Es war still geworden in dem Raum. Niemand sprach mehr ein Wort und alle vermieden es, einander anzusehen.
‚Was sollen sie auch sagen?’, dachte sich der Junge mit den schwarzen Haaren und starrte missmutig ein Bild an der Wand an. Es war eine dieser grässlichen Anschauungstafeln der menschlichen Organe. Im Comicformat. Dadurch sollte es weniger eklig sein. Es half aber nichts.
Die Mutter des Jugendlichen holte Luft und wollte offenbar gerade etwas sagen, als sich die Tür wieder öffnete und der Mann im Kittel wieder in den Raum trat.
»Madame und Monsieur Walace, haben Sie noch irgendwelche Fragen?«, wandte er sich an die Erwachsenen, die wie vom Donner gerührt waren und mindestens so weiß wie die langweiligen Wände hinter ihnen.
Der Junge schürzte nur leicht die Lippen. Natürlich wurde er nicht gefragt, ob er noch etwas wissen wollte. Es ging ja schließlich auch nicht nur um ihn.
»Wie ... lange, Doktor?«, presste die Frau heraus und blickte mit glasigen Augen ihren Sohn an, der ihren Blick nicht erwiderte. Nicht erwidern konnte. Der nur an die Wand starrte und so tat, als ginge ihn das hier alles nichts an. Er wollte doch auch gar nicht hier sein, hatte nicht in einen Computertomographen geschoben werden wollen und all diese Dinge!
»Ich kann Ihnen nichts genaues sagen«, entgegnete der Arzt zweifelnd, doch Madame Walace schüttelte den Kopf.
»Ich ... ungefähr, Doktor, bitte!«
Der Mediziner wandte sich an den Jungen. »Möchtest du es denn wissen?«
Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern. Er würde unter keinen Umständen den Mund aufmachen. Er traute seiner Stimme nicht. Hätte seine Mutter ihn doch nur nicht hier her geschleift! Hätte er selbst doch nur nichts gesagt!
Der Mann im Kittel seufzte leise, warf einen Blick in die Unterlagen und auf die Röntgenbilder und drehte sich dann zu der Familie um. »Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, davon, wie sich das Gewebe verhält, wie schnell es wächst, wie aggressiv die Veränderungen sind. Grob geschätzt würde ich sagen, ein Jahr. Vielleicht eineinhalb.«
Madame Walace brach in Tränen aus und ihr Gatte legte den Arm um sie. Mit feuchten Augen sah er seinen Sohn an, der keinerlei Regung zeigte. Einzig sein Gesicht war blasser geworden.
»Es tut mir leid«, sagte der Arzt teilnahmsvoll, aber mit einer so geschulten Routine, dass der Junge ihm diese Aussage nicht recht glauben konnte.
»Kann man denn gar nichts mehr tun?« Diesmal sprach Monsieur Walace.
Der Arzt blickte erneut auf die Röntgenbilder, die wie eine Anklage an der leuchtenden Wand hingen, und neigte leicht den Kopf. »Eine Operation wäre angesichts der Lage überaus riskant, weswegen ich Ihnen davon abraten würde. Man könnte weiter versuchen, es mit Medikamenten hinauszuzögern. Das würde mehr Zeit verschaffen. Doch ich will ehrlich sein: Die Tabletten sind mit starken Nebenwirkungen verbunden, ein stationärer Aufenthalt wäre notwendig, die Haare würden ausfallen und es käme zu einer starken Einschränkung des Wohlbefindens. Die Entscheidung liegt bei Ihnen, natürlich. Doch ich will Ihnen keine Hoffnung auf Heilung machen.«
Madame Walace sah ihren Sohn mit tränenverschmiertem Gesicht an. »Was sagst du?«
Der Junge schwieg eine ganze Weile, was seine Mutter ungeduldig werden ließ. »Lucien!«
»Nein«, murmelte dieser.
»Wie?«
»Ich sagte Nein! Ich will das nicht. Ich will keine Pillen fressen, ich will kein zugedröhnter Zombie werden, will keine Glatze bekommen und überhaupt will ich überhaupt nicht hier sein!« Er stand auf, ballte die zitternden Hände zu Fäusten und schnaufte.
»Lucien ...«, versuchte sein Vater zu beschwichtigen.
»Es ist ja alles gesagt. Ich muss hier raus!«, presste der Junge hervor, griff nach seiner Jacke und warf die Tür des Arztzimmers krachend hinter sich ins Schloss.