Als mein Wecker klingelte, warf ich mein Lieblingskissen nach dem Ding und rollte mich in meiner Decke ein. Schon wieder Montag. Ein neuer Tag, an dem ich mich wahrscheinlich bis auf die Knochen blamieren und an dem alle darüber lachen würden, wie ungeschickt ich komische Ophi war, die irgendwie eine Schraube locker zu haben schien und die man besser mied, wenn man nicht verletzt werden wollte. Ich seufzte.
Und dabei hieß es doch immer, dass Kinder aus reichen Familien so beliebt seien. Pusteblume - oder hieß das Pustekuchen? Wie auch immer …
Ich streckte mich genüsslich und wollte seufzen, doch daraus wurde eher ein ersticktes Quieken, weil ich dabei zu nah an den Bettrand kam. Mit einem lauten Poltern landete ich auf dem Teppich davor und jaulte.
»Verdammter Mist«, fluchte ich und richtete mich auf, während ich meine blau gefärbten Haare aus dem Gesicht wischte.
»Sie ist aber auch ein Trottel ... dabei hat der Tag gerade erst angefangen ...«
»Es hilft ihr nicht, wenn du immer gleich vom Leder ziehst!«
Ich weigerte mich, auf das zu reagieren, was meine Ohren da hörten. Diese Stimmen waren nicht echt! Stattdessen rieb ich mir den Hinterkopf und schlüpfte in meinem angrenzenden Badezimmer unter die Dusche. Dabei gelang es mir, einigermaßen blessurfrei wegzukommen. Beim Weg zum Kleiderschrank allerdings verließ mich mein Geschick und ich stieß mir den großen Zeh an meinem Bett. Ich hüpfte wie eine Hexe herum und fluchte.
»Hahahahahahaha ...«
»H-Hör auf zu lachen ... D-das tat ... haha ... das tat doch weh!«
»Haltet eure Klappe, verdammt!«, verlor ich die Nerven und funkelte wutentbrannt zu meinem Nachttisch.
Ich hatte vor einigen Wochen einen Unfall mit dem Fahrrad gehabt, bei dem ich schwer mit dem Kopf aufgeschlagen war und daraufhin einige Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Laut den Ärzten war inzwischen alles wieder in Ordnung, aber denen hatte ich auch nicht erzählt, was meine Augen seither sahen. Was hätte ich auch sagen sollen ...?
Dass mir seitdem zwei etwa zwölf Zentimeter große Gestalten auf Schritt und Tritt folgten, die nie die Klappe hielten? Die immer an meiner Seite waren, mal verschwanden, um an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen, aber die meiste Zeit auf meiner Schulter saßen? Die ich herunterschubsen konnte, so oft ich wollte, die dann aber einfach in der Luft hängen blieben? Und vor allem, die nur ich sehen konnte?
Ich hatte bei Filmen immer über diese Art der Darstellung des Gewissens gelacht. Schulterengel ... Engelchen und Teufelchen? Dass ich nicht lache …
Aber tja, was soll ich sagen? Ich war seit dem Unglück in dem Genuss der Gesellschaft zweier - ich nenne sie Personen - und die beiden waren eindeutig Engelchen und Teufelchen.
An diesem Morgen saßen sie auf meinem Nachttisch und sahen sich verdutzt an, weil ich so laut geworden war.
»Aber, aber ... immer mit der Ruhe, Schneckchen«, lachte das Kerlchen, das aufgemacht war wie ein kleiner Rocker, mit blutroten Haaren und Dämonenflügeln. Er sah hübsch aus und wenn er kein Plagegeist im Barbieformat wäre, hätte ich Gefallen an ihm finden können. Er nannte sich selbst Castiel.
Ich empfand es als komisch, dass ein Teufelchen den Namen eines Engels trug, aber er war meine Halluzination, da durfte er heißen, wie er wollte!
»Ich muss mich für seine Frechheiten entschuldigen«, mischte sich das zweite Bürschchen ein, der dem anderen nicht unähnlicher hätte sein können. Er war blond, hatte fluffige, weiße Flügelchen und war angezogen wie ein Streber, mit einer hellen Hose, einem Hemd und einem hellblauen Pullunder. Außerdem war er wirklich niedlich, ihn könnte ich fast mögen, wenn er nicht genauso eine Halluzination wäre wie der kleine Castiel. Das hellhaarige Kerlchen nannte sich selbst Nathaniel, auch ein Engelsname und er war eindeutig mehr einer als der andere.
Trotzdem war es extrem belastend für meine Nerven, dass diese Quälgeister immer dann auftauchten, wenn ich es gerade gar nicht gebrauchen konnte.
»Warum entschuldigen? Was kann ich denn dafür, dass sie ständig alles umrammelt und ich dann lachen muss? Soviel Spaß hatten wir unten nicht.« Castiel verschränkte die Ärmchen vor seiner Brust und zog eine Schnute. Er behauptete gern, aus der Hölle zu kommen und nur bei ihr zu sein, damit er seinen „Schein" für einen vollwertigen Dämon machen konnte. Ebenso sollte es bei Nathaniel sein. Er war ein „Engel in Ausbildung", wie er sagte.
Ich hatte schon oft, seit ich die beiden sehen konnte, das Bedürfnis gehabt, meinem Kopf für meine Fantasie ein Lob auszusprechen, aber das hielt ich für nicht angebracht. Ich hatte seit dem Unfall einen Knall. Anders konnte ich das nicht sagen.
Sogar meine Eltern bemerkten schon, dass ich mit mir selbst redete. Natürlich sprach ich in Wahrheit mit meinen Begleitern, aber mir wurde von ihnen glaubhaft versichert und vielfach demonstriert, dass nur ich sie sehen und hören konnte.
Der kleine Nathaniel seufzte und schüttelte sein blondes Köpfchen, während Castiel noch immer kicherte.
Würden sie nicht so nerven, würde ich sie einfach liebhaben. Denn sie waren schon ein bisschen wie meine Freunde. Auf eine krasse, kranke und abgefahrene Art und Weise mochte ich sie.
Murrend rieb ich mir den Zeh und öffnete schließlich meinen Kleiderschrank.
