Freundlich nickte der Jarl Rúna zu und schob dann seinen Bruder nach draußen. Der andere Krieger namens Gylfe verständigte sich inzwischen mit Jorunn über jene Dinge, die die Heilerin noch aus ihrem Grubenhaus benötigte.
"Ich werde auch ein wenig Mehl herbeischaffen", versprach er, an Rúna gewandt, "damit du der Kleinen was zu essen machen kannst." Der Dank der jungen Frau kam leise und sehr ehrerbietig. Nach dem Auftritt von Rollo war Rúna ihre Stellung in dieser Siedlung erneut überdeutlich bewusst geworden.
Gylfe verließ nun ebenfalls die Schildhalle. Jorunn würde schon wissen, was dort zu tun war. Zwei Tage lang hatten sie mit den alles verwüstenden Flammen gekämpft. Selbst der Jarl war sich nicht zu schade gewesen, bei jeder anfallenden Aufgabe mit Hand anzulegen. Waren sie am Anfang vor allem mit Wasser gegen das Feuer vorgegangen, so mussten sie bald einsehen, dass sie so nicht Sieger bleiben würden. Zwar hatte sich der Brand langsamer in die Siedlung hineingefressen als zu Beginn der Katastrophe, dennoch blieb er unbesiegbar. Nach Thorstein war ein weiterer Mann, der Schmied des Ortes, von herabfallenden Trümmern verletzt worden und lag nun ohne Bewusstsein bei der Völva.
Dann, nachdem sie eine Nacht lang vergebens mit Löschversuchen verbracht hatten, war Ragnar die rettende Idee gekommen. Wieder einmal machte er seinem Ruf als kluger Denker alle Ehre und dieses Mal zeigte er offen, woher sein Wissen stammte.
"Wenn eine Herde Wölfe über deine Schafe herfällt und du nicht in der Lage bist, sie alle zu töten, was tust du da?", hatte er gefragt und gar nicht erst auf eine Antwort gewartet. "Du überlässt ihnen die erste Beute und führst den Rest der Herde in Sicherheit."
Rollo hatte ungeduldig geknurrt, dass dies hier ja wohl kein Raubtierangriff wäre und sie keine Bauernweisheiten bräuchten, dann aber doch dem einfallsreichen Gedanken des Jarl zugehört.
"Wir lassen das Feuer fressen, was wir eh nicht mehr retten können und reißen statt dessen so viele Häuser und Hütten ein, dass wir eine Schneise bekommen. So können wir wenigstens einen Teil von Straumfjorður schützen."
Verwundert hatten sich die Männer untereinander angesehen.
Jeder schien wissen zu wollen, was der Andere von diesem verrückten Plan hielt. Doch das gefräßige Knistern der Flammen hatte sie schnell angetrieben, den Befehlen des Jarl Folge zu leisten. Und der tollkühne Plan ging auf. Zwar verloren durch Ragnars gewollte Abrisse noch weitere Familien ihre Unterkunft, doch würde man die Hütten und Häuser bald wieder aufgebaut haben. Nur eines trübte die Freude über den Sieg. Eine junge Frau war zurück in ihr brennendes Haus gelaufen, um ihre keine Tochter Asbirg zu wecken und aus dem Feuer zu retten. Die Kleine konnte noch rechtzeitig aus den Flammen geborgen werden, doch für die Mutter kam jede Hilfe zu spät, anders als für jene alte Großmutter, um derentwillen Thorstein sein Leben riskiert hatte. Auch sie musste unter den Folgen des Rauchs leiden, doch war sich Jorunn sicher, dass sie bald wieder auf die Beine kam.
Gylve fluchte, als er daran dachte, wie froh sie alle gewesen waren, dass der Brand eingedämmt war. Doch während die meisten darüber wachten, dass keine alten Flammennester mehr aufloderten und andere schon erste unversehrte Dinge aus den Trümmern bargen, war er, Gylve, auf ein leises Weinen in einer der halb verkohlten Hütten aufmerksam geworden. Es war ein alter Lagerraum, der zum Hof Rollos gehörte. Hier verwahrte er wie viele andere Siedlungsbewohner sein Pferd, Heu und Futter für das Tier.
