Am nächsten Morgen schien die Sonne durch’s Fenster. Jeremy fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatten und schätzte, dass es ganz sicher nach zehn am Morgen war. Es wurde also Zeit, sich um ein paar Dinge zu kümmern. Das erste wäre ganz sicher ein heißes Bad zu zweit und dann die Tüte aus Camden, in der sich alles befand, was Jeremy am Abend gegriffen hatte. Wie immer reichlich Süßes, für die zwei Süßen und Nachschub für French Toast. Eigentlich waren sie wohl längst an dem Punkt ihrer Zweisamkeit angelangt, wo sie entweder regelmäßiger und vielleicht auch gesunder einkaufen sollten oder sie sollten den alten Butler von Richard bitten, das zu übernehmen. Jeremy schaute kurz auf den schlafenden, zerzausten, nackten Rufus und das Chaos im Bett und im Raum. Er grinste. Die erste Variante wäre wohl die bessere Lösung. Jeremy begann, sich vorsichtig unter Rufus zu bewegen und versuchte aufzustehen, ohne ihn zu wecken. Der junge Mann schlief noch so fest, dass er gar nicht merkte, wie Jeremy ihn seitlich abrollen ließ, ihm ein Kissen zu halten gab und ihn dann zudeckte. Jeremy ging sodann ins Bad, um sich fürs erste herzurichten. Er würde erst Frühstück machen und danach das Bad einlassen. Rufus könnte dann entscheiden, womit sie anfangen sollten. Rufus, Rotschopf. Ein sehr kurzer und irgendwie zu kurzer Name für all das, was der junge Mann war und erst recht für alles, was er Jeremy bedeutete. Jeremy hatte das längst gegoogelt. Man konnte sich denken, dass der Altfranzösische Name mit den St. Aubyns aus der Normandie herüberkam. Ausgerechnet eine so alte, traditionsreiche Familie schien kein Problem mit der Tatsache zu haben, dass der jüngere Sohn homosexuell war. Rufus hatte nie etwas in der Art angedeutet und Richard und Miranda hatten offen und herzlich gewirkt. Jem hatte Rufus mal kurz darauf angesprochen. Seine Antwort war typisch Rufus. Bei einer Familientradition, in der man Ehebrecherinnen die Nase abschnitt, wäre ja wohl alles eine Verbesserung. Jeremy grinste für sich und überlegte, ob er vielleicht doch seiner eigenen Familie eine zweite Chance geben sollte. Vielleicht hatten sie gar nichts von Davids Krankheit und Tod erfahren. Das setzte natürlich voraus, dass sie sich nach ihrer Abkehr von ihm doch zumindest dafür interessiert hätten, ob er oder David lebten oder starben. Aber dann hätten sie von Davids Tod erfahren und sie hätten sich bei ihm gemeldet, oder? Jeremy schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen und widmete seine Aufmerksamkeit dem Toast. Was sollte ihn eigentlich daran hindern, sich eine neue Familie zu suchen? Genau genommen nichts. Er könnte alles verkaufen, was er noch in den USA besaß, nur ein paar Erinnerungen behalten, die Black Sabbath- Sammlung mit der Widmung von Ozzy für David und in England neu anfangen. Warum nicht? Zufrieden mit dem Gedanken begann er zu pfeiffen.
„Hast du aber eine gute Laune, so früh am Morgen!“ Rufus stand in der Tür und gähnte noch ganz verschlafen.
„Ich habe immer gute Laune, wenn du da bist“, antwortete Jem wahrheitsgemäß und mit einem Blick auf Rufus, „Und wo du sowieso nichts anhast, schlage ich vor, wir baden erst und frühstücken dann.“
„Mmmh, wie wär’s mit Frühstück in der Badewanne. Stell ich mir sexy vor.“
„Auf so eine dekadente und gleichzeitig praktische Idee kannst nur du kommen“, scherzte Jeremy.
