Die gleißende Sommersonne versank hinter den Bergen, die das kleine Gatwick einrahmten, und der junge Mann erwachte aus seinem Schlummer. Der dicke schwarze Kater hatte sich in sein Schlafzimmer geschlichen und schlief schnurrend am Fußende des alten Himmelbettes.
»Nikodemus, du alter Schuft, was machst du hier...?«, brummte der Mann und erhob sich. Ihm war schwindelig, denn die drückende Hitze verdrängte beinahe allen Sauerstoff aus dem Raum.
Tief durchatmend trat er aus dem Haus und sog die kühle Abendluft in seine Lungen. Herrlich, wie kühl es unter dem dichten Blätterdach war, während sein Haus einer Sauna gleichkam. Eine Brise fuhr ihm durch das schweißfeuchte Haar und er öffnete verwundert die Augen.
Diesen Duft kannte er. Er kannte ihn nur zu gut. Doch was hatte Garretts Geruch so frisch und intensiv hier an seiner Hütte zu suchen? Er war doch nicht etwa...
Stirnrunzelnd folgte er dem Geruch des Jungen. Er musste vor einigen Stunden hier gewesen sein, sein Duft reichte beinahe bis an die Haustür.
Dieser kleine Schwachkopf! Er hatte geschworen, dem Wald fernzubleiben.
Der junge Mann seufzte.
Er hätte es wissen müssen, dass er den Plagegeist nicht einfach so loswerden würde. Wahrscheinlich war er am Abend zuvor schon so erschöpft, dass er sich an das kurze Gespräch gar nicht mehr erinnern konnte.
Aber doch genug, um sich bis hierher durchzuschlagen.
Kopfschüttelnd nahm er auf einer selbstgezimmerten Bank platz und blickte in den dunkler werdenden Wald.
Was war mit dem Jungen los? Was war es, dass ihn immer wieder in den Wald trieb, weit weg von seinen Altersgenossen. Es konnten doch nicht alle so hinter ihm her sein wie diese Idioten in der Nacht zuvor.
»So weit ist es schon mit mir gekommen...?«, murmelte er und erhob sich wieder. Was kümmerte es ihn, was in dem Kopf dieses Jungen vorging? Er wusste noch nicht einmal, warum er gestern Abend überhaupt eingeschritten war, als er ihn am Boden hatte liegen sehen. Es konnte nicht nur damit zusammenhängen, dass er ähnliche Erfahrungen gemacht hatte – unzählige Jahre in der Vergangenheit.
Er rieb sich mit den Händen über den Nacken und schob einen leisen Gedanken beiseite, der sich hartnäckig immer wieder in den Vordergrund drängte.
Er war schon sehr lange allein. Er war einsam und sein Körper reagierte auf ganz natürliche Weise darauf.
Wütend biss er sich auf die Zunge, um den Gedanken zu vertreiben und stand auf.
»So ein Unsinn!«, schimpfte er mit sich selbst, betrat seine Küche und nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank, deren Inhalt er noch kalt hinunterstürzte.
Was sollte er an diesem spindeldürren Bengel schon als anziehend empfinden, abgesehen von seinem köstlichen Geruch?! Das war lächerlich! Er war noch ein Kind!
Der junge Mann seufzte und wischte sich den Mund sauber.
Und trotzdem hatte er, wann immer er Garrett im Wald bemerkte, automatisch ein Auge auf ihn. Schon viele Jahre lang, was diesem gar nicht bewusst war. Es war sonderbar, dass es 4 Jahre gedauert hatte, bis der junge Mann dessen Namen erfuhr.
Denn vor 4 Jahren tauchte Garrett das erste Mal im Wald auf, tiefer als Spaziergänger diesen für üblich betraten, bewaffnet mit einer Kamera, einem Rucksack und einem Riesenbündel Trauer auf seinen Schultern.
Der junge Mann hatte seinen Geruch in der Abendbrise wahrgenommen und war diesem, geplagt von Hunger, gefolgt. Was er sah, hatte er bis zum heutigen Tag nicht vergessen.