»Dreht euch gefälligst um, wenn ich mich anziehe, klar?«, murmelte ich und warf ein Shirt und eine Jeans auf mein Bett. Nathaniel verpuffte mit einem leisen Geräusch, während Castiel mit seinen roten Haarsträhnen spielte und grinsend sitzenblieb.
»Darf ich bitten, Freundchen?«
»Warum denn? Ich bin ein Dämon und du hast keine Titten. Was sollte ich dir also abgucken?«
Ich knurrte. »Du existierst nur in meinem Kopf, also mach‘ gefälligst, was ich dir sage.«
»Dann hast du Nuss nicht mal dein Hirn unter Kontrolle, aber bitte. Bei dir gibt es eh nichts zu sehen, Schneewittchen ohne Tittchen.« Auch er verschwand in einem dunklen Rauchwölkchen und ich zog mich an.
Vorerst hatte ich Ruhe, aber sie liebten es, mit mir in die Schule zu gehen oder herumzuhüpfen, wenn ich mit meiner Familie beim Essen saß. Castiel neigte dazu, Kaffee zu verspritzen oder Sachen umzuwerfen und Nathaniel war eine Naschkatze, der besonders Frischkäsebrötchen liebte. Er hinterließ Fußabdrücke im Käse, wenn er mit seinem ganzen Körper drin saß und mit vollen Händen aß. Von wegen Engel!
Seufzend band ich meine blauen Haare zusammen, schlüpfte in meine Schuhe und ging die Treppe herunter, meine Mutter hatte bereits zum Frühstück gerufen. Schon am Treppenaufgang konnte ich die Fledermausflügel von Castiel sehen, der sich mit einem Lachen auf das Geländer schwang und herunter rutschte. Nathaniel hüpfte die Stufen hinunter, was ihm Freude zu bereiten schien.
Die beiden waren Kindsköpfe. Es musste aufregend sein, als winzige, püppchengroße Zwerge in einer Umgebung für Riesen zu sein. Besonders das Essen hatte es ihnen angetan, die im Gegensatz zu ihren kleinen Körpern riesigen Portionen mussten ihnen das Gefühl vermitteln, im Schlaraffenland zu sein.
Ich schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Sie waren Halluzinationen, was sollte es mich kümmern, was ihnen Freude machte und was nicht?
Nur ich konnte sie sehen, hören und sie waren erst seit meinem Sturz da. Ich war bekloppt und sie waren der Ausdruck meines Wahnsinns. Mein Unterbewusstsein musste dafür verantwortlich sein, dass ich sie so niedlich habe werden lassen.
»Ophelia, du kommst wie immer auf den letzten Drücker. Du weißt, dass Herbert auch noch deine Schwester zur Schule fahren muss, oder?«
Ich verzog den Mund und nahm Platz. Sicher, meine perfekte kleine Schwester Aurelia, die nie etwas tat, was aus der Reihe tanzte, die anzog, was meine Mutter ihr hinlegte, die keine Probleme in der Schule machte, die grazil und anmutig war und die nie stolperte, sich stieß oder unflätige Worte benutzte, wenn sie sich wehtat. Und die auch keine niedlichen kleinen, aber verrückten und nervtötenden Plagegeister, Verzeihung, Schulterengel hatte, die mit ihren frechen Ideen eigentlich alles nur noch schlimmer machten.
Castiel landete auf meiner Schulter und hielt sich an meinem Ohrläppchen fest, als er seinen Blick über den Tisch schweifen ließ.
»Deine Mutter ist ein Gesundheitsfreak ... habt ihr keine gebackenen Maden?«, fragte er brummig und landete sanft auf meinem Teller. Ich hätte beinahe losgelacht, als er an dem Rucola roch und so tat, als würde er sich in den Salat meiner Schwester erbrechen. Nathaniel flatterte neben mir auf den Tisch und tippte mir auf die Hand.
»Schmierst du mir ein Frischkäsebrötchen?«, fragte er und seine niedlichen goldenen Augen ließen gar keinen Widerspruch zu. Ich zog den Käse an mich heran und öffnete den Deckel. Ich hatte keinen Hunger darauf, aber wenn der Becher geschlossen war, würde er ihn allein nicht aufbekommen. Mal abgesehen davon, dass es sicherlich komisch wäre, wenn das Gefäß sich plötzlich von alleine bewegen würde. Denn auch wenn ich fest davon überzeugt war, dass ich mir meine Engelchen nur einbildete, waren sie doch in der Lage, Gegenstände zu bewegen.
Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Castiel, der beleidigt gewesen war, weil ich ihn als Hirngespinst bezeichnet hatte, hatte in der Schule ein Stück Kreide ergriffen und ein ziemlich anstößiges Bild an die Tafel gemalt, das er mit seinem Namen signiert hatte.
Also würde ich sagen, entweder beherrschte ich seit meinem Fahrradsturz Telekinese oder ich hatte Blackouts. Jedenfalls tat ich seitdem alles, um meine Plagegeister davon abzuhalten, Gegenstände fliegen zu lassen oder etwas anzustellen. Was nicht immer funktionierte, wie ihr euch vorstellen könnt.
Eines Morgens war meine Schwester nämlich aufgestanden und heulend zu meiner Mutter gerannt, weil ihr jemand in der Nacht die Haare verknotet hatte. Ich hatte an Castiels Grinsen und Nathaniels knallrotem Gesicht deutlich ablesen können, was geschehen war.
Dennoch war ich ihnen nicht böse, denn das Engelchen hatte mir erklärt, dass das Teufelchen das nur gemacht hätte, weil Aurelia am Abend zuvor schlecht von mir geredet hatte. Also war diese Rache stellvertretend für mich gewesen. Und das fand ich wiederum süß.
Mit einem Schmunzeln beobachtete ich das blonde Kerlchen, wie es mit schüchternen Fingern immer wieder in den Becher fasste und seinen ganzen Mund bereits mit Frischkäse verschmiert hatte. Castiel saß im Schneidersitz auf dem Marmeladenglas und kaute an etwas Teig, den er aus meinem Brötchen gezupft hatte.
Meine Mutter und meine Schwester bemerkten meine Begleiter natürlich nicht und beschäftigten sich mit allmorgendlichem Geplänkel.
