Ich wusste darauf nicht viel zu sagen, das ihn auch nur im
Geringsten getröstet hätte. Also entgegnete ich nach einigen Momenten das Erstbeste, das mir einfiel:
"Ich habe ihn gesehen..."
Tom nickte. "ER wollte sich dir zeigen, dich quälen und langsam zu seinem Sklaven machen."
Ich war verwirrt. Wie konnte ein einzelner Mensch so viel Macht besitzen?
"Er ist nicht alleine."
Oh, hatte ich das laut gesagt?
"Wie nicht alleine? Wer ist da denn noch?", hakte ich nach.
Je mehr ich erfuhr, desto irrationaler erschien mir das Ganze.
"Ich kenne keine Namen...", meinte er ausweichend.
"Aber sie sind alle aus dem selben Holz geschnitzt."
"Also gleich ein ganzer Haufen psychisch gestörter Menschen? Und wie kommen sie hierher? Meditieren sich alle zusammen in das da unten?"
Ich deutete auf das dunkle Nebelgeschwulst unter unseren Füßen.
"Ja und nein. Was du da siehst, ist nicht mehr und nicht weniger als das, was von ihnen geblieben ist... Ein Gemisch aus Boshaftigkeit, Gewalt und krankhaften Gedanken.", erklärte er.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen dachte ich über Tom's Worte nach.
"Mit "das, was von ihnen geblieben ist" meinst du ihre krankhafte Natur? Oder sind das da unten etwa..?"
Ich zögerte. Konnte das sein?
"...nichts anderes als ruhelose Geister.", fiel er mir ins Wort.
Vermutet hatte ich es zwar, aber trotzdem verwandelte sich mein Magen in einen Eisklumpen und saugte mir jegliche Wärme aus dem restlichen Körper, als sich meine Gedanken bestätigten.
"Und wie..? Ich meine, was ist mit dem ins Licht gehen?, stammelte ich unbeholfen.
"Das Licht ist nicht jedem vorbehalten.", entgegnete Tom. "Diese umherstreifenden Seelen, sind innerlich so verdorben und verfault, dass sie dort weder hinein dürfen noch können. Sie würden sofort in sich zusammenfallen und aufhören zu existieren. Deshalb meiden sie das Licht, die Liebe und Freude und nisten sich dort ein, wo sie Dunkelheit, Wut und Depression finden." Er sah mich zweifelnd an. "Verstehst du das?"
Ich nickte langsam und bedächtig.
"Aber können diese dunklen Seelen dann nicht ganz einfach vernichtet werden? Auf der Welt gibt es doch genug Schönes, Menschen, die sich lieben, Freude... Warum reicht das nicht aus?", meinte ich nachdenklich.
"Es schwächt sie in jedem Fall, aber es reicht bei weitem nicht, um sie komplett auszulöschen. Auf der Welt existieren Schatten und Licht gleichermaßen. So, wie es momentan aussieht, werden diese Kreaturen immer einen Ort finden, an welchem sie sich niederlassen können. Schon ein einfacher Streit reicht aus und sie fühlen sich wie eine Made im Speck...", erklärte er.
"Diese Ansammlung da unten ist allerdings ungewöhnlich.", fügte er etwas später hinzu.
"Hast du eine Vermutung, weshalb sich dann so viele dort unten tummeln?", fragte ich.
"Es hat etwas damit zu tun, dass ich hier bin, nicht war?"
Tom nickte und fuhr gleich daraufhin mit seinen Erklärungen fort.
"Normalerweise sind schwarze Seelen Einzelgänger. Sie sind viel zu egoistisch und geistig umnachtet, um sich mit Ihresgleichen zu verbünden. Alleine können sie nichts allzu Schlimmes anrichten, doch mit dieser geballten Menge, mit der wir es hier zu tun haben, ist nicht mehr zu spaßen. Sie haben sich zusammengetan und ihr eigenes Paradies geschaffen. Wir haben es schon längere Zeit beobachtet und es viel zu sehr unterschätzt. Jetzt ist es..."
Ich unterbrach ihn.
"Wir? Wer seid ihr? Und was bist du eigentlich?"
Scheinbar nicht im geringsten über die grobe Unterbrechung verärgert, meinte er schlicht:
"Ich bin ein Engel. Dein Engel."
Er deutete grinsend auf das Zeichen, das sich auf seinem Pulli befand. Mein Blick fiel abwechselnd auf das eingerahmte T und auf das lächelnde Gesicht des "Engels".
"Damit hattest du nicht gerechnet, was?"
Nein, das hatte ich tatsächlich nicht... Ich starrte meinen "Engel" an und er starrte zurück. Irgendwie konnte ich das nicht so recht glauben.
"Und wo sind deine Flügel?", fragte ich zweifelnd und mit erhobener Augenbraue.
"Warte kurz, das haben wir gleich.", entgegnete er mir immer noch grinsend.
Das Grinsen wurde mir langsam unheimlich...
Tom zog seinen Pulli aus und schnippte mit den Fingern. Ein Paar voluminöser, weißer Flügel ragte plötzlich hinter seinem nackten Oberkörper auf. Die Federn glitzerten.
Und ich fiel um.