Der Junge hatte auf einer ebenen Stelle ein kleines Zelt aufgeschlagen, seine Kamera auf dem Schoß und heulte elendig.
Tränen waren schon immer etwas, was den jungen Mann abhielt. Der salzige Geruch verdarb alles andere und so blieb er stattdessen lauernd auf dem Baum hocken und beobachtete.
Garrett zog ein Foto aus dem Rucksack, welches offenbar seine Familie zeigte. Ihn, eine Frau mittleren Alters mit brünetten Haaren und einen blonden Mann, der sein Vater sein musste. Er sah darauf, wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht, zerriss das Bild und ließ es über einem Feuerzeug in Flammen aufgehen.
Diese Geste hatte sich ebenso eingebrannt wie das verweinte Gesicht mit den gebrochenen braunen Augen.
Der junge Mann bekam Herzrasen, rannte davon und versuchte zwanghaft, die düsteren Erinnerungen zu vertreiben.
Familie. Zerbrochene Familien, zerstörte Träume. Der Anblick des Kindes, von allen verlassen und tieftraurig, erinnerte ihn an sich selbst.
Mit lautem Scheppern landete die leere Flasche in der Spüle und der junge Mann rieb sich über die Augen.
Seit diesem Tag vor vier Jahren hatte er Garretts Geruch zwar immer wieder wahrgenommen und auf ihn geachtet, doch er war ihm niemals wieder so nahe gekommen, dass er sein Gesicht sehen konnte. Bis dann vor wenigen Tagen, als es seine Neugier, aufgeputscht von der Jagd, nicht mehr aushielt. Es war wie ein Zwang, der ihn zu dem Jungen zog und er verstand nicht, warum.
Es ging nicht um sein Blut, es ging nicht um den Drang, jemanden zu verletzen, um sich selbst wieder lebendig zu fühlen, es ging nicht um die pure Befriedigung der Bestie in sich.
Als er sah, wie Garrett von den Jungen zu Boden getreten wurde, sah er rot. Er hätte die Angreifer am liebsten in der Luft zerrissen und sich in deren Blut und deren zerfetzten Eingeweiden gesuhlt...
Er knurrte in die zunehmende Dunkelheit des Raumes, den seine Augen noch immer detailliert erkennen konnten.
Er wusste nicht, was es war, nur das es schlecht war. Diese Macht, die der Junge auf ihn ausübte. Es konnte ein Problem werden.
Garrett könnte zu seinem Problem werden. Er konnte es sich nicht leisten, eine Bindung zu diesem Jungen aufzubauen.
Es ging einfach nicht.
Seine Zeit hier war vorüber. Er hatte bereits vor Jahrzehnten den Anspruch auf dieses Gebiet abgegeben. Gatwick war nicht mehr seine Stadt, nicht mehr sein Jagdgrund. Ihm gehörte der Wald mit seinem Wildbestand. Die Menschen lagen außerhalb und würden bald ihrem persönlichen Armageddon in die Augen blicken.
Schwer atmend lehnte er sich über den Tisch und keuchte.
Gott, was hatte er getan?!
* * *
»Mum, ich mag keine Suppe mehr essen. Ich bin rappelvoll«, stöhnte Garrett und schob den Teller von sich weg, als seine Mutter die Kelle erneut hob.
»Dr. Morris sagte, Schwitzen ist gut, dadurch wirst du die Erreger los«, schulmeisterte diese, doch Garrett schüttelte energisch den Kopf.
»Wenn ich noch mehr esse, kannst du mich wegen Überfressung ins Krankenhaus bringen.«
Garrett war es nicht gewöhnt, dass seine Mutter einen solchen Aufriss um ihn machte und es ging ihm gehörig auf die Nerven. Er stand auf und streckte sich.
»Kann ich einen Spaziergang machen?«
»In den Wald? Nein!«
»Mum! Ich muss mich bewegen, sonst kann ich nachher nicht schlafen. Und der Doc sagt doch, frische Luft ist gut...«
Seine Mutter verzog die noch immer perfekt bemalten Lippen.