»Oh Mama, können wir heute Nachmittag bitte in den Shop gehen? Ich habe da so ein paar tolle Schuhe gesehen und Leigh meinte, er hätte sie noch in meiner Lieblingsfarbe.«
Ich verdrehte leicht die Augen, als ich mein Brötchen schmierte. Ich hasste es, wenn Aurelia von dem Boutiquebesitzer in unseren Viertel sprach, als würde sie ihn kennen. Aber noch viel mehr nervte es mich, wenn sie das von Lysander tat, seinem jüngeren Bruder. Und das nur, weil sie ihn hin und wieder in dem Laden sah, wo er ein bisschen aushalf. Ich hingegen ging mit Lysander zur Schule, sogar in eine Klasse.
Er war toll, was soll ich um den heißen Brei herumreden. Aber er war er und ich war eben ich - introvertiert, tollpatschig, nicht die Hübscheste, nicht die Schlauste und absolut unkreativ.
Okay, ich konnte Klavier spielen, aber auch nur, weil meine Eltern das unbedingt gewollt hatten und ich spielte Handball, weil das komischerweise das Einzige war, wo ich mich nicht wie ein Trottel aufführte.
Castiels Blick ging zwischen meiner Mutter und meiner Schwester hin und her. »Die sollte sich ein neues Gehirn kaufen und keine Schuhe ...«
Ich musste mir das Lachen verkneifen und prustete, woraufhin meine Mutter mich ansah.
»Was war das denn jetzt?«, fragte sie mit hochgezogener Braue.
»Nichts ... ich habe mich verschluckt ... Ich glaube, wir sollten dann langsam, oder, Lia?«
Meine Schwester machte eine genervte Handbewegung und ich konnte Castiel gerade noch mit einem Griff davon abhalten, ihr ihren Orangensaft über den Schoß zu kippen. Nathaniel blickte beinahe sehnsüchtig in den Frischkäsebecher, seufzte und wischte sich schließlich den Mund an einer Serviettenecke des Brotkorbes ab.
»Komm jetzt, sonst bin nicht ich Schuld, wenn Madam zu spät kommt.«
»Ja ja ... geh mir nicht auf die Nerven. Ich geh noch mal aufs Klo. Du kannst ja solange noch eine Runde mit dir selber reden, du Irre.«
Ich biss mir auf die Lippe und verkniff mir eine Bemerkung. Dass ich scheinbar mit mir selber redete, seit meine Begleiter da waren, war mir schließlich auch nicht entgangen. Und das andere mein Gerede hörten, auch nicht.
Castiel machte eine sehr unschöne Geste mit der Hand und Nathaniel sah ebenfalls nicht sehr nett aus. Ich konnte von meinen Halluzinationen denken und sagen, was ich wollte, aber sie waren mir gegenüber loyal. Das Engelchen machte einen Hüpfer, verpuffte und tauchte auf meiner Schulter wieder auf.
»Deine Schwester hat sehr schlechte Manieren«, nuschelte es und mich streifte der süße Hauch, der Nathaniel immer umgab. Er roch wie ein Marshmallow.
»Wem sagst du das«, murmelte ich unbewusst und meine Mutter sah mich an.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie und verzog den Mund. Seit ich den Unfall hatte, dachte sie ebenfalls, ich hätte einen Knall. Klar, ich hatte ja vorher auch nie mit mir selbst geredet.
Ich erhob mich und winkte ab. »Nichts, ich hab nur laut gedacht. Ich komme gleich, ich hole nur schnell meine Tasche.« Meine Mutter stellte das Geschirr zusammen und nickte nur. Castiels leises „Poff!" hörte nur ich und in der nächsten Sekunde saß auch er auf meiner Schulter und hielt sich mit seiner kleinen Hand an meinem Ohrring fest.
»Wenn ich ein richtiger Dämon bin, schleppe ich deine Schwester in die Hölle und foltere sie. Ist das okay für dich?« Sein Duft war eher würzig, wie warme Holzkohle. Wie ein Höllendämon eben. Ich lachte leise über seinen Kommentar und griff in meinem Zimmer nach meinem Rucksack.
»Hörst du schon wieder Stimmen, Schizo? Oder warum lachst du?«
Ich blickte meine jüngere Schwester, die wie eine Barbiepuppe aussah, an und kicherte. »Ich überlege nur gerade, grüne Tinte in dein Duschgel zu kippen. Wäre bestimmt lustig. Du kleine Zicke.«
Aurelia schnaubte und schob sich an mir vorbei. Castiel schnappte nach einer ihrer Locken und zog mit aller Kraft daran.
»AUA!!! Mama, Ophelia zieht mir an den Haaren!«, kreischte sie. Meine Mutter kam mit einem vorwurfsvollen Blick in den Flur.
»Ophelia, wie alt bist du?«
»Sie ist an meinem Rucksack hängen geblieben! Da kann ich doch nichts für!«
Meine Mutter seufzte und wandte sich ab. »Bewegt euch, sonst kommt ihr zu spät. Ich hab gerade keinen Nerv für euer Theater.«
Zwanzig Minuten später stand ich bei der Amoris High auf den Schulhof und sah mich um. Es wuselte und wimmelte nur so vor Schülern, denn der Unterricht begann erst in fünfzehn Minuten.
»Traust du dich nicht, über den Hof zu gehen, weil du Schiss hast, hinzufallen?« Castiels lachendes Stimmchen drang in mein Ohr und ich wandte leicht den Kopf, um in sein grinsendes Gesicht zu sehen.
»Wenn du mich nicht ablenken würdest, müsste ich mir auch keine Sorgen machen ...«, murmelte ich und versuchte, dabei so wenig wie möglich meine Lippen zu bewegen.
»Jetzt bin also ich verantwortlich, dass du zwei linke Füße hast? Das war doch schon immer so.«
Ich brummte und machte mich auf den Weg in das Schulgebäude. Zumindest versuchte ich es, denn auch ohne dass Castiel an meinem Ohrring zog, hatte ich Schwierigkeiten, über den abschüssigen Schulhof zu gehen und ich stolperte öfter als einmal.
Meine Plagegeister genossen den unruhigen Ritt und ihre lachenden Stimmchen wären erfreulich und angenehm gewesen, wenn es nicht auf meine Kappe gegangen wäre.
»Deine krummen Füße...«, quiekte Castiel begeistert und Nathaniel verkniff sich ein Lachen. Und da hieß es, Dämonen und Engel verstünden sich nicht.
