Das Gesicht des Alten war hager, der Blick ernst und in dem schütteren Bart an seinem Kinn glitzerten Schneeflocken. Frode hatte sich ein altes Fell über die Schultern gezogen, um so dem aufkommenden Sturm zu trotzen. Dennoch sah Thorstein, dass der Mann fror.
»Wir sollten es kurz machen«, ließ er ihn wissen. »Der Sturm wird nicht mehr lange auf sich warten lassen und bis zu meinem Hof sind es gute drei Meilen.«
Trotzig richtete sich der Alte auf. »Wer sagt dir, dass wir dir folgen werden? Ich kenne dich nicht, Mann, und werde bestimmt nicht blind einem fremden Krieger folgen. Die Menschen hier vertrauen mir.«
Thorstein fluchte halblaut. Natürlich hatte Frode aus seiner Sicht recht, vorsichtig zu sein. Auch er würde die ihm anvertrauten Menschen nicht unachtsam einem Fremden überlassen. Doch die Situation war besonders und die Zeit drängte.
»Ich bin Thorstein, ein Mann Ragnar Loðbróks«, ließ er den Alten wissen. »Ich verspreche dir bei meiner Kriegerehre und Walhalla, dass ihr keinen Verrat von mir oder meinen Leuten befürchten müsst. Ich werde euch auch nicht zwingen, mir auf meinen Hof zu folgen. Doch es naht ein schwerer Sturm und ihr könnt hier draußen schnell erfrieren …«
Sie wechselten noch einige Worte, dann gab der Ältere nach. Man sah Frode an, dass er nicht vollständig von Thorsteins Lauterkeit überzeugt war. Doch es blieb den Frierenden im Moorversteck auch keine andere Wahl – ohne das Erscheinen des Steuermannes hätten sie die kommende Nacht kaum überstanden. Also gab Frode nach und rief seine Leute zusammen. Bald drängten sich zehn magere, verwahrloste Gestalten um den Neuankömmling und musterten diesen halb ängstlich, halb neugierig. Die Männer machten ernste Gesichter, als Thorstein ihnen eröffnete, dass sein Hof noch einen weiten Fußmarsch entfernt lag. Einer von ihnen ließ sich das kleine Mädchen auf den Rücken heben, andere drückten die ärmlichen Packen ihrer Habe fester an sich. Dann zogen sie los.
Der Wind frischte immer mehr auf und durch das Unterholz des Moores bliesen nun jaulende Böen. Schnee- und Eiskristalle fegten den Wanderern in die geröteten Gesichter und in die Augen, welche bald schon zu brennen begannen. In den Bärten der Männer und an den Umschlagtüchern der Frauen gefror der Atem zu einer Eiskruste. Thorstein schritt nun kräftig aus und trieb auch die Anderen an. Als er sah, dass jener Mann, der das Kind trug, unter seiner Last strauchelte, nahm er dem verdutzten Vater kurzerhand die Kleine ab. Das Mädchen mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, vermutete der Steuermann. Doch es wog, so schien es ihm zumindest, kaum mehr als ein Zicklein. Entschlossen zog Thorstein seinen Umhang über die Kleine. Heute Nacht würde niemand im Sturm umkommen!
Doch so sehr er sich diesen Wunsch auch vorgesagt hatte, während sie sich aus dem Sumpf herausarbeiteten, so erleichtert war er auch, als er im Schneetreiben endlich Teitr und das Ochsengespann ausmachte. Nun erst war er sich wirklich sicher, dass sie es schaffen würden, den Moorseehof vor dem ärgsten Unwetter zu erreichen.
Gutmütig schüttelten die Ochsen ihre dicken Köpfe, um den Schnee abzuschütteln. Teitr aber winkte den Neuankömmlingen weniger geduldig zu. »Macht, dass ihr auf den Wagen kommt!«, herrschte er die beiden Frauen an und hob seinem Freund dann das Mädchen vom Rücken. »Wer nicht schnell laufen kann, der steige auf. Wer kräftig genug für den Marsch ist, bleibt neben dem Karren und hilft beim Schieben, falls sich Probleme auf dem Weg ergeben.«
Die Anweisungen waren klar. Frode und ein weiterer, ganz offensichtlich verletzter Mann stiegen mit auf den Ochsenkarren. Die Peitsche knallte durch die Luft und die beiden Zugochsen legten sich ergeben ins Joch. Nach und nach nahm der Karren Fahrt auf und schon bald zuckelten sie in einem langsamen aber gleichmäßigen Tempo am Seeufer entlang. Hege und Thorstein ließen ihre Pferde vorangehen, um für ein wenig Spur zu sorgen. Andere Männer traten mit ihnen den Weg vor den Ochsen weiter fest, sodass die Tiere gut vorankamen.
Dennoch war der Weg weit und die Sicht wurde immer geringer. Thorstein spähte aufmerksam in das Schneetreiben und auch Teitr konzentrierte sich auf den Weg. Die Flüchtlinge auf und neben dem Karren schwiegen. So zogen sie dahin und manch einer mochte schon fast den Mut verlieren, als Thorstein, dem der Sturm entgegenwehte, einen vertrauten Duft zwischen dem eisigen Wind wahrnahm – den Geruch nach Holzfeuer. Erleichtert stieß er einen Triumphschrei aus und auch der alte Vorarbeiter lächelte zufrieden in seinen Bart. Die Ochsen spürten es schließlich auch und schlugen von selbst eine schnellere Gangart an – bald würden sie ihren Stall erreicht haben!
