darauffolgendes Schweigen hatte etwas Zermürbendes an sich; Yukiko spürte, wie sich eine geradezu greifbare Verzweiflung in ihre Verwirrung untermischte.
„Warum sagst du nichts? Weißt... Weißt du etwas, was du mir nicht sagen möchtest?“
Wortlos packte das Kammerfräulein seine Herrin am Handgelenk; sie sah so aufgebracht, so verzweifelt aus, Regungen, die sie gewöhnlich nie zeigte.
„Junge Herrin, bitte – ich weiß, dass es schwer ist, aber wir müssen sofort gehen!“
Sakuya musste etwas zugestoßen sein, anders könnte sich Yukiko Rihos Verhalten ansonsten nicht erklären. Das Mädchen fühlte sich mit einem Male so unbeschreiblich leer, auf eine eigenartige Weise betäubt.
„Was ist geschehen? Ist Mutter etwa...?“
„Wir werden draußen darüber reden.“
Draußen? Also erwartete Riho tatsächlich, dass Yukiko ihre eigene Mutter im Stich ließ?
„Ohne Mutter gehe ich nirgendwo hin! Und jetzt lass' mich los!“
Die betäubende Leere wurde durch kalte Wut und Verzweiflung ersetzt. Solange ihr nicht das Gegenteil bewiesen wurde, weigerte sich Yukiko beharrlich, auch nur die Möglichkeit, Sakuya verloren zu haben, in Betracht zu ziehen. Oh nein, sie würde sie suchen und auch finden, koste es, was es wolle.
Rüde versuchte sie sich aus Rihos Griff zu befreien, doch diese wollte zur Verärgerung der Adeligen nicht im Geringsten nachgeben.
„Reißt Euch doch endlich zusammen!“, zischte sie.
Jegliches Mitgefühl und jede Spur der Verunsicherung war mit einem Mal aus ihrer Miene gewischt.
„Ich werde Euch draußen alles erklären, ja? Aber jetzt dürfen wir nun wirklich keine Zeit mehr verschwenden! Wenn sie Euch finden, dann wird all dies hier umsonst gewesen sein und nicht nur das: In diesem Falle wird sowohl mein als auch Katsuyas Leben verwirkt sein! Ist dies denn wirklich Eurer Wunsch?“
Die barschen Worte ihrer Freundin rissen Yukiko aus diesem verzweifelten und festgefahrenen Zustand, in dem sie bis gerade eben gefangen gewesen war. Langsam, geradezu zögerlich ließ sie ihren Blick auf Katsuya schweifen, der noch immer so miserabel wie zuvor aussah.
Riho... hatte Recht.
Zwar rebellierte jede einzelne Faser ihres Körpers gegen den Gedanken, Sakuya einfach so zurückzulassen, doch der kalte, rationale Teil Yukikos sah ein, dass dies die einzige Möglichkeit war. Hier, in diesem Anwesen, hatte sie nur drei Verbündete und dafür unzählige Feinde. Sie wusste nicht, wo sich ihre Mutter aufhalten könnte, noch, ob es ihr überhaupt möglich wäre, zu ihr vorzudringen.
Wenn man zudem die Verfassung, in dem sich die kleine Gruppe momentan befand, bedachte, dann war die Wahrscheinlichkeit, letztendlich von den feindlichen Soldaten aufgegriffen zu werden, durchaus gegeben. Yukiko wusste zwar nicht, was dann wohl mit ihr geschehen mochte, doch die Szenarien, die geradezu automatisch vor ihrem inneren Auge erschienen, waren alles andere als angenehm. Und selbst wenn ihr kein körperliches Leid geschehen würde, so bedeutete dies noch lange nicht, dass Riho und Katsuya ebenfalls davon verschont bleiben würden, ganz im Gegenteil.
Letzten Endes resignierte Yukiko daher; schlaff ließ sie ihren Arm sinken.
„Wir... werden doch wiederkommen, oder?“
Das mitleidige Lächeln, mit dem Riho sie bedachte, machte jegliche Worte überflüssig.
Stumm ging sie zu Katsuya, um diesen zu stützen, ehe sie Yukiko zunickte.
„Kommt nun, ich werde Euch zum Ausgang führen...“