»Du bleibst hier am Rand und wehe, du bist in spätestens zwei Stunden nicht wieder da!«
Garrett nickte, schlüpfte in feste Schuhe und griff in seinem Zimmer wie immer nach der Kameratasche.
»Bis nachher«, rief er und schloss die Tür mit einem Grinsen. Seine Mum würde in spätestens einer halben Stunde auf dem Sofa liegen und schlafen. Die würde gar nicht mitbekommen, wann er wieder da war.
Obwohl er sich vorgenommen hatte, den einsamen Mann im Wald in Ruhe zu lassen und seine Bitte zu befolgen, merkte er schon nach kurzer Zeit, das seine Beine ihn ganz von allein in die Richtung trugen, in der die Hütte lag.
Er könnte doch wenigstens mal „Hallo“ sagen, oder? Daran war ja schließlich nichts auszusetzen.
Die albernen Theorien von heute morgen hatte er bereits verworfen.
Ein Vampir, also wirklich? Hier in Gatwick? Wo der Hund begraben lag und Fuchs und Hase sich „Gute Nacht“ sagten, anstatt sich gegenseitig zu jagen und zu fressen? Bitch, please!
Der Weg dauerte dieses Mal nicht so lange wie am Morgen, als er sich noch an diversen Punkten orientieren musste. Komischerweise lief er nun ganz routiniert, als folgte er einem roten Faden, der ihn direkt zu der Hütte hinzog. Auch die Dunkelheit machte ihm kaum etwas aus. Der Vollmond stand hell am Himmel und erleuchtete den Weg.
Als er an dem Baumstamm ankam, an dem er am Morgen auf die Katze gestoßen war, schlug sein Herz hart gegen seinen Brustkorb.
Der Mann würde ihn sicher zusammenfalten, weil er sich gegen die Abmachung gehalten hatte, den Wald nicht mehr zu betreten. Trotzdem musste er unwillkürlich lächeln, als er das kleine Haus sah.
Es war dunkel, nirgends brannte ein Licht. Gab es überhaupt Strom darin? Garrett machte einen weiteren Schritt auf die Lichtung, als etwas gegen ihn prallte, von den Füßen riss und hart gegen den nächsten Baum presste.
»Was machst du hier?«, grollte die Stimme des Mannes von gestern in sein Ohr und sämtliche Vergleiche mit dem Vampir aus dem Buch flammten wieder in Garretts Kopf auf, als er zittrig ausatmete und keuchte.
»Du solltest weg bleiben, Junge. Ich sollte dich töten, du Schwachkopf! Warum bist du hier, warum bringst du dich in Gefahr? Du weißt, dass ich es kann. Dich töten. Du hast es selbst gesagt... wer ich bin...« Der Mann lockerte seinen Griff um den Hals des Jungen leicht und ließ ihn wieder auf die Füße sinken, während er ihn anstarrte.
»Dionysos«, hauchte Garrett und erschauerte unter dem Blick des Mannes, der über ihm stand und ihn mit dunklen Augen durchbohrte. Hitze und Kälte wechselten sich in dem Jungen ab und ein leiser Hauch von Angst griff nach ihm, als dieser die Hand ausstreckte und seine Wange berührte. Die Finger waren kühl.
»Ich habe dich gewarnt, dass dies geschehen würde, wenn du dem Wald nicht fernbleibst.«
Hypnotisiert starrte der Junge in die rötlichen Augen und nickte. Er wusste, was ihm blühte. Dionysos war ein Monster. Und doch gab es eine unsichtbare Macht, die Garrett wie magisch hinzog zu dem Mann.
»Ich... es tut mir leid...«, stammelte er schließlich und wandte den Kopf ab. Sein Herz raste schon beinahe schmerzhaft und er zwang sich, ruhig zu atmen.
Was war denn nur auf einmal los mit ihm? Warum spielte sein Körper so verrückt? Kam das nur von der Angst, die für einen Moment sein ganzes Denken beherrscht hatte?
»Davon habe ich nichts. Ich habe dich höflich gebeten, wegzubleiben, doch du machst es nicht. Soll ich dich zwingen? Soll ich dir drohen, dir dein kleines Babyface mit den Fingernägeln vom Knochen zu schälen, um dich dann zu zwingen, es zu essen?« Der Mann, Dionysos, nahm seine Finger von Garretts Hals und wandte sich ab. Er atmete hörbar und schien ziemlich sauer zu sein.
