"Freut ihr euch schon?", Lumen lief aufgeregt die steiler werdende Straße an den fast schon zu kitschigen Gärten der umliegenden Einfamilienhäuser entlang, "Das wird toll, so wie letzten Sommer!"
Suma trottete ihr nach. Er hatte Erinnerungen an den letzten Sommer, aber sie fühlten sich fremd und eigenartig an, als würden sie nicht zu ihm gehören.
Treplew trug einen Picknickkorb, ihm waren gegen Sumas Erwartungen immer noch keine Hörner gewachsen.
"Das wird bestimmt klasse!", warf Treplew ein, "Vielleicht haben wir wieder den ganzen Strand für uns!"
Wie sie auch den ganzen Ort für sich hatten. Suma fiel gerade auf, dass sie keinem Menschen begegnet waren, auch in den Gärten oder Parks war niemand zu sehen.
Er ging einfach weiter. Die Sonne blendete ihm zu viel und er fühlte sich mehr als nur fehl am Platz. Die hübsche Kopfsteinpflasterstraße und der Charme der Einfamilienhäuser mit ihren kleinen Läden konnten ihn nicht in eine positivere Stimmung versetzen. Auch die übertrieben grünen Wiesen und die perfekt wirkenden Parks mit ihren weißen Bänken und Springbrunnen störten ihn eher, als seine Laune zu heben. Am Ende der ansteigenden Straße hatte er einen Bahnhof erspäht. Dort würden sie in den Zug zum Meer steigen.
Auch das war, laut der Erinnerung, kitschig und perfekt. Friedlich, aber keine einzige Muschel war zu finden, auch keine Möwe, nichts.
"Psst", jemand schien von hinten seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen. Er drehte sich verwirrt um. Aus einer der kleinen gepflasterten Seitenstraßen winkte ihm eine Hand zu, dann verschwand sie. Suma machte sich nicht die Mühe, seinen Freunden zu erklären, wo er hinwollte, er lief einfach darauf los. Er war froh der Situation entkommen zu können und hoffte, dass sie sein Verschwinden nicht sofort bemerken würden.
Vor ihm lief eine Gestalt, die sich unter einem langen grauen Mantel mit Kapuze verbarg. Suma bemerkte nur die schwarzen Stiefel, denen zufolge es sich um einen Mann handelte.
Er rannte ihm einfach nach, durch die verlassen wirkenden Straßen dieser Stadt, mit der Suma nichts anfangen konnte. Er hatte das Gefühl, dass dies der einzige Ausweg aus diesem perfekten Drama sein könnte, ein Stück Wahrheit.
In einer Sackgasse, umrandet von den Rückseiten einiger größerer Gebäude, endete seine Verfolgungsjagd. Der Mann blieb stehen und drehte sich aber nicht zu ihm um. Suma bremste, hielt einen Meter vor ihm an und schrie: "Wer bist du?"
Der Mann drehte sich zu ihm um, die Kapuze war riesig und ließ keinen Blick auf sein Gesicht zu. Er antwortete mit kühler Stimme, emotionslos und harsch: "Die Frage ist, wer bist du?"
Suma fühlte sich gefangen in einem bizarren Traum, der sich immer mehr zu einem Alptraum ohne Erwachen entwickelte. Diese Frage hatte er sich oft genug gestellt. Er hatte weder von sich selbst, noch von sonst jemandem eine Antwort erhalten.
"Empfindest du diese Welt als real?", nun kam der Mann ihm gefährlich nahe, mit einem Mal begann Sumas Kopf zu pochen. Ein plötzliches, sehr schmerzhaftes, Pfeifen in seinen Ohren ließ ihn in die Knie gehen. Der Mann zog nun seine Kapuze zurück. Blondes Haar kam zum Vorschein. Suma starrte immer noch von den Schmerzen in seinem Kopf gepeinigt zu ihm hinauf. Es war, als würde er in einen Spiegel blicken. Vor ihm stand er selbst. Nur seine Haare waren kürzer und seine Augen Türkis. Die zweite Frage seines Spiegelbilds hatte er sich auch bereits hunderte Male gestellt, vor allem seit dem merkwürdigen Erwachen am heutigen Tag. Er hatte außer Lumen und Treplew keinen einzigen Menschen gesehen, nur sein Spiegelbild, als wäre dieser Ort nur für sie erschaffen worden.
Erinnerungen schossen durch seinen Kopf. Der Moment in der Firma, als ihm Lumen gesagt hatte, dass sich seine Augenfarbe verändert hatte. Seine Frage hatte sich verändert.
"Wie lautet deine Frage?", sein Spiegelbild zeigte mit starrem Blick auf ihn.
Suma überlegte kurz: "Nicht wer bin ich... Sondern WAS bin ich!?"
Sein Spiegelbild nickte: "Jetzt verstehst du die Frage! Du bist näher an Nirgendwo als je zuvor."
Sumas Kopfschmerzen erreichten ein neues Level. Er sackte zusammen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
Als der Schmerz nachließ, hob er langsam den Kopf. Seine Umgebung hatte sich verändert. Er kauerte in einem Zimmer. Der Holzboden kam ihm vertraut vor, wie auch der antike Schreibtisch an der Wand vor dem Fenster, aus dem er in einen Wald erspähte.
