Die Ellbogen auf dem Tisch, die Hände unter dem Kinn, der Kopf müde und schwer, den Oberkörper nach vorne gebeugt, saß ich teilnahmslos und gelangweilt da. Links und rechts von mir wurde eifrig mitgeschrieben und auch mein Vordermann, oder besser gesagt meine "Vorderfrau", schien höchst motiviert den Stift über das Papier gleiten zu lassen. Überall im Raum ertönte ein stetiges Kritzeln und Rascheln. Begleitet wurde das Schreiborchester von der monotonen, leiernden Stimme unseres Professors. Auf diese Weise entstand das wohl langweiligste Lied, das es seit Menschengedenken gab und - so vermutete ich - auch in Zukunft noch geben wird. Meine Augenlieder senkten sich wie von selbst und begrenzten mein sowieso schon von der Hochsteckfrisur der vor mir sitzenden Dame eingeschränktes Blickfeld. Ihr Dutt wippte aufgeregt hin und her, während sie abwechselnd auf ihren Block und dann wieder zu Professor Neller starrte, der im Raum auf und ab ging und dabei redete und redete wie ein Wasserfall. Meine Lieder senkten sich immer weiter, bis ich nur noch Herr Nellers Schuhe sehen konnte, die ununterbrochen in Bewegung waren. Ich gähnte ausgedehnt. Langsam verschwammen alle Hintergrundgeräusche zu einem leisen, undurchsichtigen Brei, der sich über mein Trommelfell legte. Ich nahm kaum mehr etwas wahr, gab dem Drang nach meine Augen zu schließen und merkte wie meine linke Hand sich langsam von meinem Kinn löste. Wenig später landete mein linker Unterarm auf der zerkratzten Tischfläche und auch mein rechter Arm neigte sich gefährlich zur Seite. Wie mein Kopf in meine Armbeuge fiel, bekam ich gar nicht mehr mit. Zu groß war die Müdigkeit, die mich mit einem Mal überkam.
Plötzlich saß ich gar nicht mehr im Lehrsaal unserer Universität. Ich hörte kein Gekratze und Geraschel mehr und - was mich am meisten freute - auch das Schnarren und Tapsen des ungeliebten Professors war verschwunden. Ich sah keine wippenden Dutts mehr, die vom kalten Neonlicht der alten Glasröhren über mir angestrahlt wurden und auch keine glänzenden schwarzen Schuhe, die die komplette Breite des nicht mehr vorhandenen Saals durchwanderten. Weder sah, noch hörte ich irgendetwas. Alles war vollkommen schwarz.
Träumte ich gerade? Naja, besser als die langweilige BWL-Lesung war es allemal. Die Zeit verging schleppend. Wie lange war ich schon hier? Meine anfängliche Euphorie wich einem Gefühl der plötzlichen Furcht. Ich merkte, wie sich leichte Übelkeit in meiner Magengegend festsetzte, so wie immer wenn ich Angst hatte. Um mich herum war nichts als satte, düstere, alles verschlingende Schwärze und Stille. Nicht das kleinste Geräusch. War ich allein? Vollkommen allein? Oder war da jemand neben mir? Versteckte sich da jemand in der undurchdringbaren Dunkelheit, die mich umgab, die sich um meinen Körper legte, mich zu verschlingen drohte? Ich versuchte in die Finsternis hinein zu horchen, aber nach wie vor vernahm ich nicht das kleinste Geräusch. Ich beschloss, dass es besser war, mich zu bewegen. Wenn da draußen wirklich etwas sein sollte, dann wollte ich nicht warten bis es mich gefunden hatte, sondern mich bestenfalls davon entfernen. Auch wenn ich Gefahr lief direkt in seine Fänge zu geraten.
In welche Richtung sollte ich bloß gehen?
Ich hatte das Gefühl, dass es keinen Unterschied machte, ob ich nun nach rechts, links, hinten oder vorne lief. Um mich herum sah es sowieso überall gleich aus, längst hatte ich das Gefühl für jegliche Himmelsrichtungen verloren. Ich fragte mich ob es überhaupt einen Himmel über mir gab.
Wahrscheinlich war ich in der Hölle gelandet.
Ein leichtes Grinsen umspielte meine Lippen.
Nein, die Hölle hatte ich mir röter vorgestellt und lauter. Mit blubbernden Kesseln, züngelnden Flammen und den qualvollen Schreien unschuldiger Seelen. Vielleicht hatte ich auch nur eine falsche Vorstellung? Niemand auf der Erde wusste, wie es in der Hölle aussah, es sei denn man glaubte an die Teufelsküche wie sie in Filmen und Büchern dargestellt wurde. Himmelschreiender Unsinn, wie ihn schon damals die Inquisition in die Köpfe der Menschen gehämmert hatte. Wer glaubte schon wirklich an die Existenz böser Geister und Dämonen, die im Höllenschlund ihr Unwesen trieben?
Aber dennoch musste ich immer wieder an genau diese furchterregenden Kreaturen denken, wenn ich das Wort Hölle hörte oder las. Kopfschüttelnd fing ich an zu laufen und schlug eine willkürliche Richtung ein, um diese Gedanken aus meinem Kopf zu verdrängen. Ich bewegte mich langsam und vorsichtig vorwärts, war stets darauf gefasst gegen eine Wand zu laufen oder in einen Abgrund zu fallen. Der Untergrund war steinig, aber dennoch nicht uneben. Die Zeit verstrich und weiterhin nichts als Stille und Dunkelheit. Nur die Kälte kroch langsam unter mein dunkelgrünes Shirt und meine schwarze Halbhose. Ich begann zu zittern.
Das war doch ein Traum! Wie konnte das sein?!
Langsam kam die Panik wieder in mir hoch und ich zitterte noch heftiger. Ich konnte mich nur an wenige Träume erinnern, die ich bewusst miterlebt hatte. Aber in keinem, wirklich nie, hatte ich auch nur ansatzweise so gefroren wie jetzt gerade. Um ehrlich zu sein, hatte ich in keinem meiner bisherigen Träume irgendetwas wahr genommen, außer Angst, Wut, Freude, Trauer und anderen Gefühlen. Mein Körper, der wahrscheinlich gerade in der Universität lümmelte und den Tisch mit einer Speichelpfütze bedeckte, könnte auch nicht frieren, was die einzig logische Erklärung wäre.
Es war Sommer, es war heiß! Warum also fror ich?!