Als die Völva bei Rollos Haus eintraf, war Rúna gerade erwacht. Verwirrt starrte sie den Raum an, nicht realisierend, wo sie lag und wie sie dorthin gekommen war. Rollo aber brachte Jorunn ins Warme.
"Ich habe sie aus dem Meer gefischt", ließ er sie ohne Umschweife wissen. "Sie ist von den Klippen gesprungen."
Ruckartig blieb die Heilerin stehen. "Rúna ist gesprungen?", forschte sie ungläubig und voller Entsetzen nach. "Aber sie war doch …" Dann wurde ihr auch der Rest von Rollos Rede klar und ihr Blick wurde, wenn das denn möglich war, noch um einiges ungläubiger. "Und du hast sie gerettet? Du, Rollo?"
Unwirsch nickte der Krieger. Ja er, wer denn sonst! Dass sie ihm in dieser Hinsicht auch so gar nichts zutrauten! "Ja, ich!", brummte er missmutig. "Es war niemand da, der es sonst hätte machen können. Ich habe sie auch nur durch Zufall springen sehen." Nie und nimmer würde er vor der Völva zugeben, dass er einer Sklavin nachgegangen war. Schlimm genug, dass sie von seiner Rettungsaktion so überrascht war.
Doch Jorunn hatte sich schnell wieder gefasst. "Das war sehr mutig von dir, bei dieser Kälte ins Wasser zu gehen", ließ sie den verschlossenen Krieger wissen. "Nicht jeder hätte für eine Sklavin seine Gesundheit riskiert." Sie sah ihn freundlich an und bemerkte zufrieden, wie sich seine Miene aufhellte. "Ich bin sehr froh, dass du meine Schülerin gerettet hast."
Die Völva verschwendete nun keine Zeit mehr mit weiteren Plaudereien, sondern setzte sich zu Rúna, die ihren Kopf senkte, als sie der Blick der Älteren traf. "Was ist dir passiert, Mädchen, dass du dich töten wolltest?", forschte sie sogleich nach. "War es so schlimm, dass du dafür Thorstein und Solvig im Stich lassen musstest?" Die Völva versuchte, jeden Vorwurf aus ihrer Rede herauszuhalten. Rúna war eine starke Frau. Selbst Thorsteins schrecklicher Angriff hatte sie nicht brechen können. Wenn sie nun ihrem Leben ein Ende setzen wollte, dann war das, was sie erlebt hatte, wirklich furchtbar gewesen.
Die Alte ahnte schon, was ihre Schülerin auf die Klippen getrieben hatte. Doch sie wollte es von ihr selber hören. Also nahm sie kein Blatt vor den Mund und bohrte weiter nach. "War es ein Mann, der dich auf die Klippen gebracht hat?", ließ sie ihre Vermutungen nun verlauten. Und als Rúna beschämt nickte, setzte sie nach: "Hat er dich verletzt, dich vielleicht gegen deinen Willen genommen?"
Die junge Frau schluckte merklich. Dass diese Alte sich aber auch so gut in der Siedlung auskannte. Und sie würde sie mit Sicherheit auch anschauen und auf Verletzungen absuchen. Was blieb ihr anderes übrig, als zuzugeben, was sie nicht aussprechen konnte? Erneut zwang sich Rúna zu einem leichten Nicken. Der Völva dabei in die Augen sehen konnte sie nicht.
Die nächste Frage war folgerichtig und Rollo hatte schon mit ihr gerechnet, bevor Jorunn sie aussprach. "Wer war es?" Die Stimme der Völva war eisig. All ihr Zorn und ihre Wut lagen in diesen drei Worten. Rollo hielt unwillkürlich den Atem an. Bei Thors Hammer, das würde für seinen Bruder nicht gut ausgehen.
Auch Rúna hatte mit dieser Frage gerechnet, schon als Jorunn zur Tür hereingekommen war. Doch es war nicht Ragnars Wohl, das ihr am Herzen lag, während sie fieberhaft nach einer Antwort suchte. Sie musste Thorstein schützen, um jeden Preis. Der Krieger war von seinem Unfall noch schwer angeschlagen, konnte sich kaum lange auf den Beinen halten. Wenn sie jetzt ihren Peiniger beim Namen nannte, würde dem Steuermann wahrscheinlich alles egal sein. Er würde Ragnar zur Rede stellen und eine Schlägerei mit dem kräftigen und geübten Jarl konnte er nicht überleben. Für ihn musste sie unbedingt schweigen. Allerdings gab es einen Mann, der den Namen des Täters ebenfalls kannte.
Mit einem bittenden, fast flehenden Blick sah Rúna zu Rollo. "Ich weiß es nicht", flüsterte sie dann kraftlos, hielt aber den Blickkontakt zu dem ungläubig starrenden Mann. Als die Völva sich missbilligend räusperte und noch einmal nachhaken wollte, kam Rúna ihr zuvor. "Es war zu dunkel. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen."
