Ihr beide macht heute aber wirklich einen schrecklichen Lärm«, sagte Madlaina, während sie einen Faden um ein weiteres, sorgfältig zurechtgestutztes Thymiansträußchen schlang und verknotete. Ravena griff nach einem Korb und half ihrer Kammerfrau, die fertig gebündelten, würzig duftenden Sträußchen hineinzupacken.
Tarun, der Älteste von Ravenas Findelkindern saß bei ihnen und zupfte Scharpie. Jetzt jedoch blickte er von seiner Arbeit auf und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.
Warum beschwert sie sich, schien sein Blick zu sagen. Wir haben doch gar nichts miteinander gesprochen.
Ravena lächelte flüchtig. »Genau das stört unsere gute Madlaina ja so sehr. Wir beide sind ihr zu schweigsam. Sie unterhält sich eben gerne bei der Arbeit.«
Für dieses Ansinnen hatte Tarun nur ein Achselzucken übrig. Mit seinen Händen malte er eine kurze Folge von Zeichen in die Luft, Worte ändern nichts, bevor seine braunen Finger fortfuhren, mit schnellen Bewegungen Scharpie zu zupften und zu akkuraten kleinen Knäueln zusammenzurollen.
Wie schwarzer Siegellack schimmerte sein Haar im schwachen Sonnenlicht. Sein fein geschnittenes Gesicht lag im Schatten, doch Ravena sah, wie er die Lippen bewegte, während er sich nach einer lautlosen Melodie wiegte. Wenn es mir nur gelingen würde, herauszufinden, warum er nicht spricht, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut. Ich weiß doch, dass er es kann.
Als sie ihn vor beinahe einem Jahr verletzt in den Bergen gefunden hatte, war er von hohem Fieber geschüttelt worden. Drei Tage und drei Nächte hatte sie erbittert gegen das Fieber gekämpft, hatte Stunde um Stunde an seinem Lager gewacht, seinen Körper mit Lavendelwasser abgerieben, während er in seinem Delirium ständig unverständliche Dinge vor sich hin gemurmelt hatte. Daher wusste sie, dass er nicht stumm war. Aber so sehr sie ihn auch ermunterte und lockte – seit er genesen war, drang nicht ein einziger Laut über seine Lippen.
Die beiden Frauen und der Junge saßen in der Kräuterkammer der Burg Rocca d’Aquila, einem hellen Turmzimmer, das von den Burgleuten ehrfürchtig nur die Apotheke der Baronin genannt wurde, und bereiteten die Kräuterernte des Morgens zum Trocknen vor.
Der Raum – trocken, gut belüftet und ausgestattet mit Läden, die genau passten – enthielt ein hohes Regal an der Wand, das fast überquoll vor Töpfen und tönernen Amphoren, Keramiktiegeln und Beutelchen mit Kräutern und orientalischen Heilmitteln, Pergamentröllchen.
Von dem betäubenden Duft wurde den meisten Besuchern erst einmal schwindelig, deshalb brachte Ravena außer Madlaina und Tarun auch selten jemand mit hierher. Neben dem Regal stapelten sich in einer geöffneten Truhe Bücher und Folianten, Ravenas mühsam zusammengetragenes Arsenal des Wissens. In der Ecke stand ein Lesepult, auf dem ein dicker Foliant aufgeschlagen lag. Es gab außerdem zwei Arbeitstische, Mörser und Stößel, Kohlepfannen und Trockengestelle. Der Zimmermann von Rocca d´Aquila hatte weitere Gestelle angefertigt, die von der Decke hingen sowie einen kleinen Schemel, damit sie sie erreichen konnte. Kräuter und Blumen hingen in Büscheln herab. Wenn Ravena nicht mit den Falken oder ihrer ständig wachsenden Schar von Waisenkindern beschäftigt war, verbrachte sie sehr viel Zeit hier oben, um Heiltränke und Salben herzustellen. Ravena liebte ihre Kräuterkammer. Ein spezielles Regal in der Ecke des Raumes war mit einem schweren Vorhang versehen, damit die empfindlichen Pflanzen vor dem schwachen Sonnenlicht geschützt waren, das durch die Fenster drang.
Sie ging zu dem Lesepult in der Ecke und trug die neu gesammelten Kräuter in ihre Bestandsliste ein, bevor sie sie mit Madlainas Hilfe zu den anderen an die Gestelle hängte.
»Das sollte eine Weile reichen«, meinte sie zufrieden. »Morgen beginnen wir mit der Herstellung der Salbe gegen raue Hände. Stell dir nur vor, Madlaina, allein Jaccopo hat zehn Tiegel für den Markt in Trento bestellt. Mit dem Erlös daraus können wir endlich die Schafe ersetzen, die wir an die Wölfe verloren haben. Isabeau braucht schon lange neue Schuhe, die Köchin möchte eine neue Pfanne und Pfeffer haben wir auch nicht mehr viel in der Vorratskammer…«
Madlaina schüttelte den Kopf. »Sag mir eins, Ravena. Wann hast du zum letzten Mal etwas Hübsches für dich gekauft? Vor einem Jahrhundert? Oder ist es gar noch länger her?«
»Ich habe alles, was ich mir wünsche.«
Grimmig wanderte Madlainas Blick über Ravenas Gesicht. »Warum nehme ich dir das jetzt nicht ab, meine Liebe?«
Ravena hielt in ihrer Arbeit inne. »Ja, warum eigentlich nicht?«
»Seit du von diesem Besuch bei deiner Freundin zurück bist, bedrückt dich etwas. Das kann ich sehen. Du stehst stundenlang am Fenster und träumst vor dich hin, wenn du denkst, dass keiner es sieht. Schweigsam bist du geworden. Man möchte fast glauben, dass du mit dem Jungen darum wetteiferst, wer am längsten ohne Worte auskommt. Sag mir also nicht, dass du glücklich bist.«
Tarun hob erneut den Blick und sah erst Madlaina und dann seine Pflegemutter an. Ravena lächelte ihm zu. Darauf legte er die Hand an sein Herz und neigte nur ernst den Kopf.
»Siehst du«, sagte Madlaina, »selbst der Junge teilt meine Meinung.«
Mit zitternden Beinen stieg Ravena von ihrem Schemel und ließ sich darauf sinken. Nach fünf Tagen Einerlei auf der Burg erschien ihr der Morgen am See inzwischen seltsam unwirklich. Nur, dass sie vor diesem Tag ein Leben geführt hatte, in dem ihr nicht zwei goldbraune Augen den Schlaf raubten oder der Gedanke an einen Kuss Schauder über ihren Rücken jagen ließ.
Sie hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber Madlaina kannte sie einfach zu gut. Verlegen biss Ravena sich auf die Lippen. »Ich fürchte, ich habe mich ziemlich dumm benommen, Madda. Aber ich habe noch nie einen Mann getroffen, der Rafael so ähnlichsah, wie dieser Fremde, dem ich in Segeste begegnet bin. Ich war so sicher, er wäre es, deshalb habe ich … ach verwünscht!«
»Ich glaube, du erzählst mir besser die ganze Geschichte.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, erwiderte Ravena und berichtete in knappen Worten, was sich am See zugetragen hatte.
Unwillig schüttelte Madlaina den Kopf. »Vierzehn Jahre, Ravena! Wie kannst du da noch Hoffnung haben, deinen Bruder zu finden? Selbst wenn er noch lebt - du könntest auf der Straße an ihm vorbeigehen, ohne ihn zu erkennen.«
»Oh, bitte Madlaina, sag so etwas nicht! Ich würde es doch fühlen, wenn Rafael nicht mehr am Leben wäre, ich…«
Vor Aufregung verschluckte sie sich, hustete, krächzte: »Bitte sag es nicht, bitte …«, und spürte Taruns Finger, die sich tröstend über ihre Hand legten.
Madlaina sah sie von der Seite an. »Trotzdem – in diesen See zu reiten war dumm und gefährlich. Was soll den aus den Kindern werden, wenn dir etwas zustößt?«
»Mir ist aber nichts zugestoßen«, erwiderte Ravena unwirsch. »Ich konnte die Ähnlichkeit dieses Mannes mit Lucca unmöglich ignorieren. Mein ganzes restliches Leben lang hätte ich mir Vorwürfe gemacht, wenn ich es nicht versucht hätte … ich…«
»Ähnlichkeit mit Lucca?«, unterbrach Madlaina entrüstet. »Mit diesem Bastard, der sich nicht gescheut hat, seine eigenen Kinder in die Sklaverei zu verkaufen?«
Ravena kämpfte tapfer gegen den dicken Kloß, der plötzlich in ihrem Hals saß. »Lass es gut sein, Madda. Bitte. Rafaels äußerliche Ähnlichkeit mit seinem Erzeuger ist der einzige Anhaltspunkt, den ich habe. Verstehst du? Und dieser Mann sah Lucca so unglaublich ähnlich, dass ich wirklich dachte, er …«
Ihre Stimme wurde immer leiser und selbst für ihre Ohren zitterte sie ganz eigenartig. »Als ich dann seine Augen sah … sie waren braun und nicht silbergrau … da wusste ich, dass wieder einmal alles umsonst gewesen war. Aber die Enttäuschung schmerzt jedes Mal mehr …«
»Du solltest daran denken, dich wieder zu verheiraten.« Madlaina wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und sah ihre Freundin eindringlich an. »Du brauchst einen Mann, der dein Bett warmhält. Dann würdest du nicht so oft an deinen Bruder denken. Das kommt nur daher, weil du einsam bist.«
»Das bin ich nicht!«, platzte Ravena heraus und hieb mit der Faust auf die Arbeitsplatte. Wie konnte Madlaina nur immer von einer neuen Heirat reden, wo sie doch genau wusste, dass es weit und breit keinen Mann gab, der ihr die gleichen Freiheiten einräumen würde, wie der verstorbene Baron Bruno?