Gylve war näher heran gegangen und dann ganz deutlich einen jämmerlichen Klagelaut vernommen. Der Krieger war nicht zimperlich, wenn es darum ging, sich in Gefahr zu begeben und so hatte er sich vorsichtig in die Reste der Hütte gewagt. Hinter dem Eingang waren Teile des Dachs herunter gebrochen gewesen, doch eine Tür neben dem Pferdeverschlag war verriegelt. Gylve konnte nur mit Mühe das warme Eisen zurückziehen und dahinter hatte er sie gefunden, eine der Sklavinnen Rollos, die dieser hier offenbar eingesperrt gehalten hatte. Hätte er nicht schon früher ihr leises Jammern gehört, er hätte gedacht, die Frau sei tot.
Ausgerechnet Ragnar war Gylves Ruf nach Hilfe gefolgt und auch Rollo war später hinzugekommen, sah er doch, dass man sich an seinem Besitz zu schaffen machte. Dessen Antwort auf Ragnars aufgebrachte Frage, wieso er seine Sklavin nicht rechtzeitig aus dem Gefängnis geholt habe, würde Gylve nicht so schnell vergessen.
"Ich habe es halt vergessen", war die abschätzige Aussage gewesen und der Jarl stand offenbar kurz davor, seinem Bruder dafür eine handgreifliche Antwort zu verpassen. Nur ein leises Weinen, das nicht von der Frau kam, sondern von einem kleinen Wickelbündel, hielt den Mann von einer Prügelei ab.
Ungläubig hatte der Jarl auf das Bündel gestarrt, das halb unter den Kleidern der schwer verletzten Frau verborgen gewesen war. Der Säugling war ebenso von dem Brand gezeichnet wie seine Mutter. Die Augen waren stark gerötet und von Schleim verklebt, die Nase lief und bei jedem Atemzug hörten sie ein ungesundes lautes Pfeifen aus dem Brustkorb. Wortlos hatte der Jarl das Kind an sich genommen und war nach draußen gegangen. Gylfe aber und seine Helfer hoben die verbrannte Frau auf eine Decke, um sie ebenfalls ins Freie zu bringen. Selbst Rollo packte nun mit an. Jorunn, die auf der Suche nach dem Jarl gewesen war, kam hinzu und warf einen Blick auf die verletzte Frau. Seufzend ließ sie die Männer wissen, dass hier große Vorsicht geboten war, wollten sie nicht noch weitere Schmerzen auslösen.
Gylfe starrte aufs Meer hinaus. Er hielt seinen Jarl für einen guten Anführer und einen ehrenwerten Mann. Ja, er folgte jederzeit seinen Befehlen, weil er ihm vertraute. Doch wenn Ragnar seinen Bruder nicht bald in den Griff bekam … Der Krieger seufzte. Er hatte schon viele Männer mit ganz unterschiedlichen Charakteren kennengelernt, blutdurstige, gewissenlose Kämpfer, machthungrige Anführer, die über Leichen gingen. Rollo aber war anders. Wenn Gylfe etwas an ihm hasste, dann seine Hinterlist und seine Brutalität Schwächeren gegenüber.
So fand er es später auch durchaus angemessen, als Ragnar ihn bat, ein Auge auf die Schildhalle zu haben. Dass der Jarl seinem Bruder die Tötung des unliebsamen Säuglings untersagt hatte, musste Rollo ein Dorn im Auge und eine Herausforderung sein. So hielt sich Gylve ab diesem Moment stets nahe der Schildhalle auf. Er würde in den nächsten Tagen vorgeben, Jorunn Hilfe zu leisten.