Als ich schließlich die Treppen hinaufsteigen wollte, blieb ich mit der Sohle hängen und wäre beinahe gefallen, doch irgendwer hielt mich fest und verhinderte, dass ich mir die Zähne ausschlug. Ein milder, maskuliner Duft, nicht zu vergleichen mit meinen Engelchen, drang in meine Nase und ich sah zu dem hoch, der meinen Arm festhielt.
Ich blickte in klare Augen. In verschiedenfarbene Augen. Lysander!
Mein Gesicht fing an zu glühen, als ich mich wieder aufrichtete. »Danke ...«, nuschelte ich und richtete meine Jacke. Castiel und Nathaniel lachten und flüsterten mir irgendwelche Sachen ins Ohr, doch ich ignorierte sie. Ich sah nur Lysander vor mir, der milde lächelte und so schön war, dass ich ihn fast angefasst hätte.
»Ich hoffe, du hast dir nichts getan?«
Ich schüttelte den Kopf wie eine Idiotin und packte meinen Rucksack fester, als er mit einem Nicken an mir vorbeiging. Ich lief weiter, während mein Blick an ihm klebte und eh ich mich versah, rammelte ich gegen die Glastür, die ins Schulgebäude führte. Einige andere Schüler lachten und zeigten mit dem Finger auf mich, aber Lysander hatte es Gott sei Dank nicht mitbekommen.
Castiel wieherte wie ein Pferd auf meiner Schulter, während Nathaniel mit seiner kleinen Hand über meine Wange strich, die ich mir an der Scheibe platt gedrückt hatte.
»Das Trottelchen hat sich verknallt. Nein, ich kann nicht mehr ...«, lachte das Teufelchen und fiel beinahe. Seine fledermausähnlichen Flügelchen hielten ihn gerade noch.
»Musst du sie immer in Verlegenheit bringen? Bringt man euch da unten keine Zurückhaltung bei?« Castiel wandte sich zu Nathaniel um, es machte „Poff" und er erschien auf meiner rechten Schulter, direkt neben dem blonden Engel, der verwundert guckte.
»Willst du mich ärgern, du fliegende Ente?«
»Keineswegs. Der Klügere gibt schließlich nach.«
»Soll das heißen, ich bin doof?« Castiels Stimme wurde schriller und meine Ohren begannen, zu klingeln.
»Wenn dir der Schuh passt, zieh ihn dir an«, sagte Nathaniel trocken und der kleine Teufel fauchte, bevor er den Engel am Kragen packte und in die Luft zog. Sie flatterten vor mir herum und rangelten sich. Ich schloss einen Moment genervt die Augen und fragte mich, womit ausgerechnet ich diese beiden Nervensägen verdient hatte.
»Könnt ihr damit aufhören?«, zischte ich und griff unauffällig nach den beiden. Sie waren so klein, dass ich sie in einer Hand festhalten konnte und es gefiel ihnen nicht, dass ich sie eng zusammen presste und an meine Brust drückte. »Ihr bringt mich in Teufels Küche. Alle halten mich für bekloppt, wenn ich immer mit euch rede!«
Eilig huschte ich zu unserem Klassenzimmer und nahm auf meinem Stuhl Platz. Nathaniel und Castiel sahen zerknittert aus, als ich sie losließ und beide richteten angefressen ihre Klamotten.
»Jetzt müssen wir uns also wieder langweilen ...«, murmelte das rothaarige Teufelchen, während das Engelchen eine Bleistiftmine aus der Tasche zog und sich neben meinen Block setzte, um zu malen.
»Guten Morgen, Ophi. Oh, du siehst aber müde aus ...« Meine Freundin und Banknachbarin Viola nahm neben mir Platz und packte ihre Sachen aus. Ich konnte Castiel gerade noch davon abhalten, ihre Federmappe vom Tisch zu schubsen.
»Lass das!«, zischte ich und er setzte sich grinsend wieder auf das Fensterbrett.
»Hast du was gesagt?« Viola sah mich fragend an.
»Nein ... na ja, nur dass ich keinen Bock habe ...«, versuchte ich, mich herauszureden. Meine Freundin musste nicht auch noch den Eindruck bekommen, ich sei bekloppt.
Mein Herz machte einen fast schon schmerzhaften Hüpfer, als Lysander in den Raum kam. Ich spürte, wie die Hitze in meine Wangen stieg, als ich mich daran erinnerte, dass er mich vorhin vor einem Sturz bewahrt hatte.
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Castiel die Augen verdrehte, während Nathaniel erfreut lächelte. Da wurden ihre Rollen ganz deutlich bemerkbar. Der Engel wollte die Liebe fördern, der Teufel sie stören.
Aber welche Liebe denn bitte? Nur weil ICH, die verrückte und Selbstgespräche führende Ophi auf Lysander stand, hieß das noch lange nicht, dass er es auch tat. Warum sollte er?
Er war ALLES! Er war schön, intelligent, ein Dichter, Musiker, er hatte Stil und Geld, er war liebenswürdig, freundlich und bescheiden ... einfach perfekt.
Wer war denn da schon die olle Ophelia mit den blauen Haaren, den punkigen Klamotten und der Macke? Es war nicht so, dass ich ein Außenseiter war, aber ich war eindeutig nicht in der Liga, in der Lysander spielte. Schon seine Freunde zeigten das. Sie waren alle so ätherisch und schön.
Ich wandte meinen Blick ab, bevor er merkte, dass ich ihn anstarrte und sah auf meinen Block. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu seufzen, denn ich wollte weder Viola noch meine Plagegeister aufmerksam machen.
Der Unterricht verstrich so langsam, dass Castiel irgendwann vor Langeweile anfing, laut zu singen. Es war lästig, aber ich konnte ihn auch nicht einfach niederbrüllen. Das hätte nur wieder einmal dazu geführt, dass mich alle für durchgeknallt gehalten hätten. Irgendwann wurde es auch Nathaniel zu viel und es brach eine Rangelei auf dem Fensterbrett aus, dass nur so die Federn flogen.
Gestresst ließ ich meinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen und musste zu meiner Überraschung feststellen, dass Lysander zu mir herübersah. Schlagartig wurde ich rot.