Da glitt Tarun von seinem Sitz, kniete vor ihrem Schemel nieder, nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. In seinen Augen standen Tränen.
»Wie kann ich einsam sein, wenn ich einen Jungen wie Tarun habe?«, flüsterte Ravena erstickt. »Ich muss aufhören mit diesen Fantastereien. Aber ich hatte nach meiner Flucht aus dem Kloster ein gutes Leben. Messer Antonio hat mich aufgenommen und behandelt wie eine eigene Tochter. Der Haushalt eines Gewürzhändlers war der beste Ort, den ich mir wünschen konnte, um dort aufzuwachsen. Stell dir nur vor, ohne Messer Antonio hätte ich einen Medico wie Meister Arel nie kennengelernt …« Sie hielt inne. »Im Kloster hat Rafael mich beschützt. Er hat oftmals die doppelte Bestrafung ertragen, damit Lucca mich in Ruhe lässt, hat mich getröstet, wenn ich vor Furcht nicht schlafen konnte, sein Brot mit mir geteilt, obwohl es dann für ihn selber kaum genug war. Fast schäme ich mich, so viel Glück gehabt zu haben. Weißt du Madda, die Trennung wäre so viel leichter zu ertragen, wenn ich nur sicher sein könnte, dass sich jemand seiner angenommen hat, so wie es Messer Antonio und Bruno bei mir getan haben.«
Versonnen starrte sie vor sich hin und strich über Taruns schwarzen Schopf. »Ich vermiss ihn wirklich sehr«, sagte sie dann und seufzte. »Aber mit jedem Monat, der vergeht, schwindet die Wahrscheinlichkeit dahin, dass ich etwas über ihn herausfinde. Das weiß ich. Trotzdem kann ich nicht aufhören zu hoffen.« Sie ergriff Taruns Hände und half ihm beim Aufstehen. »Wo bleibt eigentlich Dinêl?«, fragte sie plötzlich.
Im gleichen Moment schlugen die Jagdhunde in ihrem Zwinger an. Leute liefen über den Hof, das Tor wurde aufgezogen. Ravena eilte zu der Fensteröffnung und stieß den Laden auf.
»Madda – Tarun, schaut, Dinêl kommt zurück! Jeden Moment muss er in den Hof reiten. Lasst uns hinuntergehen und hören, welche Nachrichten er mitbringt!«
Madlaina ließ ihr Kräuterbündel sinken, klopfte sich ein paar Blätter aus der Schürze und eilte hinter Tarun und der Burgherrin die ausgetretenen Holzstufen in den Hof hinunter.
Vor dem Tor erklang Hufgetrappel. Falknergehilfe Dinêl war endlich zurück. Er lenkte sein stämmiges Gebirgspony bis in die Mitte des Hofes und stieg steifbeinig aus dem Sattel.
Ravena war auf der Treppe stehen geblieben mit Tarun zu ihrer Rechten und Madda auf ihrer linken Seite. Dinêl kam auf sie zu und verneigte sich vor seiner Herrin. »Sei gegrüßt, Herrin! Ich bringe schlechte Nachrichten von der Straße nach Trento. Das Donnergrollen, das wir vernommen haben, war eine Mure, welche die Hauptstraße unpassierbar gemacht hat. Die Verwüstungen sind schlimm. Es kann Wochen dauern, bis alles wieder frei ist.«
»Bist du sicher?«, unterbrach ihn Ravena. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Eine versperrte Hauptstraße hieß, dass viele Reisende den Weg durch ihr Tal nehmen würden. Reisende unterschiedlicher Herkunft und Gesinnung, die auf der Burg verköstigt und beherbergt werden mussten und denen während ihres Aufenthaltes Dinge zu Ohren kommen konnten, die sich besser nicht herumsprachen. Jeder Ritter ohne Land, jeder habgierige Baron, der erfuhr, dass eine unverheiratete Frau über Grundbesitz verfügte, würde sie sofort belagern und versuchen, ihre Burg einzunehmen, und sie selbst zur Ehe zu zwingen. Was wiederum viele Menschen das Leben kosten und dem Land einen enormen Schaden zufügen würde.
Ravena stieß einen Seufzer aus, bevor sie sich zusammenriss und Dinêl in die Küche schickte, um sich bei Jelscha der Köchin, seine wohlverdiente Mahlzeit abzuholen. Zwar war Rocca d´Aquila aufgrund seiner Lage auf einem leicht nach Süden abfallenden Plateau hoch über der Straße schwer einzunehmen. Wer die Burg angriff, musste ständig nach oben kämpfen. Ihr Nachteil war jedoch die geringe Größe der Burganlage; sie konnte nicht genug Bewaffnete beherbergen, um einer ernsthaften Belagerung dauerhaft standzuhalten.
Tarun warf seiner Pflegemutter einen besorgten Blick zu. Was sollen wir tun?, fragten seine Hände.
»Niemand darf erfahren, dass Rocca d´Aquila ohne männlichen Schutz ist«, sagte Madlaina unvermittelt. »Das würde sämtliche Glücksritter und Taugenichtse der Gegend auf den Plan rufen. Mag auch die Jahreszeit für eine Belagerung nicht die Richtige sein –wir könnten doch niemand davon abhalten, im Frühjahr mit einem Heer wiederzukommen. Vielleicht solltest du Rupert fragen, ob er noch einmal bereit wäre den Burgherrn zu mimen –, zumindest wenn wir Gäste haben.«
»Ich … ich weiß nicht recht«, sagte Ravena. »Beim letzten Mal habe ich schon Blut und Wasser geschwitzt, dass der Schwindel nicht auffliegt. Ich glaube, so eine Angst möchte ich nicht noch einmal aushalten müssen.«
Madlaina sah sie nachdenklich an, bevor sie sich wegdrehte. Ravena spürte, wie sie nach Worten suchte.
Doch Ravenna kam ihr zuvor. »Wie auch immer ich es drehe und wende – es läuft darauf hinaus, dass ich wieder heiraten muss, um uns alle zu schützen. Das ist es doch, was du denkst, nicht wahr?«
»Ravena – du entscheidest.«
Ganz still stand Ravena da, starrte weiter auf ihre verschränkten Finger. Krieg. Belagerung, Feuer, schreiende Menschen, weinende Kinder, einsamer Tod auf den Mauern einer eroberten Burg. Ein neuer Ehemann oder Krieg. »Ich werde an Meister Arel schreiben und ihn fragen, ob er bereit ist, für eine Weile die Stellung eines Barons einzunehmen.«
»Wie du meinst. Er sollte sich aber schnell entscheiden. Bevor die ersten Reisenden hier auftauchen.«
Madlainas Stimme klang hart. »Wenn erst einmal Gerüchte über unseren Mangel an männlichem Schutz im Umlauf sind, kann auch dein Meister Arel nichts mehr ausrichten.«
»Da hast du wohl recht. Ich werde den Brief gleich schreiben. Tarun, sei so nett und sieh nach Alessa und Desi. Ihre Schreibstunde fällt heute aus.« Damit machte Ravena auf dem Absatz kehrt und eilte in den Turm zurück.
Im Lager roch es nach Rauch und gebratenem Speck, doch die verlockenden Düfte weckten kein Hungergefühl in Nael, der langsam vom Feuer zu den Pferden schlenderte, dankbar, dass Rafaels Freund und Diener Peire nicht auf ihn achtete, sondern seine ganze Aufmerksamkeit der Zubereitung ihres Abendessens widmete.
Sie waren allein im Lager. Rafael und Roana waren vor einer Weile gemeinsam zwischen den Fichten verschwunden und Nael war sich sicher, dass sie nicht so bald wieder auftauchen würden.
Obwohl es ihm gelungen war, den Neid, der beständig mit scharfen Zähnen an ihm nagte, erfolgreich zu verbergen, war es doch eine Erleichterung, einmal nicht den misstrauischen Blicken seines Bruders ausgesetzt zu sein. Doppelt misstrauisch, seit er nach dem unglückseligen Zwischenfall am See nass bis auf die Haut nach Segeste zurückgekehrt und noch im Hof seinem Bruder in die Arme gelaufen war. Und Rafaels Argwohn schien auch auf Roana überzugreifen. Sie sah ihn oft an, als rechne sie jeden Moment damit, er könne aus dem Mund schäumend und mit zuckenden Gliedern dem Wahnsinn verfallen. Sie vermied es sorgfältig, mit ihm allein zu sein. Als ob er es wagen würde, sich ihr in unlautererer Absicht zu nähern!
Nie könnte er …
Nael schüttelte den Kopf. Was war er doch für ein armseliger Lügner. Gerade einmal vier Wochen war es her, dass er Roana mit einem Kuss völlig überrumpelt hatte, kaum dass Rafael einmal nicht in Reichweite gewesen war. Sie hatte sich nicht gewehrt, aber das war wohl mehr ihrer Überraschung zuzuschreiben, als dem tatsächlichen Wunsch ihn zu küssen.