Der Jarl aber, der zumindest die nötigsten Dinge geklärt hatte, zog sich nach zwei langen Tagen und einer durchwachten Nacht zurück. Bis an sein Haus war der Brand nicht herangekommen und auch, wenn sie nun zusätzliche Bewohner aufgenommen hatten, wäre es auf seinem Lager ruhig und bequem genug, um endlich zu schlafen. Ein wenig Wasser aus dem Brunnen musste reichen, um den groben Dreck abzuspülen. Dann zog sich Ragnar die Stiefel von den Füßen, das Lederzeug vom Körper und ließ sich in die Felle sinken. Den Arm über die Stirn gelegt, wartete er auf den erlösenden Schlaf.
Doch bevor es soweit war, kamen ihm Bilder der letzten Tage in Erinnerung: Die ersten Rauchwolken am Himmel, die ihn gewarnt hatten, die entsetzten Menschen, die erste Eimerketten bildeten, als er zu Pferde kam, um die Löscharbeiten durch seine Befehle zu ordnen, Thorsteins verzweifelter Sprung aus dem brennenden Haus, der Dachbalken, der krachend mit der gesamten Hütte zu Boden donnerte und dabei seinen Freund so heftig in die Seite traf, dass er aus den Flammen geschleudert wurde.
Er hatte sein Pferd sofort zu jener Stelle getrieben, an der Thorstein zu Boden gegangen war. Doch eine war viel schneller als er gewesen. Rúna musste den Sturz gesehen haben. Zuerst hörte er nur ihren unmenschlichen Schrei, als der Krieger fiel. Dann aber hatte sie sich offenbar schnell gefasst. Denn als er vom Pferd sprang, kniete sie längst neben ihrem Herrn, zerrte ihm einen Bündel glimmendes Reet vom Bein und rief immer wieder seinen Namen.
Angst lag in ihrer Stimme, viel mehr Angst, als es einer Sklavin beim Anblick ihres verletzten Herrn zustand.
Ragnar war schnell klar, dass es ihr in diesem Moment nur um den Mann ging und nicht um die Tatsache, dass es ihr Herr war, der dort lag. Der Jarl aber sah seinen besten Freund schwer verletzt am Boden liegen und in diesem Moment waren alle geheimen Wünsche, Rúna betreffend, vergessen. Kommandos riefen Helfer herbei und Ragnar wies an, dass neben Thorstein auch alle anderen Verletzten zur Schildhalle gebracht werden sollten. Weitere Befehle für die Wasserträger folgten, dann hob Ragnar die völlig verunsicherte Rúna vor sich aufs Pferd und trabte an. Kaum war der jungen Frau klar geworden, dass Ragnar zurück in die Siedlung ritt, da setzte er sie auch schon wieder ab, direkt vor dem Stall, in dem Hrimfaxi stand.
"Da drin steht Thorsteins Stute ", begann der Jarl. "Sattle sie und hole Jorunn her. Ihr beide müsst euch um die Verwundeten kümmern." Ragnar ließ Rúna vorsichtig zu Boden gleiten. Als sie auf ihren eigenen Füßen stand, sah sie so verloren und unglücklich aus, dass er ihr einfach Mut zusprechen musste.
"Thorstein ist ein zäher Kerl!", versicherte er ihr. "Der schafft das schon." Der Jarl zog sein Pferd um die Hinterhand. "Nun mach, Kleine! Er braucht Hilfe!"
Ragnar sah nicht mehr zu, ob seinen Befehlen wirklich Folge geleistet wurde. Er ritt zurück zu den Eimerketten und überwachte die Löscharbeiten.
Nun, da er auf seinem Lager ruhte, fiel dem Jarl allerdings einiges an seinem eigenen Verhalten auf. Er hatte zu Rúna wie zu seinesgleichen gesprochen. Und er hatte sich ohne zu zögern auf ihre Loyalität verlassen und ihr ein Pferd anvertraut - etwas, das er bei Sklaven sonst nie tat. Es war seltsam gewesen, dachte er, bevor er einschlief. Seltsam und außergewöhnlich und doch …