Doch sein Blick wirkte irgendwie ... verwundert. Hatte ich etwa etwas im Gesicht? Unauffällig rieb ich mir über die Nase, denn Castiel konnte man nicht trauen. Nicht dass er mich angemalt hatte!
Irgendwann sah Lysander wieder nach vorne, doch ich hatte das Gefühl, dass seine Konzentration dahin war, denn er strich häufig Sachen auf seinem Blatt durch und fuhr sich durch die Haare.
Ich konnte ihn verstehen. Mein Fokus litt auch, denn meine Plagegeister waren immer noch lautstark mit ihrer „Diskussion" beschäftigt. Es war erstaunlich, wie viele Schimpfworte Castiel für Engel kannte, eines kreativer als das vorige.
Als es klingelte, warf ich meine Sachen mitsamt den Schulterengeln in meine Tasche. Ich überhörte die quiekenden Proteste, denn ich wollte nur noch raus. Wir hatten an diesem Tag nur vier Unterrichtsstunden und die waren Gott sei Dank soeben zuende gegangen. Auf dem Schulhof ploppten meine Begleiter wieder neben mir auf und setzten sich auf meine Schultern.
»Nicht nett, uns so zwischen die Bücher zu klemmen!«, schnarrte Castiel und entknitterte seine Fledermausflügel. Nathaniel sah zerzaust und müde aus.
»Wir machen dir zu viel Ärger, oder?«, murmelte er und richtete seinen hellblauen Pullunder.
»Wenn ihr doch nur nicht immer so ein Theater machen würdet! Reicht es nicht, dass mich eh alle schon für verrückt halten?«
»Aber du bist verrückt! Wehr dich doch nicht dagegen«, kicherte das Teufelchen und Nathaniel sah ihn sauer an.
»Mach es nicht noch schlimmer!«
»Mach du mir keine Vorschriften, du Paragraphenzombie!«
»Genau das meine ich. Haltet doch mal die Klappe!«, sagte ich etwas zu laut und merkte gleich, wie die Köpfe herumgingen und einige Leute zu lachen begannen.
Ich wurde rot und ging schneller, das Gesicht gesenkt. Meine Begleiter schwebten noch immer an der Stelle und sahen mir nach, denn auf meiner Schulter saßen sie nicht mehr. Gott, warum ich? Warum konnte ich nicht völlig normal ticken?
Ich bemerkte nicht, dass mir jemand im Weg stand und so rempelte ich natürlich voll in die Person hinein. Durch den Geruch, der mir in die Nase stieg, wusste ich, wer es war, bevor ich den Kopf hob.
»Verzeihung«, nuschelte ich und hörte Lysander leise lachen, während seine beste Freundin Rosalia leise schnaubte und der Typ neben ihr, es war Leigh, nur die Brauen hob. Gosh, wie konnte man nur so vornehm sein?
»Kein Ding. Hast du dir was getan?«
Schüchterner als ich es üblich war, hob ich den Kopf und mein Blick traf voll in seine heterochromen Augen. Ich schnappte förmlich nach Luft und verneinte. Lysander lächelte, aber ich hatte das Gefühl, dass sein Blick suchend über mich hinweg ging. Ich spürte Panik in mir aufsteigen, als sich mit einem „Poff" ankündigte, dass meine Begleiter wieder da waren. Castiel stand auf meinem Kopf, ich spürte es, und er lehnte sich ziemlich weit vor.
Wenn ich nicht etwas unternahm, würde er Lysander noch ins Auge pieken oder so. Ich wollte also einen Schritt zurück machen, doch mein Gegenüber kam mir zuvor.
»O-okay, wenn alles in Ordnung ist, wünsch ich dir einen schönen Nachmittag.« Mit einem Lächeln wandte Lysander sich wieder seinen Freunden zu und ich war abgemeldet. Wieder verkniff ich mir ein Seufzen und schlich davon.
Er würde niemals-nie-nicht so von mir denken wie ich von ihm ... und daran waren auch meine kleinen Plagegeister Schuld. Wenn sie nicht da wären, würde mich niemand für verrückt halten.
Den ganzen Weg nach Hause schwieg ich und ignorierte meine Begleiter. Ich hatte auch keinen Nerv, auf den Fahrer zu warten, denn ich wollte genauso wenig meinen Kotzbrocken von Schwester sehen, sonst würde ich sie umbringen. Ohne meine Mutter groß zu begrüßen, stiefelte ich nach meiner Ankunft zuhause die Treppe hoch und knallte die Tür hinter mir zu. Sollte die Alte doch meckern!
»Redest du jetzt nicht mehr mit uns? Oh, mein Wunsch hat sich erfüllt.« Castiel setzte sich auf den Nachttisch und kicherte. Nathaniel zischte ihn an, doch das kümmerte mich nicht.
Ich sollte mich einfach damit abfinden, dass ich ein Fall für die Klapse war. Vielleicht würden Pillen helfen, diese Halluzinationen verschwinden zu lassen? Vielleicht könnte ich dann endlich normal sein und Lysander könnte mich mögen.
Ich bekam nicht mit, dass ich schluchzte. Erst als Nathaniel auf der Tischplatte vor mir auftauchte und seine goldenen Augen die meinen trafen, merkte ich, dass ich heulte.
»Warum weinst du denn? Waren wir so gemein zu dir?«
Ich wusste es nicht. »Ich kann das nicht mehr ... ich will nicht verrückt sein ... ich will keine Sachen sehen, die nicht da sind ...«, murmelte ich und Nathaniels Gesicht veränderte sich. Er sah nicht mehr besorgt aus, sondern wie ein Oberlehrer. Castiel tauchte neben ihm auf und schubste ihn beiseite.
»Du bist nicht verrückt, Mann. Ich hab 'nen Scherz gemacht, okay? Du bist so normal wie alle an deiner doofen Schule.«
»Ja, klar ... und deswegen sehe ich kleine Nervensägen, oder was?« Ich stand auf und schmiss mich in mein Bett. Prompt waren auch meine Beiden wieder da und setzten sich neben mir auf das Kissen.
»Die anderen können ihre Begleiter nicht sehen. Du schon«, sagte Nathaniel und strich mir mit seine kleinen Hand über die Haare.