„Gut, dann lasse ich das Wasser ein.“ Rufus kam kurz zu ihm und gab Jeremy einen langen Guten-Morgen-Kuss, dann zwinkerte er und ging zum Bad.
„Ich packe dann mal alles auf’s Tablett“, rief Jeremy ihm noch nach und pfiff weiter. Definitiv, kein Butler.
Nach etwa einer Stunde waren sie satt, rasiert und gebadet und dösten noch ein bisschen zusammen in ihrer typischen Badewannenposition. Rufus spielte ein wenig mit Jeremys Fingern, da fiel ihm ein, dass Jeremy ihm noch gar nicht erzählt hatte, worüber er und June gestritten hatten. Ob er einfach fragen sollte? „Jem? Was ist da eigentlich gestern mit dem Streit gewesen? Du hast sogar die Vorstellung platzen lassen, dann muss es heftig gewesen sein.“ Er schaute sich fragend zu Jeremy um, der ihn von hinten hielt. Jeremy pustete erstmal verlegen. „Ich weiß nicht, ob ich noch alles zusammenkriege“, begann er dann, „aber im Wesentlichen lief es darauf hinaus, dass sie sich vorgestellt hat, dass sie und ich ein Paar werden, was besser sei für unsere Karrieren. Und das würde meine Familie versöhnen. Und du warst der lästige Störfaktor bei der ganzen Sache.“
„Schon klar“, fand Rufus mit nicht wenig Ironie, „wenn der Mann schwul ist, muss der andere Mann schuld daran sein.“
„Das klingt, als hättest du Erfahrung mit sowas.“
„Na ja, ich konnte ja nicht wissen, dass die Typen verheiratet waren oder `ne Freundin hatten. Aber ich erkenne ziemlich gut, wenn jemand auf mich abfährt.“
„Kann ich mir vorstellen.“
„Du wohl eher weniger, sonst hättest du gemerkt, dass sie in dich verknallt ist.“ Rufus schaute auf Jeremys Reaktion. Der war ehrlich überrascht.
„Woher willst du das wissen? Du kennst sie kaum?“
Rufus wusste auch nicht, wie er das erklären sollte. Er wusste eben, dass es so war. „Ist wohl die logische Erklärung. Und sie war von Anfang an… zickig mit mir.“
„Du meinst, es ging nicht nur um Karriere, sondern auch um mich?“, fragte Jeremy etwas ungläubig.
„Ja sicher.“
„Und ich habe das nicht bemerkt?“
„Scheint so.“ Rufus fand es irgendwie süß, dass Jeremy in dieser Sache eine so lange Leitung zeigte. Also nahm er sich vor, es ihm zu erklären. „Hör mal Großer, das hast du nur nicht mitgekriegt, weil du erstens Frauen nicht auf dem Schirm hast und zweitens, weil du dich für einen langweiligen Trauerkloß gehalten hast.“
Jeremy schaute jetzt nochmal so überrascht. „Du denkst, ich habe mich für einen Trauerkloß gehalten?“
„Ja, aber du bist keiner. Und schon gar nicht langweilig. Ich habe dich singen gehört wie noch keinen zuvor und du hast auf dem Tisch gestanden wie eine griechische Statue und das hat mich voll erwischt.“
„Wow, echt? Und dann hast du mich angerempelt.“ Jeremy erinnerte sich an Rufus‘ Erzählung von dem Abend.
Rufus grinste. „Ist echt das Beste, was mir je passiert ist.“
„Mir auch. Aber du warst es, der es bemerkt hat. Ich meine, dass da noch ein Mann war, in dem Trauerkloß. Ist irgendwie ein kleines Wunder.“
Rufus grinste schon wieder.
„Was ist? Hast du mir irgendwas noch nicht erzählt?“, wollte Jeremy jetzt dringend wissen.
