Mira und Kathrin machten es sich auf Jonas Bett bequem. Er hingegen saß mit angezogenen Beinen und mit getrübtem Blick auf seinem Schreibtischstuhl; eine Decke über der Schulter sollte Gemütlichkeit heucheln. Den Kopf gesenkt, begann er zu erzählen.
»Es ist sonderbar, immer dann, wenn ich diese andere Seite sehe, beginnt meine Hand wie verrückt zu jucken. Zuerst ist da dieser blutige Verband.« Er hob den verletzten Arm und drehte diesen von der Rückhand zeigend zur Unterseite und zurück. »Kurz nachdem fühle ich mich irgendwie ... schwindelig. Es tropft unaufhörlich und unter mir bildet sich eine Pfütze. Es kann gar nicht so sein, dass weiß ich aber dennoch, es sieht und fühlt sich so echt an.« Ein schwermütiges Schnaufen entwich ihm. »Gestern Abend, als ich ... als ich im Bad zum ersten Mal sah ... es hat mich umgehauen.«
Niemand der zwei Mädchen unterbrach ihn. Wie gebannt hingen sie an seinen Worten. Beobachter würden bemerken, dass sie sich unter der Decke bei den Händen hielten.
»Ich schaute in den Spiegel und sah nicht mich. Da war ...« Die beiden konnten förmlich spüren, wie ihrem Freund ein eisiger Schauer den Rücken hinabjagte. »Wie soll ich es beschreiben? Es war eine Fratze. Ich weiß nicht, ob ich einmal so aussehen werde ... blutunterlaufene leer stierende Augen ... Es war schrecklich und zugleich ... Kalt.«
»Kalt?«, horchte Kathrin auf und sah hinüber zu Mira. »Kalt in Form von Frieren ... so wie vorhin?«
»Mmh, wie vorhin? Nein, da war es nicht so. Mir steigen sprichwörtlich die Haare zu berge. Ich weiß nicht, ob nur ich es spüre, vorhin war da nichts.«
»War das auch in der Schule so?«, begehrte Mira auf und schüttelte kaum merklich den Kopf, als Kath abermals im Begriff war die Lippen zum Sprechen zu öffnen.
»In der Schule? Ich weiß nicht. Es war ...« Jonas Brauen zogen sich einem ›V‹ gleich zusammen. »... ähnlich. Kaum das ich den Flur betrat, beschlich mich so ein merkwürdiges Gefühl. Ich fühlte mich unwohl, bekam Beklemmungen. Anfangs dachte ich noch, es wäre die Anstrengung. Hatte mich ja beeilt rechtzeitig zu kommen, aber dann ... dann wurde mir kalt und schwindelig. Alle waren mit einem Mal fort. Ihr zwei wart genauso verschwunden, so wie all die anderen, obwohl wir Sekunden zuvor beieinanderstanden.«
Die beiden trauten sich weder Jona in seiner Darstellung zu unterbrechen, noch Fragen zu stellen. Sie mussten hören, was er sah und vielleicht, ja es war tatsächlich im Bereich des Möglichen, dass es wichtig war, sich hier und jetzt über ihre Erfahrungen auszutauschen. Wenn sie diese Sache gemeinsam durchstehen wollten, mussten sie offen sein. Einander vertrauen.
»Der Flur, überall waren diese seltsamen Symbole. Ich habe keine Ahnung, ob es eine Art Schrift war oder sich schlicht um irgendwelche Runen handelte. Ringsumher wuchsen ... ich weiß nicht recht ... einerseits sah es aus wie dicke Haarstränge andererseits eher wie ein gewaltiges Geflecht aus Kabeln oder Schläuchen. Wisst ihr ...« Jona leckte sich über die Lippen und atmete unruhig. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein. Es war etwas anderes. Ihr kennt doch diesen Science-Fiction, wo sich die Wände dieses Raumschiffes immerzu bewegten, weil sie irgendwie lebendig waren. Ja, genauso sahen diese Stränge aus. Ich glaube ... ich meine, wenn ich sie berühren würde, sie gäben unter Garantie nach. Diese Dinger haben merkwürdig pulsiert, so als bewege ... fließe etwas darin. Durch manche dieser okkulten Zeichnungen gingen diese Adern einfach hindurch. Anderen konnte man nur erahnen, weil sich dort eine Geschwulst gebildet hat. Wiederum bei anderen Symbolen ... ich würde wetten, das sie dieses Zeugs versuchten abzuwehren. Sie sahen, wenn ich mich recht entsinne, auch eleganter aus. Feiner, irgendwie schöner, präziser trifft es am ehesten.«
Es war Kathrin anzumerken, dass sie vor Fragen in Flammen schien, doch Mira hielt sie weiterhin zurück. Jedes Mal wenn sie sich auffällig rührte, ruckte sie ihre Hand und zischte. Jona war in sich gekehrt und sollte sich die Last von der Seele reden. Vielleicht konnte er dann beim nächsten Mal widerstehen.