Halt suchend lehnte er sich an sein Pferd. In seinem Kopf begann es zu rauschen. Er hatte es doch gewusst, die ganze Zeit hatte er es gewusst. Roana war nicht für ihn bestimmt. Ihre Wege mussten sich trennen. Der Himmel helfe ihm, beinahe verfluchte er den Tag, an dem er beschlossen hatte, sie bei der Suche nach ihrem verschwundenen Oheim zu unterstützen. Von Sizilien aus war er ihr bis zu diesem unglückseligen Ort irgendwo in den Alpen gefolgt, ohne etwas zu erreichen. Im Gegenteil. Roana hatte unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, für wen ihr Herz schlug, indem sie sich mit Rafael vermählt hatte. Anstand und Ehre geboten, dass er seine Niederlage akzeptierte und ruhig seiner Wege ging. Nael stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Wohin sollte einer wie er schon gehen? Er war ein Geächteter. Ein ruheloser Flüchtling, für den es keinen Platz gab, keinen Ort, an dem er sich niederlassen konnte. Und seltsamerweise gefiel ihm auch der Gedanke nicht, sich von seinem Bruder trennen zu müssen. Irgendwie hatte er sich an Rafaels Gegenwart gewöhnt. Auch wenn er die meiste Zeit das dringende Bedürfnis verspürte, ihm den Hals umzudrehen.
Nael griff in seine Satteltasche und förderte einen Weinschlauch zutage, der, wie er am Gewicht feststellte, noch fast voll war, und verließ damit das Lager. Unter den hohen Bäumen herrschte Halbdunkel. Es war so still, dass Nael für das knirschende Geräusch seiner eigenen Schritte dankbar war. Nur das Rauschen eines wilden Gebirgsbaches von irgendwo links drang zu ihm.
Eine Weile wanderte er einfach umher und hoffte, dass sich die magische Wirkung einstellen würde, die der Wald für gewöhnlich auf ihn ausübte. Aber er war zu sehr in seiner rastlosen Unzufriedenheit gefangen, um sich dem ruhigen Rhythmus der Natur hinzugeben. Eine Viertelmeile vom Lager entfernt ließ er sich unter einer Fichte nieder. Er lehnte sich gegen ihren Stamm, trank einen Schluck aus dem Schlauch und hustete. Der Herr von Segeste mochte ja ein reicher Mann sein, aber sein Wein war dünn und sauer wie Essig. Trotzdem nahm er noch einen Schluck und blickte hoch in die Baumkronen, die kaum Licht bis auf den Boden durchließen. Nael rutschte unruhig hin und her. Er war von einem Frieden umgeben, den er nicht zu teilen vermochte.
Es gab Zeiten, da konnte er sich, wenn ihn Sorgen oder Probleme plagten, vollkommen der leisen Musik im Wind raschelnder Zweige hingeben und mit dem Wald eins werden. Heute blieb ihm diese Fluchtmöglichkeit verwehrt. Trotzdem empfand er die Umgebung als beruhigend. Er holte tief Atem, nahm den würzigen Duft der Erde, der Farnblätter und der wild wachsenden Blumen in sich auf, deren süßes Aroma sich mit der kühlen, reinigenden Luft mischte, die von den Schneebergen herüberwehte.
Erinnerungen wie diese hatten ihn verfolgt, als er sich in quälender Einsamkeit auf der Ruderbank einer Triere abgemüht hatte; ein Verfolgter unter ehrbaren Bürgern, die sich freiwillig dazu verdingt hatten, für die Serenissima zu rudern, während es für ihn die letzte Fluchtmöglichkeit vor den Folgen seines schrecklichen Fehlers gewesen war.
Als erfolgreicher Absolvent der Universität von Salerno hatte er sich am Ziel seiner Wünsche geglaubt. Sein Können und seine Erfolge als Arzt brachten ihm sowohl Ruhm als auch Münzen ein. Frauen, Wein, kostbare Gewänder – nun konnte er sich endlich leisten, wonach auch immer ihm der Sinn stand. Die Welt gehörte ihm. Er lebte wie im Rausch, hatte bald das Gefühl, unbesiegbar zu sein.
Er genoss es, sich mit seinen Freunden dem Müßiggang hinzugeben und besonders der erfahrene Lucca war äußerst geschickt darin, sie mit immer neuen Abenteuern zu unterhalten. Der exotische Reiz verbotener Früchte schlug ihn in seinen Bann. Unter Luccas Anleitung erforschte er jedes nur denkbare Laster, verbrachte seine Nächte mit den verführerischen Schönheiten aus Luccas geheimem Harem, die ihn immer neue Spielarten der Liebe lehrten. Er hatte keinerlei moralische Bedenken sich mit diesen Frauen einzulassen, ja er fragte nicht einmal danach, wo die immer neuen Mädchen herkamen. Doch mit jeder verstreichenden Stunde spürte er, wie die Bedeutungslosigkeit und Leere seines Lebens ihn innerlich mehr und mehr aushöhlte. Zuerst verloren der Wein und die Nächte voller Leidenschaft ihren Reiz und wurden zu bedeutungslosen, sich ständig wiederholenden Ritualen. Und als die Leere ihn mit der Zeit fast völlig aufgefressen hatte, begann er die Haschischpfeifen zu lieben, die ihm für eine Zeit lang Vergessen schenkten. In seinen klaren Momenten wusste er, dass er irgendwann für alles würde bezahlen müssen, aber es wollte ihm nicht gelingen, auch nur einer der angebotenen Verlockungen zu widerstehen. Er lernte seine Abhängigkeit gleichermaßen zu fürchten und zu genießen und das war der Moment, in dem Lucca anfing, kleine Gefälligkeiten von ihm zu fordern. Eine Salbe hier, ein Medikament da, die Behandlung eines „Freundes“, nach dessen Namen er besser nicht fragte, und dergleichen Dinge mehr. Nach und nach jedoch wurden die Gefälligkeiten immer größer und Nael ging zum ersten Mal auf, in welchen Teufelskreis er geraten war. Aber da hatte Lucca schon die Frau in sein Haus gebracht. Nael war von dem Gast nicht begeistert, aber Lucca erzählte ihm eine rührselige Geschichte von einem rachsüchtigen Oheim, der gedroht hatte, die Frau zu töten, weil sie ohne Ehemann schwanger geworden war. Die einzige Möglichkeit zur Rettung sei die Tötung des Kindes.
Nael weigerte sich zuerst, aber Lucca wusste genau, wo seine Achillesferse lag, und nutzte sein Wissen aus, indem er seine Kompetenz als Arzt infrage stellte. Diese Behauptung konnte Nael unmöglich auf sich sitzen lassen. Er erklärte sich bereit, den Eingriff durchzuführen, obwohl er nur eine vage Vorstellung davon hatte, was zu tun war. Sein Studium hatte ihn nicht auf die Behandlung von schwangeren Frauen vorbereitet. Schon gar nicht auf irgendwelche Komplikationen.
Und natürlich hatte es Komplikationen gegeben. Die Frau war ihm unter den Händen verblutet, ohne dass ihm auch nur die geringste Möglichkeit geblieben war, etwas dagegen zu unternehmen.
Die Lektion des Scheiterns.
Aber es war noch schlimmer gekommen. Nur einen Tag später erfuhr er, dass Lucca ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte. Die Frau war sehr wohl verheiratet gewesen, mit einem reichen und einflussreichen Edelmann, der keinerlei Entschuldigungen gelten lassen würde, was die Entführung und den Tod seiner Gemahlin betraf. Lucca bot an, die Sache zu regeln, aber Nael war klar geworden, in welcher Lage er sich befand und dass er unverzüglich fliehen musste. Mit der Hilfe seines Stiefvaters gelang es ihm, als Ruderer auf einer venezianischen Galeere unterzukommen und so seinem Verfolger zu entgehen.
Damit hatte er zwar sein Leben gerettet - aber gleichzeitig alles verloren, was ihm lieb und teuer gewesen war. Um seine Familie nicht zu gefährden, durfte er weder den Namen seiner Mutter noch den seines geliebten Stiefvaters benutzen. Er wurde zu Nael, dem Mann ohne Herkunft. Und diese Wunde schmerzte, mehr als er es jemals für möglich gehalten hatte.
In der Hoffnung, die unliebsamen Erinnerungen verscheuchen zu können, nahm Nael noch einen tiefen Schluck Wein. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an den Baumstamm, als er plötzlich hörte, dass sich Schritte näherten. Der langsame Gang verriet ihm, dass es sich nicht um einen Notfall handeln konnte, und selbst wenn er den leisen Tritt nicht sofort erkannt hätte – nur einer würde von sich aus kommen, um nach ihm zu sehen, obwohl er offensichtlich allein sein wollte.
Sein Halbbruder Rafael war nicht nur der Einzige, der sich das Recht herausnahm, ihn zu stören, sondern er war auch derjenige, der sich immer wieder um einen Ausgleich zwischen ihnen bemühte. Wenn es ihm angebracht erschien, würde Rafael stundenlang bei ihm sitzen, ohne dass ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. In den vergangenen Tagen war Nael ihm bewusst aus dem Weg gegangen. Deshalb würde, so vermutete er, Rafael ihm heute Abend einiges zu sagen haben.
Er öffnete die Augen und sah den Mann, der sich ihm gegenüber niederließ, vorwurfsvoll an, dann griff er nach dem Weinschlauch, nahm noch einen Schluck, und gab den Schlauch an Rafael weiter. Rafael roch nur einmal an dem Wein, verzog das Gesicht und legte den Schlauch beiseite.
