Der Bruder des Jarl musterte die Neuankömmlinge gründlich, während Thorstein ihm die Umstände schilderte, unter denen er diese Leute aufgenommen hatte.
»Auch wenn es der Wille der Götter ist, dass die Menschen in Freie und Sklaven unterschieden werden, gibt es im Umgang mit den uns Untergebenen Grenzen«, begründete der Steuermann sein Handeln. »Die Gesetze gelten für alle. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Werte verkommen und wir uns wie eine wilde Horde Berserker aufführen.«
Rollo lachte in sich hinein. Thorstein hatte einen Wandel vollzogen, sodass er seiner Vorstellung von einem Anführer inzwischen sehr nahe kam. Werte … Gesetze. Das alles hatte ihm und den meisten Kriegern bei ihren Raubzügen nur wenig gegolten. Sie kamen, nahmen, wonach ihnen der Sinn stand und hinterließen Unglück und Verwüstung. Und doch … Im eigenen Land sah die Sache ganz anders aus. Auch aus seiner Sicht verstieß Arngrim gegen die Regeln, indem er seinen fränkischen Spießgesellen die versklavten Frauen und Mädchen für ihre perversen Spielchen überließ, indem er sie wie Könige behandlete und seine eigenen Krieger dabei außenvor blieben.
»Ich muss nicht wissen, dass diese Leute, die du aufgenommen hast, Sklaven waren«, ließ er Thorstein wissen. »Menn sé ek! Männer und mehr auch nicht.«
Er drückte den vom langen Ritt schmerzenden Rücken durch und sah die Neuen der Reihe nach an. »Wenn sie für uns arbeiten und uns gegen Arngrim unterstützen, soll es mir nur recht sein. Allerdings werden sie einiges brauchen, was du allein nicht vorrätig haben kannst.« Er betrachtete die verschlissenen Skjortas der Männer, stellte fest, dass nur zwei trotz der winterlichen Kälte eine Kyrtel darüber trugen und dass die Kleider der Frauen und des Mädchens ebenso fadenscheinig waren wie die der Männer. Mager waren sie alle und es würde einge Brote und Fleischsuppen kosten, bis sie sich soweit erholt hatten, dass sie erfolgreich ein Schwert schwingen konnten.
Der Steuermann folgte dem prüfenden Blick seines Freundes und nickte zustimmend zu dessen Worten. »Ich werde den kommenden Markttag nutzen, um allerlei zu besorgen«, erklärte er. »Wir müssen auch unsere Getreidevorräte aufstocken.«
Rollo runzelte die Stirn und dachte eine Weile lang nach.
»Diese Dutzend Leute ist wirklich zu viel für deinen Hof«, ließ er Thorstein wissen. »Doch werden diese Männer, wenn sie an unserer Seite kämpfen, auch für alle von Nutzen sein.«
Er sah noch einmal der Reihe nach in die erwartungsvollen und besorgten Gesichter der Neuankömmlinge. Dann sprach er sie direkt an:»Wenn ihr euch trennen würdet … sagen wir, je eine Familie oder ein Paar und zwei ledige Männer pro Hof, wäre die Last für Thorstein nicht ganz so hoch.«
Er richtete seine weiteren Worte nun wieder an Thorstein. »Ich komme gerade von Gunnars Hof«, ließ er den Freund wissen. »Dort war der Sturm nicht so gnädig wie bei euch. Er hat das Stalldach schwer beschädigt und zwei ältere Hütten gänzlich unbewohnbar gemacht. Käme ich mit ein paar helfenden Händen dorthin zurück, wäre Gunnar sicher einverstanden, diese auch für den Rest des Winters zu beschäftigen. Ihm fehlen sowieso ein paar Knechte. Und eine geschickte Magd, die vielleicht auch noch weben kann, würde seine Frau kaum wegschicken.«
Aufmerksam beobachtete er, wie sich die Menschen am Tisch wortlos mit Blicken verständigten. Dann nickten sich ein Mann und eine Frau einander zu. »Wir würden dorthin gehen«, ließ der bärtige ehemalige Sklave Rollo wissen.»Ich kann ein Dach decken und auch eine Wand flechten. Ulfrun, meine Gefährtin, kann spinnen und weben. Wenn dieser Gunnar uns also will …« Er nickte den Anderen zu. »Ich werde darauf vertrauen, dass Thorstein uns nicht hintergeht, wenn er den Vorschlägen seines Freundes zustimmt. Als Bruder des Jarls kann es sich der Mann auch kaum leisten, unwahr zu reden oder uns zu betrügen. Was denkt ihr?«
Ein leises Gemurmel begann um den Tisch, dann wurden die Stimmen lauter und sicherer. Rollo schilderte Gunnars Hof und Haushalt ausführlich für die Zuhörer, gab auch bekannt, was er glaubte, an Informationen zu der geplanten Abwehr von Arngrims möglichem Überfall weitergeben zu dürfen. Dann, als man sich einig geworden war, es mit einem Umzug auf die Höfe der Umgebung zu versuchen, kam Frode, der Alte, den Thorstein zusammen mit dem kleinen Mädchen, dessen Eltern und einem weiteren Mann auf seinem Hof behalten würde, noch einmal auf das Versteck im Moor zu sprechen.
»Der Platz zwischen den Sümpfen ist größer, als es auf den ersten Blick erscheint«, stellte er fest. »Wenn alle verfügbaren Männer sich in diesem Frühsommer mit der Bedrohung durch Arngrim befassen müssen, wird euer Vieh schlecht bewacht sein.« Er runzelte die Stirn. » Man kann natürlich nicht alle Tiere der umliegenden Höfe dorthin bringen. So viel gibt der Ort nicht her, aber eure Zuchttiere wären gut im Moor geschützt, wenn die Franken Jagd auf einen leicht erlegbaren Braten machen sollten.«
Einen Moment lang schaute Thorstein den Alten verdutzt an, dann brach er in schallendes Lachen aus. »Da habe ich geglaubt, ein paar hilflose Menschlein gerettet zu haben und nun stelle ich fest, dass ein gewitzter Stratege unter ihnen ist.« Er grinste zufrieden. »Über das Vieh haben wir noch gar nicht nachgedacht, auch nicht über den Schutz unserer Frauen und Kinder, die ich eigentlich nach Straumfjorður bringen wollte … Doch wenn man es recht bedenkt, kann dort schnell der heftigste Kampf stattfinden. Ins Moor allerdings werden sich Arngrims Männer nicht so schnell hineinwagen … zumal sie nicht ahnen, dass es dort etwas zu holen gibt, wenn wir unsere Schätze richtig verstecken.«
Rollo nickte. »Die Idee ist gut. Solange Arngrim uns noch sorglos glaubt, könnest du dort ein paar einfache Unterkünfte bauen lassen und Vorräte anlegen … Dann haben wir einen sicheren Zufluchtsort, den wir jederzeit nutzen könnten.«
Sie saßen noch lange zusammen und schmiedeten Pläne. Doch schon am nächsten Tag machte sich der Bruder des Jarls mit den Neulingen auf den Weg, um sie den umliegenden Höfen zuzuteilen.