Sie blieb dabei. Auch, als Jorunn begann, ihre Schultern und ihre Arme zu untersuchen und neben einer Vielzahl von Prellungen und blauen Flecken auch den Schnitt am Hals begutachtete. Der sei ihr beigebracht worden, als der Mann sie von hinten ergriffen habe. Viel zu verängstigt sei sie gewesen, als man sie in irgendeine Scheune gezogen habe, fuhr sie leise fort. Jorunn beließ es dabei. Wenn der Mann kein Linkshänder gewesen war, log Rúna. So wie der Schnitt an ihrem Kehlkopf begann und sich dann fast bis zu ihrem rechten Ohr zog, war der Messerträger vor ihr gewesen, sein Gesicht nahe bei ihrem. Die junge Frau musste also einen guten Grund haben, dessen Namen zu verschweigen. Sie, Jorunn, würde der ganzen Geschichte schon auf die Spur kommen. Wenn es etwas gab, über das sie im Übermaß verfügte, dann war es Geduld. Irgendwann würde Rúna schon reden.
Bevor sie ihre Schülerin entkleidete, schickte sie alle Hausbewohner hinaus. Dann schob sie die Decken von Rúnas Unterleib und befühlte auch diesen. Frigg sei Dank, war der Zudringling hier nicht allzu grob mit ihr umgegangen. Sie blutete nicht mehr und auch, als Jorunn ihr gegen den unteren Bauch drückte, hatte Rúna keine starken Schmerzen. Wieder einmal waren es diese Narben am Rücken, die sie am meisten quälten.
Also legte sie dort saubere Salbenverbände an, half Rúna auch, sich zumindest ein Unterkleid anzuziehen und gab dann genaue Anweisungen, wie sie sich die Betreuung ihrer Schülerin bis zum nächsten Tag vorstellte. Dann würde sie mit einem Karren kommen und die junge Frau zu sich ins Grubenhaus holen. Bis dahin war es besser, ihr ein wenig Ruhe zu gönnen. Mit Thorstein aber, und das versprach die Ältere Rúna, würde sie sprechen. Ganz sicher würde sie den Steuermann morgen sehen können.
Die Völva verließ Rollos Haus und der wieder eingetretene Krieger nutzte es, dass er mit Rúna allein war. "Warum hast du sie angelogen?", forschte er verständnislos nach. "Du weißt genau, wer es war und ich auch. Warum also hast du Ragnar vor ihr geschützt?"
Müde strich sich die junge Frau, die den Krieger an seine erste Liebe erinnerte, über die Augen. "Es geht hier nicht um Ragnar oder um mich", gestand sie leise. "Es geht um Thorstein, der nicht wissen darf, wer mir das angetan hat."
Stirnrunzelnd sah Rollo auf die erschöpfte Frau nieder. Was sie da erklärte, verstand er gerade gar nicht. Also forderte er Rúna auf, mehr zu berichten.
Eigentlich hätte sie weitere Einzelheiten gern vor Rollo verschwiegen. Doch er war ein Mitwisser und wenn ihm nicht klar wurde, wie wichtig sein Schweigen war, konnte er sich schnell verraten. Also gab Rúna nach und hob nun doch den Kopf, um ihren Zuhörer anzuschauen. "Thorstein möchte mich zu seiner Gefährtin haben", ließ sie den erstaunten Mann wissen, "und ich habe mich ihm versprochen. Wenn er nun erfährt, was mit man mit mir gemacht hat, wird er jede Hoffnung auf eine gemeinsame Familie mit mir aufgeben. Eine solch ehrlose Frau kann er gar nicht haben wollen." Sie schwieg und ein paar ungewollte Tränen rannen ihr übers Gesicht.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie weitersprechen konnte. "Er wird sein Angebot zurücknehmen und ich werde es ihm so leicht wie möglich machen", versicherte sie Rollo. "Doch er wird für diese Schmach Rache nehmen wollen. Jeder Krieger würde das tun." Sie sah Rollo erneut flehend in die Augen. "Wenn er, so verletzt und geschwächt, wie er derzeit ist, Ragnar zur Rede stellt, wird der Jarl ihn umbringen. Und das will ich um jeden Preis vermeiden."
Runa packte den erschütterten Krieger am Arm. "Ich weiß, ich habe nicht das Recht dazu, doch gib mir dein Wort, dass sie es nicht aus deinem Mund erfahren! Es ist das Geringste, was wir für Thorstein tun können!"
Lange hielt Rollo dem Blick dieser außergewöhnlichen Frau stand. Dann räusperte er sich und gab ihr, was sie sich von ihm wünschte. "Du hast mein Wort darauf!", versprach er ernst.
Länger jedoch hielt er es nicht mehr an ihrem Lager aus. Der Zorn auf seinen Bruder brannte förmlich in seinen Eingeweiden. Ruckartig sprang er auf und rannte zur Tür hinaus.