„Jem, Großer, das war nicht schwer zu merken. Ich hab dich mit dem Drink nass gemacht und du hast mich gesehen und sofort `nen Ständer gekriegt.“
„Oh, dammit.“
„Muss dir nicht peinlich sein. Ich fand’s toll. Ich wollte es ja auch gleich ablecken.“
„Du bist unglaublich.“
„Das sagst du ständig. Aber du bist mindestens genau so unglaublich. Du gibst mir Halt, obwohl ich wirklich nicht leicht zu halten bin. Und mehr noch Zuversicht. Ich habe gedacht, dass jemand wie ich, gar keinen guten Typen finden und erst recht nicht behalten kann. Jetzt wünsche ich mir, dass ich das mit dir zusammen hinkriege.“
„Das wirst du, dafür sorge ich.“
Rufus lehnte sich wieder zurück und döste weiter. Er wollte nicht daran denken, dass vielleicht schon heute, vor oder nach der Vorstellung Oliver wieder auf ihn warten könnte. Er wollte auch nicht daran denken, dass Jeremy in etwa zwei Wochen nach New York müsste und er selbst erst Wochen später folgen könnte. Und er hatte noch gar nicht daran gedacht, es Richard zu erzählen. Sie sollten unbedingt am Wochenende zu ihm fahren. Und Oliver würde es nicht wagen in St. Aubyn Manor aufzutauchen.
„Los komm, auf jetzt“, hörte er Jeremy leise ins Ohr flüstern, „wenn wir noch länger bleiben, kriegen wir Schwimmhäute.“
Rufus grinste und stand murrend auf. Dann suchte er zwei riesige Handtücher. Für jeden eins. Jeremy hüllte sich direkt darin ein und ging sich anziehen. Rufus schaute sich noch kurz im Spiegel an. Da waren neue Knutschflecken. Auch da, wo sie jeder sehen konnte. Sehr gut. „Jeremy? Krieg ich eins von deinen Hemden?“, rief er ins Schlafzimmer.
„Ja sicher, aber warum? Die sind dir zu groß und irgendwie zu… langweilig.“
„Darum. Ich find’s sexy, wenn’s von dir ist.“
„Okay, hier. Die Farbe müsste dir stehen.“ Jeremy brachte ihm ein hell- türkises Hemd, das tatsächlich Rus Augenfarbe betonte. Obwohl es ihm darum wirklich nicht ging. Er gab Jem einen Kuss auf die Wange.
„Danke dir. Willst du eins von meinen T-Shirts? Sieht bestimmt cool aus, wenn’s ein bisschen eng ist…“
Jeremy grinste jetzt und schien zu verstehen, worum es ging.
„Wir machen jetzt also Besitzansprüche deutlich?“, fragte er nach.
Rufus nickte und suchte in seinem Schrank nach was Brauchbarem.
„Bin dabei“, ergänzte Jeremy und fand ein T-Shirt mit Werbeaufdruck vom Donmar. „Das hier. Besser geht’s nicht.“ Er zog es direkt über und es saß tatsächlich eng, aber nicht zu sehr. Gerade so, dass man darauf kommen konnte, wem es eigentlich gehörte.
„Aber nicht in die Hose stecken. Das ist old school“, bemerkte Rufus.
„Für wen hältst du mich?“, Jeremy spielte entsetzt, „Und Partnerlook ist auch nicht drin. Das ist bescheuert, außer wenn man auf die gleiche Band steht.“
Rufus lachte. „Schon klar.“
Das unerwartete Klingeln von Jeremys Handy brachte die beiden schließlich auf den Boden der Tatsachen zurück. „Oh nein“, kam es direkt von Jeremy.
„Wird nicht anders gehen“, fand Rufus.
Jem schaute auf sein Display. „Es ist Peter.“ Also ging er ran.
