Zuversichtlich sass Nia im Flugzeug und beobachtete die Landschaft unter sich. Sie staunte über die schier unglaublichen Weiten dieses Landes - für sie, die sie aus einem kleinen Land in Europa kam, war dies beinahe nicht zu fassen. Und die Schönheiten, die sie hier aus der Vogelperspektive zu sehen bekam, machten sie neugierig auf mehr. Das Verlangen wuchs, sich dieses Land genauer anzusehen, es besser kennenzulernen. Tief in ihr bewegte sie immer noch die Frage "Warum bist du hier?". Aber auch die Frage nach dem Sinn ihres ureigenen Lebens beschäftigte sie, während sie über endlos wirkenden Wälder und Gebirgszüge flog.
Sie musste eingenickt sein, denn auf einmal fand sie sich auf der Waldlichtung vor der Hütte wieder. Sie sah sich um, atmete tief die würzige Luft der Tannen ein, welche diese umgaben, spürte eine sanfte Brise auf ihrer Haut. Der Waldboden unter ihren Füssen fühlte sich weich an und lud sie ein, sich niederzulassen. Sie streckte sich aus und genoss die Sonne auf ihrem ganzen Körper.
Auf einmal spürte sie einen eindringlichen Blick auf sich. Etwas erschrocken setzte sie sich auf. Das Reh stand in unmittelbarer Nähe vor ihr. "Schön, dass du unterwegs bist, meine Tochter!" sagte es sanft. "Achte auf die Zeichen auf deinem Weg. Du wirst mich finden." Dann verschwand es ruhig zwischen den Bäumen. Nachdenklich schaute Nia ihm nach.
Da öffnete sich die Türe der Hütte und der Mann mit dem Hut kam heraus. In der Hand trug er eine Flöte. Er setzte sich auf die Bank neben dem Eingang und begann zu spielen. Warme Farben entstiegen dem Instrument und bewegten sich geradewegs auf Nia zu. Sie hüllten sie ein, legten ihr gleichsam einen zärtlichen Mantel um die Schultern. Wunderschöne Formen erzählten Nia von den aufkeimenden Gefühlen des Mannes mit dem Hut ihr gegenüber. Sie berichteten aber auch von seinen Ängsten, seiner Verwirrung und seinem Entschluss, zuerst einmal sich selbst kennenlernen zu wollen. Der Mann spielte und spielte und gewährte Nia einen Blick in sein Herz. Tief bewegt sass sie da und las die Farben und Formen, welche sich in ihrem Inneren in Musik und Worte wandelten. Eine Farbform wiederholte sich immer wieder und schien das ganze Flötenspiel zusammenzuhalten, eine Farbe, welche Nia zutiefst berührte, für welche sie aber kein Wort fand. Zum Schluss bat sie der Mann mit dem Hut, mit ihm in Kontakt zu bleiben - im Vertrauen darauf, dass sie beide sich zur richtigen Zeit begegnen würden. Nia konnte nicht mehr an sich halten. Sie stand auf und wollte zur Hütte laufen - da wurde sie unsanft geweckt. Das Flugzeug war soeben gelandet.
Patric war über seinen Schatten gesprungen und hatte der unbekannten Frau viel von dem anvertraut, was ihn bewegte und beschäftigte. Während er auf der Bank vor seiner Hütte sass, hatte er stets das Gefühl gehabt, sie sitze dort auf der Waldlichtung. Merkwürdig, wusste er doch, dass er sie nur hören, aber nicht sehen konnte. Und wusste er doch, dass sie bestimmt meilenweit weg war von ihm und seiner Hütte! Er ging auch nicht davon aus, dass sie den Weg hierher gefunden haben sollte. Trotzdem spürte er dort eine Energie, welche er als wohltuend empfand und wie von selbst drehte er seinen Kopf während des Spielens stets in jene Richtung. Dann, auf einmal, war die Lichtung leer - Patric stutzte und legte die Flöte zur Seite. Wieder tauchten Fragen in ihm auf. Fragen, welche sein Volk ihm wohl beantworten könnte. Nachdenklich stand er auf.
Dann ging er zurück in seine Hütte und packte ein paar Sachen. Er musste zu seinem Volk. Vor allem aber hoffte er, die alte Schamanin anzutreffen. Sie könnte ihm bestimmt Antworten geben auf seine Fragen.
Wieder legte er die Adlerfedern so auf den Tisch, dass die unbekannte Frau sie als Zeichen seiner Abreise erkennen könnte, falls sie sich Flöte spielend melden würde. Patric merkte, dass er sich dies wünschte.