Verwundert sah ich ihn an. »Soll das heißen, jeder hat zwei kleine Plagegeister wie euch?«
Castiel und Nathaniel nickten. »Klar. Einer muss ja aufpassen, dass ihr nicht bei Rot über die Straße rennt oder euch bei euren Entscheidungen helfen. Menschen sind so schrecklich unselbstständig«, brummte das Teufelchen und machte sich auf dem Kissen lang.
»Und warum sehe ich euch dann und die anderen nicht?«
»Als du gestürzt bist ... es tut uns leid, wir haben nur einen Moment nicht aufgepasst ... na ja, jedenfalls ist durch den Unfall etwas in deinem Hirn stimuliert worden. Ein Bereich, der vorher nicht aktiv war ... und deswegen kannst du uns nun sehen.« Nathaniel blickte verschämt auf seine kleinen Hände, die im Schoß lagen.
Ich seufzte. »Ihr wisst schon, dass ein verrücktes Gehirn sich auch gerne Erklärungen für den eigenen Wahnsinn ausdenkt, oder?«
»Aber du bist nicht verrückt, du dusselige Gans! Wir sind so echt wie du. Wie könnten wir sonst Gegenstände bewegen? Meinst du, du beherrscht neuerdings Telekinese, wenn wir nur Hirngespinste sind?«
Ich starrte dem kleinen Rothaarigen in die grauen Augen. »Wenn ihr echt seid ... geht ihr auch aufs Klo? Soviel, wie ihr in euch reinstopft!«
Nathaniel bekam einen roten Kopf und Castiel lachte. »Sicher tun wir das! Das bekommst du nur nicht mit, weil du nicht alles wissen musst, oder?«
Ich wischte mir über die Augen und legte mich auf den Rücken. »Na schön ... ich bin also nicht verrückt. Ändert nichts an der Tatsache, dass alle es denken, denn nur ich kann euch sehen!«
Das Engelchen räusperte sich und sah Castiel einen Moment verschwörerisch an. Zu lange, als dass ich es nicht mitbekommen hätte.
»Was ist?«
»Nichts ...«, log das blonde Kerlchen, ich konnte es deutlich sehen. Engel konnten nicht lügen.
»Was ist, Nathaniel?«
»Dieser ... dieser Junge, den du so magst ... na ja ...«
Lysander? »Was ist mit ihm?«
»Er kann uns sehen ... deswegen war er im Unterricht auch so gestresst und hat vorhin auf dem Pausenhof so komisch geguckt. Wir sind uns ziemlich sicher ...«
Überrascht setzte ich mich auf. »Warum kann ich seine Begleiter nicht sehen? Wenn ich euch sehen kann ... warum nicht die von allen anderen?«
»So weit reicht dein Hirnschmalz nicht, Prinzessin«, lachte Castiel. »Meist können Menschen nur ihre eigenen Begleiter sehen, wenn überhaupt. Deswegen verwundert es uns ja so, dass er uns sieht ...«
»Wahrscheinlich sieht ...«, warf Nathaniel ein, wurde jedoch von dem Teufelchen unterbrochen.
»Vielleicht kommt das davon, weil er selber keine hat.«
Ich glotzte den kleinen Kerl vor mir sicher an wie ein Auto. »Ich denke, jeder hat welche?«
Castiel und Nathaniel sahen erst sich an und dann mich. »Wir sind nicht unzerstörbar ... manchen passiert was...«
»Und was geschieht mit dem Menschen?«
Das Engelchen seufzte. »Er stumpft ab.«
Ich schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein! Lysander war die lebende Kreativität, der wundervolle Texte und Gedichte aus dem Ärmel schütteln konnte, als wäre es nichts.
»Er muss welche haben. Ihr wisst doch, dass er Dichter ist.«
Meine Engelchen nickten und gähnten schließlich. Sie wurden schnell müde, wenn erstmal Ruhe eingekehrt war.
»Klären wir das morgen, okay? Lasst uns ein Nickerchen machen, ich bin fix und fertig.« Castiel strampelte seine Turnschuhe von den Füßen und drehte sich auf dem Kissen um. Nathaniel machte sich neben ihm lang und war ebenso schnell eingeschlafen, während ich die beiden lächelnd betrachtete.
Vielleicht war es doch keine so schlechte Sache, dass die beiden echt sein sollten. Selbst wenn sie es nicht waren, sie waren süß und sie konnten mich auch zum Lachen bringen, wenn es mir schlecht ging.
Der Tag endete nach den Hausaufgaben mit einem Schreikonzert meiner Schwester. Sie spielte Trompete ( oder zumindest versuchte sie es!) und das nervte nach zwanzig Minuten so sehr, dass ich meinen Bleistift beinahe durchgebissen hatte. Castiel verschwand irgendwann wütig und kurze Zeit später hörte ich meine Schwester schreien.
Nathaniel und ich sahen uns geschockt an, als das Teufelchen grinsend wieder auftauchte und wenige Augenblicke später meine Schwester die Tür aufriss.
»ICH HASSE DICH!!«, schrie sie und ich wandte mich um.
»Ich dich auch, aber womit habe ich deine Ehrlichkeit verdient?«
»Mach das weg! Mach das weg!!!«, kreischte Aurelia.
»Was denn?«
»Den ... den Frosch!!! Da ist ein Frosch in meiner Trompete und du weißt das! Du hast ihn doch da rein gesetzt!«
Castiel brüllte neben mir wie ein Irrer vor Lachen und hielt sich den Bauch. Er trudelte bedenklich in der Luft und auch Nathaniel konnte sich ein breites Grinsen und Glucksen nicht verkneifen.
»Glaubst du, ich hätte so was Schreckliches einem armen Tier angetan? Das hätte dein Gekrächze ja aus erster Hand miterleben müssen. Vielleicht solltest du mal wieder aufräumen, wenn du schon Viehzeug in deinem Zimmer hast!«
Mit einem wütigen Schreien stürmte meine Schwester wieder aus dem Zimmer und plärrte wie ein Kleinkind nach meiner Mutter.
»Das war echt fies von dir, Castiel!«
»Mir egal ... Vielleicht ist jetzt eine Weile Ruhe.«
Das hatte ich natürlich nicht. Meine Mutter kam zehn Minuten später in mein Zimmer und verlangte eine Erklärung.