»Seit wann begnügst du dich mit solchem Essig? Versuchst du dich, neben deiner Trinkerei jetzt obendrein noch selbst zu bestrafen?«
Nael grinste. »Würde dir das nicht gefallen?«
»Mir würde gefallen, wenn du dich soweit zurückhalten könntest, dass du wenigstens halbwegs vernünftig bleibst.«
»Nur halbwegs?«
»Schütte noch mehr von diesem Zeug in dich hinein, und du weißt spätestens um Mitternacht nicht mehr, was du tust. Ich bin es leid, mich ständig fragen zu müssen, wohin du verschwindest.«
»Dann tu´s einfach nicht. Es geht dich ohnehin nichts an.«
»Da irrst du dich, mein lieber Bruder. Es geht mich durchaus etwas an. Vor allem, da deine Ausflüge keineswegs so harmlos sind, wie du mich glauben machen willst. Dieses Mal will ich vorsorgen.«
»Du weißt also schon im Voraus, was ich tun werde? Interessant. Bist du neuerdings unter die Wahrsager gegangen?«
»Dazu muss man kein Wahrsager sein, Nael. Trink nur genug von diesem Gift, dann bist du nicht mehr zu halten. Weiß der Himmel, was für einen Unfug du dir dann in den Kopf setzt.«
»Du übertreibst.«
»So? Dann verrate mir doch, wohin du in Segeste verschwunden bist. Du kommst zurück, nass bis auf die Haut und mit einem Ausdruck im Gesicht, als hättest du eine Erscheinung gehabt. Würdest du mir freundlicherweise dafür eine Erklärung liefern?«
Nael spürte plötzlich ein Prickeln auf der Haut. »Machst du dir wegen meiner nassen Kleider oder wegen meines Gesichtsausdruckes Sorgen?«
»Wegen beidem schätze ich«, sagte Rafael.
Nael zuckte mit gespielter Gleichgültigkeit die Achseln, doch seine Augen wichen dem nachdenklichen Blick seines Bruders aus. »Es hat an dem Morgen geregnet.«
»Herrgott noch mal, Nael. Wenn du – wenn du schon glaubst, mich anlügen zu müssen – dann überlege dir wenigstens vorher, was du sagen willst. Ich weiß nicht, was du tatsächlich getan hast - Himmel, ich will es auch gar nicht wissen – aber es treibt mich zur Weißglut, dass du glaubst, mich mit derart offensichtlichen Lügen abspeisen zu können – und behaupte nicht, es wären keine!«
Nael starrte seinen Bruder an, erschrocken über diesen Ausbruch und die Wut in seiner Stimme. Und dann nahm Rafael sein Handgelenk und umschloss es mit allen Fingern.
»Sag mir eines Nael – sag mir ins Gesicht, dass du dich nicht selbst in Gefahr gebracht hast.«
Ungläubig starrte Nael seinen Bruder an und entriss ihm seine Hand. »Was redest du da, Rafael? Verschwinde, lass mich in Ruhe!«
Rafael packte seine Arme und hielt sie fest. »Hör mich an! Du lebst jetzt, und du hast nur dieses eine Leben - es liegt in deiner Hand, was du damit anfängst. Wirf es nicht leichtfertig weg, für einen Traum, der niemals wahr werden kann! Sei ein einziges Mal ehrlich zu dir selbst – dann wirst du erkennen, dass es gar nicht Roana ist, nach der du dich sehnst, sondern jemand ganz anderes …«
Jemand ganz anderes … Nael war es, als würde sich das Blut in seinen Adern auf einmal in flüssiges Feuer verwandeln. Mit einem Seufzer entzog er Rafael seine Arme, lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. Ungebeten drängte sich das Bild der Frau vom See in seine Gedanken.
Er wusste, dass ihre mit Wut vermischte Verachtung ihn ebenso angezogen hatte wie ihre Schönheit. Einen Moment lang schien sie ihm alles zu sein, was er je verloren, alles, was man ihm genommen hatte. Er hatte sich all das zurückholen wollen, hatte das unstillbare Verlangen verspürt, die kühle Abwehr, die in ihren Augen stand, zu brechen und sie zu berühren, ihre Seele durch ihren Körper zu erobern. Er erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl ihres hart gegen den seinen gepressten Körpers, spürte erneut die seidige Beschaffenheit ihrer Lippen, die sich unter dem Druck seines Mundes öffneten. Es war zwar nur der Anflug einer Reaktion gewesen, aber er hätte schwören können, dass sein Kuss sie nicht kalt gelassen hatte.
Aber was für eine Rolle spielte das schon? Er musste aufhören mit diesen Tagträumen. Er konnte einer Frau kein ehrbares Leben bieten, keinen guten Namen für die Kinder, die Gott ihr vielleicht schenken würde. Er war ein Flüchtling, dem man alles genommen hatte, den Namen, die Ehre, der nichts mehr hatte außer dem nackten Leben. Und das war nicht viel wert.
Rafael bewegte sich und Nael schlug die Augen auf.
Nur zu gern hätte er den Wein wiedergehabt, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er danach griff, solange sein Bruder ihn beobachtete. Stattdessen lächelte er verzerrt.
Er erinnerte sich mit quälender Deutlichkeit an den Tag, an dem er als Flüchtling ins Haus seine Eltern geschlichen war. Sein Stiefvater hatte ihn immer gerecht behandelt. Nie hatte er seine eigenen Söhne vorgezogen, nie ihnen etwas gewährt, was er nicht auch seinem Stiefsohn gewährt hätte. Aber bei der Geschichte, die Nael ihm beichtete, musste er sich schwer zurückhalten, um seinem Schmerz und seiner Wut nicht freien Lauf zu lassen, obwohl er kein einziges Wort des Vorwurfs äußerte. Aber Nael verstand auch so. Dieses Mal würde er noch Hilfe erhalten – danach war er auf sich allein gestellt. Für seine Familie würde er aufhören zu existieren.
»Peire wird das Essen fertig haben. Gehen wir«, sagte Rafael und holte ihn mit seinen Worten in die Gegenwart zurück.
Nael verspürte immer noch keinen Appetit, wusste aber, dass er etwas essen musste. Widerwillig stand er auf und folgte Rafael durch den Wald zu der Lichtung.
Aber noch bevor sie am Feuer ankamen, wurde klar, dass etwas nicht stimmte. Peire saß mit schmerzverzerrtem Gesicht an eine Fichte gelehnt da, während Roana sich über seine Füße beugte. Rafael eilte an die Seite seines Freundes. »Kaum lässt man dich einen Moment aus den Augen, machst du Unfug«, sagte er. »Was ist geschehen?«
»Mein Fuß … bin in ein verdammtes Loch getreten.«
Vorsichtig entfernte Rafael Peires Schuh und Beinling. Der Sänger stöhnte durch zusammengebissene Zähne.
»Nael, komm her«, sagte Rafael in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Nael schloss die Augen, ballte die Hand zur Faust und zwang sich, an nichts zu denken. Die unliebsamen Erinnerungen verschwanden aus seinem Kopf, und als er die Augen wieder öffnete, fühlte er sich einigermaßen wieder wie Nael, der Medikus. Er hockte sich neben Peire auf den Boden und begann mit der Untersuchung. Obwohl er behutsam vorging, funkelte Peire ihn böse an und stieß eine Reihe von Flüchen aus.
»Ich muss das Gelenk einrichten«, erklärte er schließlich. »Ich fürchte, das wird ziemlich schmerzhaft werden.«
Peire antwortete nicht, aber sein Blick schien eine sehr beredte Sprache zu sprechen, den Nael seufzte tief, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und machte eine müde Geste auf das Lagerfeuer. »Schaffen wir ihn erst einmal hinüber. Sonst verkühlt er sich noch zusätzlich sein knochiges Hinterteil.«
»Ich hole deinen Medizinkasten«, sagte Roana und eilte davon. Nael und Rafael hoben Peire vom Boden auf und schleppten ihn zum Feuer. Roana hatte Peires Bettzeug ausgebreitet und die Männer legten den Sänger darauf.
»Willst du etwas gegen die Schmerzen?«, fragte Nael.
»Nein, verdammt«, knurrte Peire. »Tu einfach, was du tun musst.«
»Halte ihn fest, Rafael«, befahl der Medikus. »Wenn er zuckt, oder anfängt sich zu bewegen, kann ich nicht vernünftig arbeiten.«
Rafael kniete sich hinter den Freund und schob ihm die Hände unter Nacken und Hinterkopf, wie um ihm zu einer bequemeren Lage zu verhelfen. Im nächsten Moment jedoch sank Peire leblos in sich zusammen.
Nael riss den Kopf hoch. »Herrgott noch mal, Rafael! Bist du wahnsinnig?«
Rafael verzog das Gesicht. »Peire ist manchmal einfach zu stur, um zu wissen, was gut für ihn ist. Ich wollte nicht, dass er unnötig Schmerzen aushalten muss.«
Für einen Moment verlor Nael den Kontakt zu dem Teil seines Selbst, der des Sprechens mächtig war. Alles schien unendlich weit weg. Verdammt er musste sich konzentrieren!