An der Seite lagen Decken und Polster. Ein wohliges Gefühl stieg in ihm auf. Am Schreibtisch saß eine Frau mit dem Rücken zu ihm. Ihre langen ebenholzfarbenen Locken war alles, was er sehen konnte. Er kannte sie, er wusste, wer sie war.
"Eva?", fragte er mit zittriger Stimme. Die Frau ließ das Buch, in dem sie gerade gelesen hatte, sinken und drehte sich zu ihm um.
"Du bist gekommen!", sie strahlte ihn freudig an. Suma war fasziniert von ihren goldenen Augen, die auf einmal unglaublich traurig wurden. "Aber wir haben nicht viel Zeit. Dass du hier bist heißt nichts Gutes! Und sie werden es bald bemerken...", sie stand auf und reichte ihm die Hand, zog ihn mit Leichtigkeit auf die Beine. Die Schmerzen in seinem Kopf waren verflogen, er fühlte sich wie neu geboren, als könne er fliegen.
"Was meinst du damit? Wer sind die?", fragte er, fixierte weiter ihre goldenen Augen.
Eva strich ihm sanft mit den Händen über die Wangen: "Weißt du woher die Narben stammen?"
Verwirrt folgte er den Bewegungen ihrer Hände, als sie sich berührten fühlte er sich elektrisiert. Er wusste nicht, woher die Narben in seinem Gesicht stammten, aber er fühlte, dass es etwas mit ihr zu tun haben musste.
"Du bist immer noch verwirrt", stellte sie mit einem schiefen Lächeln fest, "Aber du musst dich erinnern! Auch, wenn es weh tut, du musst erkennen, wer du bist! Sonst hat diese Welt keine Chance auf Gerechtigkeit und die anderen Welten, die der Dunkle vergiftet hat, auch nicht!"
Suma starrte sie verwirrt an: "Der Dunkle? Welten?"
Eva lachte, sie nahm seine Hand: "Du dummer Junge, der Dunkle, den kennst du doch zur genüge! Die Jagd ist noch nicht vorbei. Sie hat gerade erst begonnen! Es ist an der Zeit sie fortzusetzen, ohne einen Anführer sind die Jäger verloren!"
Suma versuchte so viele Informationen wie möglich zu erhalten. Sein Gefühl sagte ihm, dass dieser Moment bald wie Sand in seinen Fingern zerrinnen würde. "Wie lange dauert die Jagd? Und was jagen wir?", fragte er schnell.
Eva strahlte ihn wieder an: "Mein Vater hat mir, als ich noch sehr klein war, von der ewigen Jagd erzählt. Deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Du musst die Jagd fortsetzen! Du darfst nicht aufgeben. All die Opfer, die man von dir verlangt hat und noch verlangen wird... Aber keiner kann sich sein Schicksal aussuchen!"
Suma sah wie der Raum um ihn langsam verschwand. Er löste sich einfach auf und rieselte davon, dahinter erstreckte sich Schwärze.
"Bitte geh nicht", flüsterte er verzweifelt, "Ich brauche mehr Zeit! Ich habe noch so viele Fragen..."
Eva strich ihm traurig noch einmal über die Wange, bevor auch sie begann sich aufzulösen. "Zeit hatten wir noch nie und die Zeit arbeitet auch jetzt gegen uns, gegen dich... Erinnere dich. Die Wahrheit liegt tief in dir verborgen, nur du kannst sie finden! Erinnere dich an Nirgendwo. Erinnere dich an das, was du bist! Hör auf davor wegzulaufen!"
Ihre Stimme verklang, um Suma war nichts als Schwärze und Dunkelheit. Verzweifelt drehte er sich herum, suchte nach einem Funken Licht, aber er konnte keines entdecken.
"Eva", seine verzweifelten Rufe hallten durch das Nichts, in dem er gefangen war, "Eva bitte, verlass mich nicht, komm zu mir zurück!"
"Was für ein erbärmliches Gejammer... Wenn du wüsstest, was du bist, würdest du damit aufhören. Endlich begegnen wir uns wieder!", hallte eine düstere Stimme durch seinen Kopf, "Nach all den Jahren sehe ich, was aus dir geworden ist!"
Suma hielt erschrocken inne. Die Stimme erschütterte ihn, ließ ihn erschaudern und ging durch seinen ganzen Körper.
"Mein Sohn, mein Erbe, mein Vermächtnis!"
"Wer bist du, oder besser, was bist du?"
"Ich bin es, mein Sohn, dein Vater!"
"Mein Vater? Finn sagt mein Vater ist der Teufel!"
"Finn sagt ... Du bist ja ein verwirrtes Kerlchen!"
"Und du bist?"
"Man nennt mich den Dunklen!"
"Bescheuerter Name... Warte, was? ... Der Dunkle???"
"Trotzig wie eh und je. Doch mir so ähnlich. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!"
"Warum sollte ich dir glauben? Warum sollte ich noch irgendetwas glauben ..."