»Ich weiß es nicht, Mutter. Vielleicht haben meine Stimmen mich hypnotisiert und mich diese Tat ausführen lassen. Ich kann mich nicht erinnern.«
»Dir ist nicht zu helfen. Werde erwachsen, Ophelia!«
Ich musste Castiel an seinem Flügel festhalten, damit er ihr nicht hinterher stürmte. Er mochte ein Dämon sein, aber er warf sich immer wieder für mich in die Bresche.
Das Abendessen hinterher verlief wie immer in stiller, gezwungener Atmosphäre, da mein Vater es nicht leiden konnte, wenn bei Tisch geschwatzt wurde. Und so aßen alle schweigend, während meine Begleiter über den Tisch hüpften, sich hier und da bedienten und schließlich grinsend und mit Leckereien beladen neben meinem Teller saßen und sich vollstopften.
Ich packte mir noch ein paar Gurkenscheiben, Brot und etwas Käse auf den Teller, bevor ich aufstand. »Ich gehe auf mein Zimmer, ich muss noch lernen.«
Meine Mutter nickte nur, Aurelia streckte mir die Zunge raus und mein Vater las die Abendzeitung, der bekam nichts mit. Ja, perfekte vornehme Vorstadtfamilie. Genauso hat die auszusehen …
Genervt stapfte ich nach oben und fand dort bereits meine Begleiter, die ihre Beute auf dem Tisch ausgebreitet hatten.
»Wie habt ihr das alles hochbekommen?«, fragte ich erstaunt.
»Wir können fliegen. Und teleportieren«, grinste Castiel nur und biss in eine Cocktailtomate, die fast größer war als sein Kopf.
»Wenn ihr fertig seid, werdet ihr gebadet!«
»WAS?«, quakten beide im selben Moment und jeder hielt das, was er gerade essen wollte, in der Luft.
Ich lachte, weil sie so niedlich aussahen. »Müsst ihr das nicht? Oder macht ihr das auch heimlich, wenn ich das nicht mitbekomme?«
Castiel wischte sich den Mund ab. »Wir sind vielleicht klein und alles, aber wir sind immer noch Männer! Wir ziehen uns doch nicht vor dir aus!«
»Schon gut, dann macht ihr das eben allein. Aber kleckert hier nicht alles voll. Hier, das ist auch für euch, ihr Fressmaschinen.«
Wenige Stunden später lag ich im Bett, frisch geduscht, der Kopf gefüllt mit neuem Wissen und starrte an die Decke meines Himmelbettes. In meinem Badezimmer konnte ich das Wasser plätschern hören. Meine Begleiter duschten sich in meinem Waschbecken. Eine niedliche Vorstellung, zumal sie immer gleich rochen. Wie Holzkohle und Marshmallows. Da konnte man schon Hunger bekommen.
Ich erwachte am nächsten Morgen noch vor meinem Wecker und es bot sich mir das süßeste Bild ever. Meine Engelchen lagen auf dem Kissen, zugedeckt mit einem Taschentuch. Castiel lag auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt und schnarchte leise und Nathaniel hatte sich in Fötusstellung zusammengerollt, mit dem Kopf gegen die Rippen des Teufelchens gepresst.
Ich wollte sie nicht wecken und schob mich leise aus dem Bett, um zur Toilette zu gehen. Ich würde erst in dreißig Minuten aufstehen müssen, also hatte ich noch Zeit, in Ruhe zu chillen. Als ich wieder ins Zimmer kam, saß Castiel aufrecht und seine Haare standen zu Berge.
»Süß siehst du aus«, grinste ich und er knurrte. Mit einem leisen „Poff" verschwand er und tauchte zehn Sekunden später wieder auf, gekleidet wie immer, die Haare ordentlich, offenbar geputzt und gespornt.
»So macht man das. Geht viel schneller als bei euch Menschen.«
Ich lächelte und weckte Nathaniel mit einem leichten Stupsen. »Hey, Engelchen, aufwachen.«
»Noch fünf Minuten, Mutti, bitte ...«, murmelte er und rollte sich noch enger zusammen.
Castiel und ich lachten und der kleine blonde Kerl drehte sich genüsslich brummend auf den Rücken, um sich zu strecken. Schließlich öffnete er die Augen und grinste. Auch er machte sich mit einem „Poff" morgenfertig und ich verschwand zum Zähneputzen im Bad.
Erneut das morgendliche Theater mit meiner Schwester und Mutter zu beschreiben, erspare ich euch. Nur soviel: An diesem Morgen gelang es mir nicht, Castiel von einer Attacke gegen die Kleidung meiner Schwester abzuhalten. Zum Glück ist mein Teufelchen so geschickt, dass die Schuld nicht auf mich zurückfiel. Dieser durchtriebene kleine Hund.
Entsprechend rauchte Aurelia, als wir im Wagen saßen und sagte nicht mal »Tschüß«, als ich ausstieg.
Die Erklärungen des letzten Abends hatten dazu geführt, dass ich einen anderen Blick auf Lysander als am Vortag hatte, als ich an ihm vorbeiging. Ich spürte, dass er mir nachsah und bemerkte, dass Castiel ihm mit einem Grinsen zuwinkte.
»Und wie der uns sehen kann ... hast du gesehen, wie der gezuckt hat, Nath?« Der Blonde nickte und ich versuchte, so verletzungsfrei wie möglich zu unserem Klassenzimmer zu kommen.
»Na, Ophi? Hat die Klapse schon angerufen? Du sollst ja Stimmen hören, hab ich gehört?« Ich rollte mit den Augen und wandte mich zu dem Trottel um, der mich anlaberte.
»Ja. Und Tinitus haben meine Augen auch, denn ich sehe gerade nur Pfeifen.« Ich ließ den Idioten stehen, der jedem auf die Nerven ging und ließ mich auf meinen Stuhl im Klassenzimmer fallen.
»Ophi, hi.« Viola ließ sich neben mich fallen und sah mich an.
»Was ist?«
»Geht's dir gut?« Ihre lavendelfarbenen Augen lagen besorgt auf mir. Ich lächelte. Viola war seit der siebten Klasse meine beste Freundin, aber was sollte ich ihr sagen, was los war?