Er beugte sich über Peires Körper und tastete nach einem Puls. Erleichterung durchflutete ihn, als er das sanfte Pochen unter seinen Fingerspitzen spürte. »Den Göttern sei Dank! Er ist nur bewusstlos. Für einen Moment dachte ich …«
»Ja?« Rafaels Blick haftete scharf und durchdringend auf seinem Gesicht. »Was hast du gedacht?«
Nael verschränkte die Arme vor der Brust und starrte seinen Bruder an. Er konnte spüren, wie der Zorn purpurrote Flecken in sein Gesicht brannte.
Rafael schüttelte sanft den Kopf. »Nael, Nael. Wofür hältst du mich? Hast du tatsächlich geglaubt, ich könnte meinen besten Freund umbringen?«
»Wofür ich dich halte? Für einen Bastard des Teufels! Kein sterblicher Mensch würde es wagen solche lebensgefährlichen Methoden anzuwenden! Eine Winzigkeit zu viel Druck hätte genügt, um ihn zu töten!«
»Du scheinst ziemlich gut Bescheid zu wissen, großer Bruder«, erwiderte Rafael sanft. »Was für ein Unterschied besteht da zwischen dir und mir?«
»Ich bin ausgebildeter Medikus.« Seine Stimme bebte vor Zorn, ohne dass er es verhindern konnte. »Du bist keiner.«
»Stimmt«, gab Rafael mit eiserner Gelassenheit zurück. »Ich bin nur ein ausgebildeter Mörder. Anscheinend gibt es da wohl einige Gemeinsamkeiten im Lehrplan.«
Naels Gesicht fiel in sich zusammen. Seine Arme hingen wie Stöcke an seinen Seiten. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Grundgütiger, Rafael! Sei froh, dass deine Gemahlin das jetzt nicht gehört hat.«
»Was nicht gehört hat?«, fragte Roana und stellte die Medizinkiste neben Peires Lager ab.
»Dein Ehemann redet Unsinn«, murmelte Nael. Er ließ sich neben Peire auf die Knie sinken und begann mit geübten Griffen das Gelenk abzutasten. Roana wollte eine Frage stellen, aber Nael brachte sie mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. Er machte sich eine Weile an Peires Fuß zu schaffen und Roana erschienen seine Bemühungen wie der unmögliche Versuch, Peires Bein allein durch Muskelkraft in die Länge zu ziehen.
Endlich stieß er einen erleichterten Seufzer aus und wischte sich mit einem Zipfel seiner Djelaba den Schweiß von der Stirn. »Das Wichtigste wäre geschafft«, murmelte er.
Er suchte in seiner Medizinkiste nach einem Fläschchen Rosenöl, rieb das Gelenk damit ein und bedeckte es dann mit einem feinen Leintuch, auf das er ebenfalls einige Tropfen Rosenöl träufelte. Roana erhielt den Auftrag, eine Mischung aus Wasser und Wein herzustellen, die Nael benutzte, um einige Leinenstreifen anzufeuchten. Er bandagierte das verletzte Glied, und da nichts anderes zur Hand war, mussten zwei von Roanas ledernen Messerscheiden herhalten, um das Gelenk ruhigzustellen.
»Das ist alles, was ich im Moment tun kann«, erklärte er schließlich. »Wir sollten versuchen, so schnell wie möglich eine Ansiedlung zu erreichen. Der Fuß braucht Ruhe, Ruhe und noch einmal Ruhe.«
In diesem Moment schlug Peire die Augen auf und versuchte sich aufzurichten.
»Liegenbleiben!«, befahl Rafael.
»Was … was war den los?«, murmelte der Sänger. »War ich tatsächlich – bewusstlos? Warum?«
»Ich habe nachgeholfen«, sagte Rafael und drückte ihn sanft auf seine Decke zurück. Nael warf seinem Bruder einen kurzen giftigen Blick zu, bevor er sich Peire zuwandte. »Willst du jetzt etwas gegen die Schmerzen?«
»Würde es dich zufriedenstellen, wenn ich ja sage?«, gab Peire zurück.
»Ich bin kein Anhänger der These, dass Schmerz eine Strafe Gottes ist, die jeder Mensch gefälligst klaglos zu ertragen hat.« Nael füllte einen Becher mit Wein, fügte ein braunes Kügelchen aus seinem Medizinkasten hinzu und rührte sorgfältig um.
Schließlich reichte er Peire den Becher. Der Sänger leerte ihn kommentarlos und schlief bald danach ein.
Roana verteilte Brot und Speck. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie zögernd.
Nael musterte sie aufmerksam. Sie war blass um die Nase und knabberte an ihrem Brot herum wie eine Maus.
Sie war guter Hoffnung und Nael wusste, dass sie oft von heftiger Übelkeit geplagt wurde, auch wenn sie nie ein Wort darüber verlor. Ein paar Tage Ruhe auf einer Burg würden auch ihr nur guttun.
»Wir müssen so bald als möglich eine Unterkunft finden«, sagte Nael. »Peire darf den Fuß auf keinen Fall belasten. Normalerweise verordne ich Patienten mit solchen Verletzungen strenge Bettruhe.«
»Na wunderbar«, murmelte Roana. »Und wie soll das gehen?«
»Wir werden eine Unterkunft finden«, sagte Rafael. »Lasst uns jetzt aufbrechen.«
Roana löschte das Feuer und verstaute das Gepäck, während die Männer Peire in Roanas Reisesänfte betteten.
Der dunkel gekleidete Mann starrte konzentriert zwischen den Stämmen der Bäume hindurch. Kopf und Gesicht waren hinter einem Tuch verborgen, das nur die Augen freiließ. Alles, was er sah, war in Dämmerlicht getaucht: die Reisesänfte, die Pferde – ja selbst die drei Männer und die Frau.
Der Dunkle beobachtete den Medikus, der sich am Fuß seines gestürzten Reisegefährten zu schaffen machte. Auch der zweite Mann beugte sich über den Gestürzten und redete auf den Medikus ein. Der Klang trug weit in der Stille, ohne dass die einzelnen Worte zu verstehen waren. Aber das war nicht von Bedeutung. Worte waren nicht wichtig.
Der Dunkle hielt einen Bogen in der Hand, doch die Pfeilspitze zeigte zu Boden, die Sehne war nur locker gespannt. Die Frau bewegte sich hektisch hin und her und geriet immer wieder in seine Schussbahn. Normalerweise hätte ihn das nicht aufgehalten. Doch sein Auftrag war sehr präzise formuliert. Abweichungen wurden nicht geduldet.
Er wartete.
Irgendwo hinter ihm, in den Tiefen des Waldes, war das Geschrei eines Vogels zu hören, gefolgt von heftigem Geflatter. Der Dunkle hielt nach Anzeichen dafür Ausschau, dass die Männer etwas gehört hatten, doch sie widmeten sich weiter ihrer Beschäftigung, während die Frau hin und her eilte, um herbeizubringen, was einer der Männer mit einer Geste oder einem knappen Wort verlangte.
Er bewegte sich leicht und vollkommen geräuschlos, um sich in eine bessere Schussposition zu bringen. Plötzlich hob der zweite Mann den Kopf und starrte mit durchdringendem Blick genau in seine Richtung, als wisse er um die im Unterholz verborgene Gefahr.
Der Dunkle verzog die Lippen zu einem grausigen Lächeln. Das war nicht möglich. Er war ein Schatten, ein Dämon, den niemand bemerkte, bevor es zu spät war. Doch da er den Ruf des Mannes kannte, der zu ihm herüberstarrte, beschloss er, sich zurückzuziehen. Sein Zeitplan ließ ihm genug Raum, den perfekten Moment abzuwarten. Und dieser Moment würde kommen.
Bald.
Der Platz, an dem sich Peires Unfall zugetragen hatte, blieb rasch hinter ihnen zurück, als ein schmaler Waldgürtel sie aufnahm. Auf ihrer Reise waren sie durch zahlreiche Wälder wie diesen gekommen, und viele davon waren größer und dunkler gewesen, als diese Ansammlung von Tannen, dennoch konnte Nael das seltsame Unbehagen nicht abschütteln, das dieser Ort in ihm auslöste. Da war etwas an diesem Wald, das ihn irritierte, ohne dass er genau sagen konnte, was. Er fühlte sich wie ein Wild im Visier des Jägers. Doch sobald er sich umsah, war da – nichts. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass jemand - oder etwas ihnen folgte.
Sie waren vielleicht eine Meile weit gekommen, als der Wald zurückwich und sich zu einem weiten Tal öffnete. Inmitten blumenübersäter Wiesen lag ein stiller See, in dem sich die Wolken spiegelten. Die Luft war ungemein klar und die Sonne brannte heiß herunter.
Nael zügelte seinen Hengst, stieg aus dem Sattel und bedeutete Rafael durch Gesten, weiterzureiten. »Ich will mir nur rasch diese heilkräftigen Pflanzen hier ansehen«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern.«
Roana wollte Einwände erheben, doch Rafael unterbrach sie mit einem angedeuteten Kopfschütteln. Lass ihn machen.
Roana widersprach nicht, sondern sah den Medikus nur einen Moment lang ärgerlich an, bevor sie ihr Pferd antrieb und ihrem Gemahl folgte.
Nael wandte sich dem Wegesrand zu, ging in die Hocke und begann, die Pflanzen zu untersuchen, doch es gelang ihm nicht, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Ungewollt folgte sein Blick der Gestalt Roanas, deren kränkliches Aussehen ihm gar nicht gefiel. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie in Rafaels Beisein zu fragen, ob sie erneut unter Bauchkrämpfen litt. Sie würde es leugnen, aber ihm war nicht entgangen, wie oft sie die Zähne in ihre Unterlippe grub, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Nael nahm sich fest vor, ihr bei der nächsten Gelegenheit ernsthaft ins Gewissen zu reden.