"Warum sollte irgendjemand dem Bösen glauben? Oder einer kleinen Hexe mit goldenen Augen? Warum solltest du dir selbst glauben, wenn du deinen Sinnen nicht mehr trauen kannst?"
"Du bist also wirklich der Teufel, so wie man sich das vorstellt? Was weiß ich schon..."
"Man hat mir in den Jahrhunderten viele Namen gegeben! Du weißt alles und doch nichts mein Sohn. Du hast deine Erinnerungen tief in dir eingeschlossen, aus Schmerz und Scham, du dummer Junge."
"Und warum bin ich dann kein Teufel? Danke für die Blumen..."
"Du bist mein Meisterstück, das Mächtigste, was ich erschaffen konnte! Die anderen waren nicht vollständig, die anderen waren Minderwertig. Du hingegen bist gesegnet..."
"Und wer ist dann bitte meine Mutter? Gesegnet? Welche anderen?"
"Experimente brauchen nicht immer eine Mutter. Zellen reichen!"
"Ich bin ein... Und es gibt mehrere, so wie mich?"
"Ja, ein Experiment, das erste, welches mir geglückt ist, mit den Zellen dieses verdammten Wesens! Deine Brüder sollten dich nicht kümmern... Die meisten haben nicht überlebt!"
"Das ist ja schrecklich... Warte... Hör auf, sei still! Der Teufel lügt, täuscht und betrügt! Ich kann meinen Augen nicht trauen, also auch meinen Ohren nicht! Ich bin verwirrt, verloren gegangen, ja das bin ich... Komplett wahnsinnig ..."
"Zweifel ist nicht der beste Ratgeber, mein Sohn! Und Wahnsinn ist gefährlich!"
"Du bist der Teufel, also bist du auch der Zweifel!"
"Du wirst die Wahrheit in dir finden."
Suma hielt sich die Ohren zu. Er wollte die düstere Stimme nicht mehr hören. Sein Geist war ausgelaugt und er fühlte sich nur noch leer. Sein Gehirn konnte all die Informationen schon lange nicht mehr verarbeiten. Er hatte das Gefühl dem Wahnsinn bereits verfallen zu sein, den Verstand nun komplett verloren zu haben. Keine Ahnung mehr zu haben was Real war, das gab ihm nun endgültig den Rest.
Suma riss erschrocken die Augen auf. Ihn begrüßte derselbe Anblick wie am letzten Tag. Dieses Jugendzimmer, die Fotos, der grüne Teppich. Er war komplett verstört und zitterte am ganzen Körper. Ein Klopfen an der Tür, ließ ihn noch mehr zusammenfahren.
"Nein!", schrie er. Er ertrug den Anblick des Zimmers nicht und er wollte nicht wissen, ob es Treplew oder Lumen vor der Tür war. Er wollte nur alleine sein.
Hektisch riss er das Fenster auf, ohne an mögliche Verletzungen zu denken sprang er hinaus, landete auf den Beinen. Es tat nicht weh, eine sanfte Landung. Dann begann er zu laufen. Weg von dem Haus. Einfach die Kopfsteinpflasterstraße entlang, in der Hoffnung, dass hinter irgendeiner Ecke etwas Normales auf ihn warten würde. Ein Ausweg aus dieser ganzen komischen Situation. Er erreichte den Park, an dem er gestern vorbeispaziert war.
Da stand jemand, ein anderes Lebewesen, nicht Treplew, zu klein dafür. Auch nicht Lumen, dafür zu schlank, die Bewegungen waren anders, graziler, schneller.
"Wer ist da?", schrie er. Mittlerweile war es ihm egal, ob andere ihn für verrückt hielten. Der Zug war abgefahren, Suma glaubte selbst den Verstand verloren zu haben.
"Du musst mich begleiten!", die Frau kam auf ihn zu. Ihr Gesicht war fast zur Gänze unter der Kapuze ihres langen, schwarzen Mantels verborgen. Er sah nur ihre vollen Lippen, die angespannt zuckten.
"Wer bist du?", fragte er und hob beide Hände, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie sich nicht weiter nähern sollte.
"Eine Jägerin!", antwortete sie leise, "Eine ewige Jägerin!"
Suma erschauderte. Die ewige Jagd. Eva, die Hexe aus seinen Träumen, hatte darüber gesprochen.
"Was jagst du?", frage er verunsichert, hoffte nun eine Antwort auf diese große Frage zu bekommen.
Die Frau biss sich immer wieder genervt auf die Lippe. Sie schien in großer Eile zu sein: "Im Moment? Dich! Entweder du begleitest mich freiwillig, oder ich muss Gewalt anwenden. Ich habe keine Zeit für Spielchen!"
Suma nahm sich einen Moment Zeit, um in sich zu gehen. Er wusste nicht warum, aber alles in ihm schrie förmlich danach, die Frau zu begleiten und mehr über die Jagd zu erfahren.
"Wir haben nicht viel Zeit, die anderen merken das etwas nicht stimmt!", drängte ihn die Frau, "Wenn sie mich finden haben wir verloren!"