Es entstand tatsächlich das Gefühl, es vergingen Minuten, als Jona Maß hielt und offenbar überlegte, wie er die kommende Sicht erklärte. »Die Fliesen waren nicht mehr. Vereinzelt noch zu erkennen, doch zu meist war der Boden mit Schutt, Dreck und allerlei anderem Zeugs bedeckt. Dinge ... über die ich nicht reden möchte. Da waren ... Hände, die sich aus den Boden hervorzwängten und nach mir griffen. Sie kratzten mich und zerrten an mir und dann ...« Sein Gesicht wurde aschfahl und seine Schläfen begannen zu zucken. »... kam ›Es‹.«
Erstickt hielt sich Mira die Hand vor den Mund, Tränen schimmerten in ihren Lidern. Kathrins Augen weiteten sich und ihre Lippen formten dessen Namen. Nicht nur die Drei hatten ihn gehört. Die halbe Schule stand zur Stelle, als Jona ihn aussprach.
»Oh Jona. Das ist ja noch viel grässlicher als bei mir«, begann sie nun ihre Erlebnisse zu offenbaren. Kathrin schlang schützend die Arme um sie. »Immer wenn ich denke, dass ich schlafen könne, drängen sie sich mir auf. Erst ganz leise, kaum hörbar, eher so als ahne man, dass da was wäre. Verseht ihr? Ich kann ihnen anfangs nur mit äußerster Mühe lauschen, doch dann werden sie lauter, fordernder, ganz so als wollen sie, dass ich ihnen helfe. Nur ... ich weiß nicht wie. Ich mein', ich höre sie, ja aber wie soll ich ihnen denn helfen?«
»Weißt du, wer diese Stimmen sind? Was sie wollen?«, hauchte Kath ihr ins Ohr.
Mira zuckte mit den Schultern. »Vermutlich soll ich ihnen helfen. Es ist wie bei Jona, man fühlt sich total hilflos. Da ich nicht weiß, was ich tun kann, werden sie immer forscher. Sie schreien mich an und beschimpfen mich. Den Stimmen nach würde ich fast meinen, dass es Kinder sind.«
»Oh mein Gott.« Jona schloss die Augen und schnaufte. »Was ist das nur für ein beschissener Albtraum.«
»Wenn sie nicht nach mir rufen, brüllen sie. Zwischendurch höre ich auch andere Laute. Dunkler und zumeist herrisch. Ich denke mir, dass diese die Kinderstimmen beherrschen und ... vielleicht bestrafen, quälen oder was auch immer. Ich trau mich gar nicht mehr, mich schlafen zu legen.«
Jonas Augen trugen Sorge, Kath hingegen musterte die Dritte im Bunde. Sie ahnte, dass sie nicht alles erzählte; nicht gänzlich so offen mit ihrem Erlebten umging, wie ihr Freund zuvor. Diese ominösen Stimmen reichten tiefer, als sie hier zugeben wollte. Da war etwas, das sie störte und ein offensichtliches Geheimnis mit sich trug.
Mira schien ihre Skepsis zu bemerken und sah sie herausfordernd an. »Was ist mir dir Kath, was plagt dich?«
»Seit diesem Tag. Ihr wisst schon ... als wir diese merkwürdig aussehende Formation Steine fanden, und Jona sich daran die Hand schnitt. Ich war kaum zuhause und in meinem Zimmer, da verspürte ich einen inneren Drang. Es zog mich zum Fenster.« Ihre Schultern zuckten und sie zog die Unterlippe vor. »Ich schaute von da an immerzu hinaus. Nichts als diese olle Trauerweide steht da herum. Fragt mich bitte nicht warum. Ständig muss ich aus diesem ollen Fenster gaffen ... auf nichts. Das einzig Gruselige daran ist, wenn es anfängt dunkel zu werden. Sobald das Licht günstig oder ungünstig fällt, je nachdem wie man es sehen möchte, sieht es fast so aus, als griff dieser blöde Baum nach etwas. Die Äste, nein die Schatten, schauen aus wie Klauen, die im Begriff sind zuzupacken. Sie werden immer länger, wenn die Sonne untergeht.« Ihr Blick wurde starr. Der Mund stand ihr offen, als sie die Erkenntnis einholte.
»Kath? Was ist mit dir?«
Wie in Zeitlupe schüttelte sie den Kopf. Nicht ein Haar bewegte sich dabei. »Ich bin ja so dämlich, wieso habe ich das nicht eher bemerkt?«
»Was Kath, was hast du nicht bemerkt? Komm schon, es könnte wichtig sein«, begehrte Jona auf und rutschte vornübergebeugt von seinem Stuhl.
»Sie kamen mit jedem Tag näher«, flüsterte sie und begann zu zittern.