Der Schatten folgte den Reitern mühelos in sicherem Abstand durch das Tal, da die Spuren, die die Pferdehufe im Gras hinterließen, sich als gut sichtbarer dunkler Strich abzeichneten. Ein weniger geduldiger Mann hätte vielleicht versucht, in dem weiten, offenen Tal an den Medikus heranzukommen. Doch das tat er nicht. Er war Ash´abah, der Geist, und er hatte gelernt, einen Gegner niemals zu unterschätzen. Seine Ausbildung glich jener, die auch der jüngere der beiden Männer durchlaufen hatte. Er kannte die Geschichten, die über Malik al Maut, den Engel des Todes kursierten. Auch wenn ihm einiges davon übertrieben erschien, würde er sich nicht zu einer übereilten Tat verleiten lassen.
Um ganz sicher zu gehen, hielt er ausreichenden Abstand, damit neugierige Augen ihn vor dem Hintergrund des blauen Himmels nicht entdecken konnten. Er hatte Zeit. Und er besaß Geduld und die nötige Disziplin, um dem Medikus so lange zu folgen, bis Zeit und Umstände genau dem entsprachen, was sein Auftraggeber verlangte.
Sobald Rafael und Roana aus seinem Sichtfeld verschwunden waren, ließ Nael die Blätter der Heilpflanzen fahren und starrte konzentriert in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ohne einen Grund dafür nennen zu können, spürte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war ein Gefühl, etwas, das mit Worten nicht zu erklären, aber von einer fast greifbaren Intensität war.
Nüchtern betrachtet waren seine Ahnungen unmöglich. Bei der klaren Luft und der ungehinderten Sicht über das Tal hätten sie jeden Verfolger schon vor Stunden sehen müssen. Doch so sehr er sich auch bemühte etwas zu entdecken - das Tal hinter ihm blieb leer.
Ist es das?, dachte er. Der Wahnsinn? Werde ich verrückt?
Aber eine eindringliche Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass er nicht verrückt war. Dass es die Bedrohung wirklich gab und er besser daran tat, Rafael von seinem Verdacht zu erzählen.
Doch dann schüttelte er über sich selbst den Kopf. Sein Bruder würde ihn bestenfalls belächeln, wenn er mit nichts Anderem als vagen Vermutungen aufzuwarten vermochte. Und mehr hatte er ja nicht. Ahnungen, Gefühle – Hirngespinste? Vielleicht hatte Rafael recht und er war tatsächlich schon so weit gesunken, dass sein Verstand ihm Dinge vorgaukelte, die gar nicht da waren.
Schwerfällig stieg er in den Sattel und drängte sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck herum. Der Hengst schnaubte, warf nervös den Kopf in den Nacken und scharrte mit den Vorderhufen im Gras. Nael blickte unwillkürlich über die Schulter, aber der Weg hinter ihm war noch immer leer. So abgelenkt war er von seinen Befürchtungen, dass er zunächst gar nicht bemerkte, dass der Wind sich gelegt und einer vollkommenen Stille Platz gemacht hatte. Sein Hengst jedoch sog erregt die Luft durch die Nüstern und drängte gegen die Zügel. Nael sah sich um und bemerkte überrascht, dass sich seine Begleiter deutlich weiter entfernt hatten, als er erwartet hätte. Er würde sich beeilen müssen, um sie einzuholen, bevor sie vollständig aus seinem Blickfeld verschwanden. Sein Hengst schien den gleichen Wunsch zu verspüren, denn er fiel beinahe von selbst in einen schnellen Galopp.
Den ersten konkreten Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, entdeckte er, nachdem sein Rappe vielleicht zwanzig Pferdelängen zurückgelegt hatte. Seine Begleiter hatten angehalten – oder vielmehr anhalten müssen, denn die ganze Gruppe steckte inmitten einer Herde Ziegen fest. Rafael schien sich mit dem Hirten ob dieser Tatsache heftig zu streiten, denn beide Männer gestikulierten eifrig und deuteten immer wieder in unterschiedliche Richtungen. Der Anblick war einfach lächerlich.
Trotzdem gelang es Nael nicht, ein Schaudern zu unterdrücken, während er über die Wiese preschte. Die Ziegen mochten harmlos sein – oder eine geschickt gestellte Falle.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte ihn Roana ungehalten, als er seinen Hengst neben ihr zügelte. »Rafael wollte schon losreiten, um dich zu holen.«
»Was ist hier los?«, fragte Nael barsch. »Über was diskutieren die beiden?«
»Rafael sagt, dass ein Unwetter kommt.«
»Jetzt? Hier? Es steht nicht eine einzige Wolke am Himmel.«
»Das sehe ich selbst«, knurrte Roana.
Rafael hatte sein Gespräch beendet und reichte dem Hirten eine Münze, bevor er sich wieder seinen Begleitern zuwandte. »Dieser Mann sagt es auch: Es wird ein Unwetter geben. Wir müssen so schnell reiten, wie wir können. Ungefähr eine Wegstunde von hier gibt es eine Burg, wo wir unterkommen können, bis das Schlimmste vorüber ist.«
»Und die Sänfte?«, fragte Roana.
»Die lassen wir hier zurück.«
Nael starrte seinen Bruder an. Von einem Herzschlag auf den anderen fühlte er sich leer und erschlagen, und absurderweise erfüllte ihn die Tatsache, dass es keine Gefahr gab, nicht mit Erleichterung, sondern mit einem Gefühl dumpfer, schleichender Verzweiflung.
»Komm, hilf mir. Wir müssen Peire auf ein Pferd setzen«, forderte Rafael ihn auf. Gemeinsam hoben die Männer Peire in den Sattel, spannten die Tragtiere aus und stellten die Sänfte am Wegesrand ab.
Roana sah ihnen dabei zu. Oder besser: Sie starrte Rafael an und verschlang ihn mit Blicken, wie eine hungrige Wölfin. Sein Bruder dagegen starrte in den Himmel hinauf und nahm die sehnsüchtigen Blicke seiner Gemahlin nicht einmal wahr.
Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, stieg eine kaum zu beherrschende, irrationale Wut in Nael auf. Er machte einen Schritt auf Rafael zu, hielt mitten in der Bewegung inne, wandte sich brüsk um und umrundete sein Pferd. Dort blieb er an den Sattel gelehnt stehen, ballte die Fäuste und zwang sich, so lange reglos stehen zu bleiben, bis sie aufgehört hatten, zu zittern.
Es hatte keinen Sinn, wenn er Rafael für sein gleichgültiges Verhalten zur Rede stellte. Sein Zorn entsprang seiner Erschöpfung und der Verzweiflung, die sich wie eine schleichende Krankheit in ihm breitgemacht hatte. Es war sinnlos, wenn er die Reste seiner Selbstbeherrschung in einer Auseinandersetzung verpulverte, die ohnehin zu nichts führen konnte.
»Vorwärts!«, sagte Rafael. »Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen.«
Nael presste die Kiefer zusammen und schwang sich wortlos in den Sattel.
Nach einer weiteren Stunde war der Himmel über ihnen fast schwarz. Nael hatte angenommen, dass ihnen Zeit genug bleiben würde, um die Burg trockenen Fußes zu erreichen, doch nun wurde er schnell eines Besseren belehrt. Mit einem fürchterlichen Donnerschlag brach die Hölle los. Wände von Regen verhüllten augenblicklich jede Sicht und machten die Reiter blind, die Tiere blieben stehen, stiegen und schrien angstvoll. Rafael befahl abzusitzen und sie ihrem Schicksal zu überlassen.
Nael bedeutete Peire, auf seinen Rücken zu steigen. Rafael packte ihn am Gewand und griff mit der anderen Hand nach Roana, um sie in dem Inferno nicht zu verlieren.
Im schwefeligen Geruch der rechts und links neben ihnen niederzuckenden Blitze tappten sie dahin, erreichten stolpernd und keuchend die Mannpforte der Burg. Ein Wachsoldat stemmte sich gegen den Sturm und hielt die schwere Tür für sie auf. Nass bis auf die Knochen traten sie in die Wachstube und drängten sich um ein Kohlebecken, zitternde Leiber und wassertriefende Sachen, während draußen das Unwetter tobte.
Im Burghof begann es zu prasseln, als werfe man Erbsen auf ein Blech. Nussgroße Hagelkörner stürzen dampfend herab, eisige Kälte wehte mit ihnen durch den offenen Eingang herein. Nael Zähne klapperten, ohne das er etwas dagegen tun konnte.