»Langsam, ihr Hornviecher«, brummte Teitr den Beiden zu, zog dabei aber nur unentschlossen an den Zügeln. Auch er war heilfroh, den schützenden Hof noch rechtzeitig erreicht zu haben. »Bleibt manierlich!«
Aus den Decken hinten im Karren reckten sich die Gesichter nach oben, um mehr von dem sicheren Ziel ihrer Fahrt zu erkennen. Als der hohe, starke Holzzaun vor ihnen in Sicht kam, murmelten sich die Neuankömmlinge ihre Beobachtungen einander zu. Teitr pfiff zwei Mal lautstark, dann öffnete sich das Tor mit einem lauten Quietschen, dass dem Vorarbeiter und auch Thorstein wie Musik in den Ohren klang. Sie hatten es geschafft!
Das Geräusch des sich öffnenden Tores und das Klappern der Hufe auf dem festen Boden des Hofes lockte auch die anderen Bewohner des Moorseehofes aus ihrem warmen Haus. Allen voran lief Runa hinaus in den Schnee. Thorstein und Teitr waren beinahe endlos lange unterwegs gewesen. Sie musste sich einfach so schnell wie möglich versichern, dass ihr Gefährte und ihr engster Freund sicher und unversehrt zurückgekommen waren.
Mit roten Wangen erreichte sie den Karren, der gerade vor dem Stall hielt. Thorstein sprang von Skinfaxi, schlang das Halfter um ein Geländer und eilte dann zu seiner schönen Frau, um sie kurz aber liebevoll in die Arme zu schließen.
»Alles ist gut!«, murmelte er in das weiche Haar Runas, die vor lauter Eile nicht einmal ein Umschlagtuch übergeworfen hatte. Bereits jetzt spürte er, wie sie in Kälte und Wind fröstelte.
»Da ist ein kleines Mädchen auf dem Karren«, ließ er sie wissen. »Das muss ganz schnell hinein ins Warme.«
Eifrig ging Runa auf diesen Hinweis ein. »Es ist alles für die Gäste vorbereitet«, ließ sie Thorstein wissen. »Keiner von ihnen wird länger frieren oder hungern müssen.«
Sie wussten beide, dass der Hof keine weiteren zehn Menschen einen ganzen Winter lang ernähren konnte. Doch darüber mussten sie später nachdenken. Heute hatten sie getan, was sie konnten, um die Gruppe zu retten.
Runa half den beiden Frauen vom Karren herunter und hob dann das kleine Mädchen herab. »Kommt schnell ins Haus!«, wurden die drei zusammen mit den anderen Neuankömmlingen eingeladen.
Dann, als alle dichtgedrängt um Thorsteins großen Eichentisch versammelt saßen, musterten sich Moorhofbewohner und Fremde gegenseitig gründlich. Erst als Runa einen großen Kessel mit dampfender, heißer Suppe auftrug, wandten sie sich Wichtigerem zu. Doch auch die Fremden kannten Sitten und Bräuche der Nordmänner und so schwiegen sie vor ihren gefüllten Schalen, bis Thorstein den Dank an Odin, Thor und die Asen gesprochen hatte. Dann erst, als ein Schluck Bier den Boden getränkt hatte, griffen sie zu. Brot wurde herumgereicht, Bier und warmes Honigwasser ausgeschenkt und alle stärkten sich.
Später, als sie sich gesättigt zurücklehnten und das kleine Mädchen auf dem Schoß der Mutter eingeschlafen war, ergriff Frode das Wort: »Ich war mir nicht sicher, ob ich dir vertrauen könne«, gab er gegenüber Thorstein zu. »Doch nun, wo wir alle sicher und warm beieinander sitzen, möchte ich dir sagen, dass ich dir von Herzen danke. Diese Menschen, meine Freunde, sind alles, was mir geblieben ist. Sie sind großherzig und gutmütig, wie es eine Familie sein sollte. Sie nun hier sitzen zu sehen, geschützt vor dem Sturm, warm und satt – das bedeutet mir alles! Odin sei mein Zeuge! Mein Dank und der Dank der Asen seien dir gewiss!“
Thorstein hatte die blumige Rede des Alten mit einem Schmunzeln über sich ergehen lassen. Er war bestimmt kein so großzügiger Menschenfreund, wie ihn Frode gerade beschrieb. Viele Feinde waren durch seine Hand schon gefallen. Dennoch tat es gut, diese Leute, welche sich auf sein Land verirrt hatten, gerettet und in Sicherheit zu sehen. Draußen donnerte der Sturm über die Dächer und rüttelte prüfend an den geschlossenen Fensterläden. Hier drinnen aber war es wohlig warm und der Krieger wusste, dass es auch diesem Angriff des Dieners von Njörd nicht gelingen würde, in das Haus einzudringen – mochte er auch noch so toben!
»Jeder von euch wird heute Nacht einen warmen Platz finden«, stimmte er schließlich Frode zu. »Doch vorher sollten wir uns auch von innen wärmen.« Er zwinkerte Runa zu. »Und dazu käme ein guter Met gerade richtig.« Seine Gefährtin lachte leise und zum wiederholten Mal versank Thorstein im Anblick ihres herzlichen Lächelns. Als sie sich erhob, um das Gewünschte zu holen, tat er es ihr nach und schloss sie fest in die Arme. Dabei spielte es keine Rolle, dass ihm neun neue Augenpaare folgten, als er seine schöne Gefährtin küsste. Noch steckte ihm das Wissen um die Gefahr des Wintersturm in den Knochen. Was gab es also Besseres, sich des Lebens zu versichern, als seine schöne junge Frau zu umarmen und sich von ihr ebenso liebkosen zu lassen, ein paar neugieriger Blicke zum Trotz?