Rufus nutzte die Gelegenheit, um ein bisschen aufzuräumen, blieb aber in Hörweite und versuchte sich einen Reim aus den Gesprächsfetzen zu machen. Peter hatte wohl auch mit June geredet, um sie zu beruhigen. Sie war wegen Jeremys Absage echt in Rage gewesen. Rufus rollte genervt mit den Augen. Warum sagten Frauen eigentlich nie, was wirklich Sache war? Nie im Leben ging es bei ihrer Rage um den Grimes. Außerdem hatte Peter mit der Opera Now wegen eines Rücktritts von der Nominierung gesprochen. Das klang allerdings wesentlich komplizierter als man annehmen sollte und Jeremy verfiel in einen ständigen Wechsel von Ahas, Mmmhhs und Ach Sos. Schließlich schlug er vor, dass er sich mit Peter treffen würde, um das alles zu besprechen und er müsste ihm noch wichtige Veränderungen mitteilen. Rufus konnte sich denken, was es war. Auch das noch. Er hätte wirklich keine Lust, mit Jeremys Manager über Oliver zu reden. Schließlich hatte Rufus die aufgehobenen Klamotten nach meins und seins sortiert, einen Lampenschirm geradegerückt, das Bett abgezogen und die Geltube verschlossen, als Jeremy das Gespräch beendete. Rufus setzte sich auf’s Bett.
„Was ist los? Du klingst besorgt“, begann Rufus.
Jeremy nickte und setzte sich zu ihm. „Ist nicht so leicht, wie ich dachte. Peter sagt, sie wollen die Nominierung nicht rückgängig machen, nicht nach dem Artikel in der Zeitschrift und allem. Dann sähen sie aus wie Vollidioten, was sie, wenn du mich fragst sind. Private Angelegenheiten, so Peters Formulierung, lassen die allein nicht gelten. Da müssten wir schon mit der ganzen Wahrheit herausrücken.“
Rufus bekam eine besorgte Falte zwischen den Augen. „Du meinst, dass June und du ihnen was vorgemacht habt, weil ihr sie für Idioten haltet und dass man dich deswegen und meinetwegen erpresst.“
Jeremy seufzte. „Ja, so ungefähr könnte man das sagen.“
„Und wo genau liegt das Problem? Müssen die alles wissen?“ Rufus wollte sich das lieber nicht vorstellen. Er hätte wirklich keine Lust, irgendwem von der Zeitschrift zu erklären, wer Oliver war.
Jeremy sah den besorgten Blick seines Liebsten und runzelte selbst die Stirn. „Ich denke, wir müssen nicht alles darlegen. Niemand braucht alles zu wissen. Das Foto von uns im Park als Grund für die Erpressung müsste genügen. Wir sollten das mit Peter im Detail besprechen. Aber wir sagen nicht, was Oliver gesagt hat. Ich werde mich einfach outen, dann ist die Sache vom Tisch.“
„Meinst du?“
„Ja, ich denke schon. Oliver hat keine Grundlage mehr für seine Drohung, sobald die Leute wissen, dass wir zusammen sind. Das ist doch okay für dich, oder?“
„Ja sicher. Ich hoffe nur, dass das wirklich reicht. Oliver ist unberechenbar.“ Rufus wusste wirklich nicht so recht, ob das reichen würde. Gestern Abend war er noch zuversichtlich gewesen. Wenn man Olivers Erpressung den Boden wegzog, dann konnte er Rufus zu nichts zwingen. Zumindest nicht mit Erpressung. Aber bedeutete das auch, dass er ihn in Ruhe lassen würde? Wenn er und Jeremy sich jetzt öffentlich zueinander bekennen würden, würde das Oliver nicht vielleicht erst recht reizen und verärgern? Wie weit würde er gehen? Rufus schaute Jeremy in die Augen und Jeremy wirkte jetzt auch leicht verunsichert.
„Du traust ihm wirklich alles zu, oder?“, fragte er dann.
Rufus nickte. „Ja, alles.“