»Können wir nicht zum Wohntrakt hinüber laufen?«, fragte Roana. »Wir sind doch schon nass.«
»Wir können jetzt nicht hinausgehen«, sagte Rafael. »Die Blitze würden uns erschlagen.«
»Der Herr spricht die Wahrheit«, sagte der Soldat. »Prüfe es besser nicht nach, Herrin!«
Er ließ ein Gebräu aus Enzianwurzeln herumgehen, das wie Höllenfeuer die Kehle hinab rann. Nach dem ersten Schock nahm Nael gleich noch einen zweiten Schluck. Das Gebräu brannte in seinem Magen, wärmte seine Glieder. Begierig wartete er darauf, bis die Reihe wieder an ihn kam. So nahe bei Roana zu stehen, ohne sie berühren zu dürfen, war die reinste Folter. Er wollte ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen, ihr die Hände um die Wangen legen und die Wassertropfen von ihrer Nasenspitze küssen. Er malte sich aus, wie es sein würde, sie beide aus ihren triefenden Sachen zu schälen und sie mit seinem Körper zu wärmen. Sanft wie Schmetterlingsflügel würden seine Finger über ihren Körper gleiten, über ihre Brüste, ihren Bauch, bis zu dem lockenden Dreieck zwischen ihren Beinen. Ob sie zu den Frauen gehörte, die diese kleinen gutturalen Laute von sich gaben, wenn sie erregt waren? Er würde sie mit seinen Fingern fast bis zum Gipfel streicheln, bevor er in sie eindrang, um sich mit ihr gemeinsam im freien Fall zu Tal zu stürzen und …
Himmel, diese Vorstellung war mehr, als er aushalten konnte. Zumindest solange er bei klarem Verstand war. Er betete, dass die Flasche noch genügend von dem Enziangebräu enthielt, um ihm die Flucht zu erlauben. Er wusste, dass er sich wie ein verdammter Feigling benahm, aber sein Körper ließ ihm keine andere Wahl.
Roana selbst reichte ihm die Flasche und er nahm schnell einen tiefen Schluck. Langsam breitete sich die ersehnte wohlige Benommenheit in seinem Körper aus. Oh ja, dachte er, so war es schon viel besser.
Die Zeit dehnte sich endlos, bis das Toben des Unwetters nachließ, wenn auch Wind und Regen noch anhielten. Der Wachsoldat schickte nach zwei kräftigen Dienern, die Peire über den Hof trugen. Rafael machte sich mit zwei Knechten auf, um die Pferde zu suchen, während Nael und Roana den Dienern zum Wohntrakt der Burg folgten. Die Hagelkörner bildeten auf dem Hof eine knöchelhohe, knirschende Eismasse, von Matsch und Wasser durchsetzt, die nur mühsam zu durchwaten war. Roana, mit ihren ledernen Bundschuhen kam gefährlich ins Rutschen und Nael gelang es mit knapper Not, sie vor einem Sturz zu bewahren.
Während er einen Arm um Roanas Taille schlang, wurde die Tür zum Turm geöffnet, und eine schlanke Frauengestalt erschien im Eingang. »Schnell Cesare, Dinêl, schnell hierher! Unsere Gäste müssen ins Trockene kommen!« Neugierig reckte sie den Hals. »Ja wer …«
Der Frau schien plötzlich die Stimme zu versagen.
Nael erstarrte. Seine Hand rutschte von Roanas Taille. Der Regen prasselte auf ihn nieder, aber selbst wenn er es gewollt hätte, wäre er nicht fähig gewesen, ein Glied zu rühren. Vor ihm stand die Frau von See. Oder träumte er das nur? War es jetzt schon so weit mit ihm, dass er Dinge sah, die gar nicht da waren?
Die Frau trat aus der Tür. Ohne die Nässe zu beachten, kam sie näher, die Schritte wurden eiliger, sie stapfte vorwärts, kleine Schmutzfontänen spritzten auf ihre Röcke, und der freundliche Ausdruck ihres Gesichtes verwandelte sich zunehmend in eine Miene grimmiger Empörung. »Oh! Du!«
Mit einem Aufschrei stürzte sie sich auf ihn und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
Nael schnappte nach Luft. Sie war echt. Die Frau vom See, um Himmels willen. Seine Hände zitterten.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zum Turm zurück. »Cesare! Dinêl! Beeilt euch ein bisschen mit dem Verletzen! Bringt ihn in die Krankenstube!«
Einen unartikulierten Laut ausstoßend schlitterte Nael durch die Eispfützen, als er hinter der Frau über den Hof stürmte. Es gelang ihm gerade noch, ins Gebäude zu schlüpfen, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen konnte. Er blieb stehen und atmete keuchend aus. Ihr Blick musterte ihn auf eine Art, die ihm das Gefühl gab, auf einer Stufe zu stehen mit etwas, das die Hunde ins Haus geschleppt hatten. Einer nassen Ratte zum Beispiel.
»Es scheint, man begegnet sich immer zweimal im Leben. Obwohl ich auf deine Anwesenheit wirklich verzichten könnte, mein Herr.« Der Zorn ließ ihre Stimme schneidend klingen. »Wie konntest du es wagen, hierherzukommen?«
»Das Unwetter …«, setzte er an. »Wir mussten dringend eine Unterkunft …«
Freudlose Belustigung flammte in ihren Augen auf. »Gottes Wege sind unergründlich, hm? Da verschlägt es dich ausgerechnet hierher, zu der einzigen Person, die deine Verfehlung bezeugen kann. Was für ein schreckliches Pech, nicht wahr?«
Nael stand wie versteinert da. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, als strichen geisterhafte Finger über seinen Rücken und hinterließen ein kaltes, prickelndes Frösteln. Seine Verfehlung? Herrgott! Konnte sie etwas von der Frau wissen, die er umgebracht hatte?
Bleib ruhig. Denk nach. Sie kann es nicht wissen.
»Nun? Kein Widerspruch, mein Herr? Und dabei war ich wirklich neugierig, welche Ausreden du zu deiner Rechtfertigung vorbringen würdest. Du enttäuschst mich.«
Er sank mit dem Rücken gegen das harte Holz der Tür und starrte sie an. Sein Kopf war wie leer gefegt, seine Hände zitterten, sein Magen rebellierte.
»Oder wäre deine Gemahlin vielleicht gar nicht überrascht, von dem, was ich zu erzählen hätte? Wie dem auch sei- lass dir versichern, mein Herr, dass ich ein derart unschickliches Benehmen in meinem Haus nicht dulde.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Tatsächlich nicht? Dann denk nach!«
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und rauschte davon.
»Herrgott noch mal!« Fluchend eilte Nael hinter ihr her, den von Kinnspänen spärlich erhellten Flur entlang. »Gib acht, was du redest, Weib, sonst lege ich dich gleich hier übers Knie!«
Sie blieb so abrupt stehen, dass er gegen sie prallte. Sie stieß gegen die Wand und er schlang rasch seine Arme um sie, um zu verhindern, dass sie zu Boden ging. Ihr Körper wurde eng an den seinen gepresst.
Sie machte keine Anstalten sich zu befreien, was ihm mehr als recht war. Gott, sie war atemberaubend. Ihre von zartem Rosa überhauchte Haut. Die perfekt geformten, vollen Brüste, die sich unter dem feuchten Stoff deutlich abzeichneten. Sie trug keine Kopfbedeckung und ihre ebenholzschwarzen Locken ringelten sich wild um ihren Hals und die Schultern. Und da war dieser hochmütige Blick unter halb gesenkten Wimpern hervor, der allein schon genügte, um ihn in einen grunzenden Barbaren zu verwandeln.
Was für eine Frau. Er musterte sie begehrlich, von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Unter seinem Blick stellten sich ihre Brustwarzen auf und er spürte, dass es ihr unangenehm war, dass er es durch ihr nasses Gewand sehen konnte. Doch seine Augen verharrten auf ihr wie gebannt und ein tiefes Grollen entrang sich seiner Kehle.
»Das muss eine echte Befriedigung für dich sein«, bemerkte sie kalt.
Nael blinzelte. »Äh – was bitte?«
»Dich so respektlos benehmen zu dürfen, nur weil der Burgherrin kein Burgherr zur Seite steht.«
Nael ließ die Arme sinken und trat hastig einen Schritt zurück. »Ich habe dich nicht respektlos-«.
»Kümmere dich um deine Gemahlin«, fuhr sie ihn an und ließ ihn stehen. Eine feuchte Spur auf dem Steinboden hinterlassend, eilte sie auf eine Tür am Ende des Ganges zu. Nael ließ sich jedoch nicht abschütteln. »Ist es neuerdings ein Vergehen, einer Frau zur Hilfe zu eilen? Und was soll dieses Gerede von einer Gemahlin? Ich bin nicht verheiratet, verdammt noch mal!«
»Noch schlimmer.«
Nael straffte die Schultern. Dieses arrogante Weibsstück. Nach all den Dingen, die sie ihm entgegengeschleudert hatte, wagte sie es, sich aufs hohe Ross zu schwingen und ihm das Gefühl zu geben, im Unrecht zu sein? »Behandelt man so seine Gäste?«, schnauzte er.
Sie fuhr zu ihm herum. »Oh, ich nehme durchaus Rücksicht darauf, dass du mein Gast bist, sei versichert«, stieß sie hervor. »Auch wenn du vergessen hast, wie sich ein Gast benimmt. Ich bin eine freie Frau, und du hast mich nicht nur ohne meine Erlaubnis berührt, sondern sogar geküsst. Ich könnte dich allein dafür hinauswerfen lassen, und wenn ich das Vorkommnis meinem Gemahl zu Gehör brächte, würdest du noch schlimmeren Strafen entgegensehen. Aber ich werde weder das eine noch das andere tun. Sei weiterhin mein Gast, bis sich das Unwetter verzogen hat. Aber dann reist du auf der Stelle ab!«
Mit zwei großen Schritten war sie an der Tür, riss sie auf und stürmte in den Raum. Nael, der ihr auf den Fersen folgte, sah sich unerwartet Peire und einer erbosten Dienerin gegenüber.