»Seit ich den Unfall hatte, hab ich das Gefühl, alles ist komisch. Und alle labern mich an, als wäre ich verrückt oder so.«, murmelte ich. Viola lächelte.
»Aber gerade weil du verrückt bist, mögen wir dich doch auch so.«
»Danke, Vio.«
Lysander kam wenige Augenblicke vor dem Lehrer herein und mein Gehirn spulte schon wieder Kopfkino ab, das meine Wangen rot werden ließ. Sein Blick fiel fast augenblicklich erneut auf mich und ich fragte mich, ob meine Begleiter wirklich Recht hatten.
Während wir uns durch den Stoff quälten, machte Castiel Liegestütze und Nathaniel malte auf einem Papierfetzen herum.
»Ich gehe in der Pause in die Bücherei. Ich wollte noch was nacharbeiten, was mir fehlt, okay?«
Ich verabschiedete mich von Viola und stapfte in die Schulbibliothek. Beim Öffnen der Tür verrenkte ich mir den Arm, aber das war halb so wild. Das Stolpern über die letzte Stufe der kleinen Treppe war schon peinlicher.
»Setz dich da hin ... schau, dahinten ist der Typ ... wäre doch gelacht, wenn wir das nicht rausbekämen. Pass auf, dass er dich nicht sieht!« Castiel navigierte mich zu einem Tisch in einer Nische, von wo ich Lysander sehen und hören konnte.
Ich nahm mir ein Buch, denn ich musste tatsächlich lernen und ließ meine Begleiter machen.
Castiel und Nathaniel verschwanden mit einem „Poff" und tauchten an Lysanders Tisch wieder auf. Ich beobachtete es genau und tatsächlich: Als sich mein Teufelchen vor ihn stellte und »Hallo« sagte, zuckte Lysander sichtbar zusammen und er sah dem kleinen Dämon direkt ins Gesicht.
»Was ... was willst du?«, hauchte der Junge und mein Herz drohte zu zerspringen. Lysander konnte meine Plagegeister sehen. Ich war nicht verrückt! Oder wir waren es beide, aber dann kümmerte es mich nicht mehr.
»Warum kannst du Begleiter sehen, die nicht zu dir gehören und wo sind deine eigenen?«
Lysander sah sich um und fuhr sich über die Augen. »Ich sehe alle hier ...«
Castiel drehte sich zu mir um und winkte ausladend. »Hey, Ophi, komm halt mal rüber!«
Ich wäre gern im Boden versunken, wie ihr euch vorstellen könnt! Dieser kleine Teufel kannte keine Zurückhaltung. Lysander wandte den Kopf und ich konnte sehen, wie verlegen er war. In seinem wunderschönen Gesicht hatte sich eine feine Röte ausgebreitet und er räusperte sich. Ich stand auf und setzte mich zu ihm.
»Hallo ...«, murmelte ich. Ich musste glühen wie ein Feuerball. »Also ... äh, du siehst die beiden?«
Lysander nickte. »Ich dachte am Anfang, ich hätte es mir einbildet, aber dann waren sie plötzlich immer da und ...«
»Kannst du ... nur die beiden sehen?«
Castiel und Nathaniel hatten es sich auf Lysanders Notizbuch bequem gemacht und ich sah ihn an, zwang mich dazu, nicht immer schüchtern den Blick abzuwenden.
»Ich sehe alle ... jeder, der hier mit welchen herumläuft ... nicht alle sind sichtbar, oder? Aber nur deine ... sind so aktiv. Und machen Krach.«
Mein Teufelchen lachte, mein Engelchen wurde rot und ich seufzte. »Tut mir leid.«
Lysander lächelte. »Meine waren auch so ...«
»Waren?«
Er nickte. »Sie ... sind nicht mehr da ... nicht so wie deine ...«
Nathaniel machte ein aufmerkendes Geräusch und stand auf. Mit mildem Flügelschlag erhob er sich auf Gesichtshöhe mit Lysander und sah ihn geradeheraus an.
»Deine Augen... das sind sie, oder?«
Der Junge sah den kleinen Engel überrascht an und ich verstand gar nichts mehr.
»Was meinst du, Nathaniel?«
»Manchmal ... verbinden sich Begleiter mit ihren Menschen. Man hat immer die Wahl, weißt du? Castiel und ich bleiben in dieser Form, weil wir weitergehen wollen, vollwertige Beschützer für dich werden wollen, aber manche ... haben so eine enge Bindung zu ihren Menschen, dass sie eins werden wollen mit ihnen ... Dann werden sie zu einem Teil von ihnen. Deswegen hat Lysander scheinbar keine Schutzengel mehr ... Sie sind in ihm.«
Ich blickte überrascht von meinem Engelchen zu Lysander und verstand noch immer nichts.
»Als ich geboren wurde, waren meine Augen grün ... beide. Doch dann waren sie da und irgendwann ... reichte es nicht mehr und sie wurden zu mir ... an diesem Tag wurde eines meiner Augen golden.«
»Sie haben sich ganz in ihm verloren. Das ist der ultimative Liebesbeweis. Etwas, das eigentlich nur Künstler erleben. Du musst ein großes Talent sein«, schmunzelte Nathaniel gutmütig und setzte sich auf meine Schulter.
Ich lächelte und zum ersten Mal fiel es mir nicht schwer, in Lysanders Gesicht zu sehen. Er erwiderte das Lächeln und es tat so gut.
»Komm mal, Nath. Vielleicht sollten wir die Beiden mal eine Weile allein lassen. Verrückte unter sich, sozusagen.« Castiel erschien neben meinem Engelchen, griff nach seinem Arm und mit einem „Poff" waren sie verschwunden.
»Anstrengend, die beiden, hm?«
Ich nickte. »Das kannst du laut sagen ...«
Lysander blickte einen Moment auf seine Finger und räusperte sich dann wieder. »Also ... wenn ... wenn sie uns schon eine Weile allein lassen ... hast du vielleicht Lust auf einen Cappuchino?«
Erneut nickend stand ich auf und folgte ihm in die Cafeteria. Offenbar musste ich meinen Schulterengel-Plagegeistern dankbar sein. Denn anstatt in der Psychiatrie saß ich nun mit meinem Schwarm am Tisch, wir tranken heißen Cappuchino und ich freute mich auf das, was noch kommen würde.
~~~ ENDE ~~~