»Herrin, warum hast du dein Gewand noch nicht gewechselt«, fragte die Dienerin. »Du wirst dir den Tod holen in dem nassen Zeug!«
»Oh! Seinetwegen!«, sagte die Frau atemlos und deutete auf Nael. »Madda, du errätst nie, wer das ist!«
»Jajaja, gib mir nur Rätsel auf. Damit lenkst du mich nicht ab. Trockene Kleider, Ravena. Und das rasch!«
»Aber Madda, das ist der Mann aus dem See. Und er hat eine Ehefrau!«
»Habe ich nicht«, knurrte Nael. »Würdest du mir nur für einen Moment zuhören, Herrin, könnte ich…«
»Ha! Spar dir deine Ausflüchte! Du gehörst ganz eindeutig zu der Art von Taugenichtsen, die es nicht nötig haben ihren Ehefrauen Respekt zu erweisen, indem sie …«
Peire holte tief Luft und füllte den Raum mit einem Ton, der die Streithähne erschrocken verstummen ließ.
»Aufhören, sonst platzt mein Kopf«, murmelte Nael und presste sich die Handballen auf die Ohren.
Peire sagte etwas zu der Dienerin, das Nael nicht verstand, doch kaum, dass er die Hände herunternahm, traf ihn Peires Frage wie ein Peitschenhieb.
»Wo ist Madonna Roana?«
»Ich … ich dachte, sie sei bei dir«, sagte Nael und wurde blass.
»Siehst du sie hier etwa? Ich nicht.«
»Sie wird mit einem Diener gegangen sein, um ihre Kleider zu wechseln.«
»Das ist sie ganz sicher nicht. Davon wüsste ich«, sagte Ravena. Sie stülpte ihre Unterlippe nach vorne, zupfte daran herum, nickte schließlich und sah Nael an. »Sie muss noch irgendwo draußen sein. Ist sie närrisch? Sie kann sich den Tod holen in dem eisigen Wind.«
»Herrgott noch mal!«, fauchte Peire. »Worauf wartest du noch, Nael? Mach dich auf und such sie!«
Nael zuckte zusammen. Roana … er hatte Roana vergessen … Er konnte kein Wort hervorbringen, der Druck in seinem Inneren war zu groß. Er beugte sich nach vorn und presste die Hände auf den gähnenden Krater in seinen Eingeweiden.
»Um Gottes willen. Alles in Ordnung?« Ravena fasste nach seiner Schulter. »Hast du Schmerzen?«
Wenn er nicht aufpasste, würde er jeden Moment das Enziangebräu in die Binsen auf den Boden spucken. Herr im Himmel, was für eine grandiose Art und Weise, sich zu blamieren.
Panik erfasste ihn und nach einem schnellen Blick auf Ravena, stürmte er aus dem Raum.
»Was für ein ungehobelter Klotz«, bemerkte Madlaina. »Vergisst die eigene Frau in der Kälte.«
»Madonna Roana ist nicht seine Gemahlin«, sagte Peire düster. »Sie ist die Frau meines Herrn. Wenn Rafael mit den Pferden zurückkommt und erfährt, dass der Dame seines Herzens etwas zugestoßen ist, gibt es ein Blutbad. Dann zerreißt er Nael in Stücke.«
»Dein Herr heißt Rafael?«, fragte Ravena. »Wie seltsam … Madda, glaubst du an Zeichen?«
»Ich glaube an das, was ich sehen, hören oder fühlen kann«, sagte die Kammerfrau. »Du dagegen hast ja immerzu den Kopf in den Wolken, wenn es um deinen vermissten Bruder geht. Eine Namensgleichheit hat nichts zu bedeuten. Was glaubst du wohl, wie viele Menschen es gibt, die den Namen Rafael tragen?«
»Ich weiß, Madda, ich weiß. Aber es ist trotzdem…«
Drei dumpfe Schläge ertönten und im nächsten Moment wurde die Tür des Krankenzimmers aufgerissen. Tarun stand auf der Schwelle und gestikulierte aufgeregt mit den Händen.
»Langsam, Junge, langsam, sonst kann ich dich nicht verstehen«, sagte Ravena.
Aber Tarun hielt sich nicht damit auf, seine Gesten zu wiederholen, sondern ergriff Ravenas Hand und zog sie energisch mit sich fort.
Tarun führte Ravena durch eine Seitentür auf den Hof hinaus und deutete aufgeregt auf die leblos am Boden liegende Gestalt.
»Der Herr sei uns gnädig!«, murmelte Ravena. »Schnell kommt her, hierher, schnell!«
Sie sank neben Roana auf die Knie, schob vorsichtig den Arm unter ihren Kopf und hob sie an. »Allmächtige Muttergottes – du blutest ja, Frau!«
Nael eilte herbei, beugte sich über Roana und unterzog sie einer hastigen Untersuchung. »Das Kind … ich glaube, sie verliert ihr Kind.« Seine Stimme zitterte und er hasste sich dafür. Seine professionelle Gelassenheit ließ ihn zu einem verteufelt schlechten Zeitpunkt im Stich. Gewöhnlich verfiel er in einen Zustand völliger Ruhe, sobald er sich über einen Kranken beugte. Aber das hier war etwas ganz anderes. Gott, hier ging es um Roana.
»Bist du dir sicher, dass sie guter Hoffnung ist?«, fragte Ravena. »Das Blut könnte auch andere Ursachen haben. Es-«
»Ich bin mir sicher«, erwiderte er barsch.
»Bist du der Vater?«
»Nein«, knurrte Nael und fügte leise hinzu: »Aber ich wollte, ich wäre es.«
Tarun brachte eine Decke. Nael wickelte Roana behutsam hinein und hob sie auf seine Arme. »Zeig mir, wo ich sie hinbringen kann.«
Ravena erhob sich. »Trag sie ins Frauenhaus, hinauf in den zweiten Stock, schnell. Sie eilte Nael voraus. »Cesare, hol Wasser, einen großen Kessel, die Köchin soll es über dem Feuer kochen. Und sage Madda, dass sie ein Pflaster vorbereiten soll. Tarun, meine Kräuterkiste.«
Sie scheuchte Nael die Treppe hinauf und öffnete die Tür zu einer Kammer, die regelmäßig als Krankenzimmer zu dienen schien. Es gab zwei Betten und einen Behandlungstisch, auf dem sauber nebeneinander Messer und Nadeln aufgereiht lagen. Auf einem Tablett lagen Kräutersäckchen und verbreiteten medizinischen Duft.
Eine Dienerin war dabei, eines der Betten mit frischem Stroh einzudecken und Nael sah, dass sie Johanniskraut, Ziest und Waldmeister unter die Halme mischte. Ravena schüttelte ein Laken aus und breitete es über das Stroh. Nael ließ Roana vorsichtig auf das Lager sinken.
Ravena dirigierte ihre Helfer wie eine Fürstin. »Zuerst die Schuhe von den Füssen und die nassen Kleider vom Leib! Mehr Johanniskraut auf die Räucherschale! Bringt mir dickere Tücher, diese hier nehmen nicht genug Wasser auf.« Sie beugte sich über die Kranke.
Roanas Lider flatterten. Sie öffnete die Augen und starrte mit glasigem Blick um sich.
»Roana.« Fast verschluckte Nael sich an ihrem Namen. Alles, was er hatte sagen wollen, löste sich auf, alle Reden verstummten, Worte gingen verloren.
»Rafael«, krächzte sie und versuchte sich aufzurichten. »Wo ist Rafael?«
Ravena drückte sie sanft auf das Bett zurück. »Still. Deinem Rafael geht es gut. Jetzt müssen wir uns erst einmal um dich kümmern.«
»Was willst du gegen die Blutung geben?«, fragte Nael, und schob ihre Hände fort, die sich an Roanas durchweichten Schuhen zu schaffen gemacht hatten.
»Beifuß, Salbei und ein Pflaster mit Persicaria«, beschied ihm Ravena knapp. »Aber das kommt später. Im Moment haben wir ganz andere Sorgen mit ihr.«
Tarun kam mit der Kräuterkiste. Ravena suchte die benötigten Zutaten zusammen und übergab sie der Dienerin. »Bring das zu Madlaina in die Küche. Sie weiß, was zu tun ist.«
Die Dienerin nahm Tarun an der Hand und eilte aus dem Raum.
»Du ziehst dich jetzt besser zurück. Was nun kommt, ist kein Anblick für einen Mann.«
»Ich bin Medikus, ich kann helfen.«
Sie nahm ihm Roanas nasse Beinlinge aus der Hand und drängte ihn zur Tür. »Schön. Dann mach dich nützlich! Wir brauchen Eis, damit ihre Hände und Füße nicht absterben von der Kälte.«
Ihr Ton war barsch und Nael gehorchte ohne Widerspruch. Er stieg in den Hof hinunter und brachte eine Satte Eismatsch herein, die er neben Roanas Lager abstellte.
»Gut«, sagte Ravena. »Jetzt geh. Ich lasse dich rufen, falls deine Hilfe benötigt wird.« Ohne Umschweife schob sie Nael hinaus und schloss die Tür.
Nael ließ sie gewähren. Warum sollte er auch kämpfen? Kämpfen machte so müde. Ohnehin trug Roana ja bereits das Zeichen des Todes im Gesicht, sie würde sterben, wie die andere Frau.
Lange stand er wie gelähmt da und starrte auf die Tür des Krankenzimmers. Stärker den je spürte er, dass er trotz all seiner gesammelten Kenntnisse machtlos war. Und so würde es immer bleiben. Nael ließ sich auf den Treppenabsatz sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.