Aber er, Garrett, lebte noch. War das nicht schon mal ein Anfang? Immerhin hatte er es tatsächlich mit einem Vampir zu tun... oder?
»Ähm...«, setzte er an, zuckte jedoch unter dem Blick aus glutroten Augen zusammen, die sogar in der Dunkelheit noch leuchteten.
»Ok, die Frage hat sich erledigt.« Garrett nestelte am Gurt seiner Tasche herum. Sein Kopf war leer.
Sag was, du Trottel. Sag was...
»Nett hast du es hier...« Garrett biss sich auf die Lippen. Sehr intelligent.
Doch es zauberte sowas wie ein Lächeln auf das Gesicht des anderen. Scheinbar war er stolz auf sein Heim.
»Ich möchte, dass du gehst, Garrett.«
Enttäuschung breitete sich in dem Jungen aus, aber er nickte und wollte sich schon abwenden, als die kühlen Finger des Mannes sein Handgelenk noch einmal umfassten.
»Ja?«
»Ich hab mich nicht klar ausgedrückt. Ich möchte, dass du Gatwick verlässt.«
»Wa... wie bitte? Wie... warum?«
Die Augen des Mannes waren noch immer rot, wie ein Blutmond, selten und schön.
»Weil... das ist kein Leben hier für dich, wo du von allen herumgescheucht und verprügelt wirst. Geh zu deinem Vater. Wolltest du das nicht immer?«
Garrett machte große Augen und starrte den Mann an.
»Woher weißt du das? Und... es geht dich doch gar nichts an, wie es mir hier geht...«
»Garrett, bitte...« Die Worte waren flehend gesprochen und der Junge bekam Gänsehaut. Erschrocken darüber riss er sein Handgelenk aus dem Griff und starrte den Mann an.
»Gib mir einen Grund! Ich habe Dinge über dich gelesen. Menschen interessieren dich nicht. Du hast Tausende von ihnen mit diesen Händen in Stücke gerissen und machst dir nun Gedanken um mich? Also warum willst du wirklich, dass ich verschwinde?«
»Warum bist du so ein sturer Kerl? Geh einfach.«
»NEIN!« Aus einem unerklärlichen Grund fühlte sich Garrett von dem Mann zurückgestoßen, als hätte er diesem seine Freundschaft angeboten und war abgewiesen worden. Tränen der Wut sammelten sich in seinen Augen, als er sein Gegenüber im silbernen Mondlicht anfunkelte.
Dieser knurrte laut und bedrohlich und eh Garrett sich versah, war er wieder an den Baum gepresst, dessen rauhe Borke sich hart in seinen Rücken bohrte.
Einziger Unterschied zu vorher war, dass ihm das nicht wirklich auffiel, da etwas anderes ihn zu sehr ablenkte.
Die warmen Lippen des Mannes, die seine verschlossen und ihn mit einem unbeschreiblichen und würzigen Duft berauschten. Unbewusst seufzte der Junge und schloss die Augen.
»Bitte, geh. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt«, flüsterte der junge Mann so dicht an Garretts Lippen, dass jedes Wort diese erneut streichelten.
»Ich... ok«, presste der Junge hervor und öffnete langsam die Augen, doch er war bereits allein. Ein lautes Türenschlagen und das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels zeigten ihm an, wo der Mann hin war.
Perplex, mit heißen Wangen und zittrigen Knien machte er sich auf den Weg nach Hause, nicht wirklich mitbekommend, was um ihn herum geschah. Wie er vermutet hatte, lag seine Mutter schlafend auf dem Sofa und er trabte in sein Zimmer.
Den Rest der Nacht fand er keinen Schlaf, sondern stand völlig überfordert einem neuen Status Quo gegenüber.
Ein Mann hatte ihn geküsst. Ein Mann! Und er bekam schon Herzklopfen, wenn er nur daran dachte.
In dieses Hochgefühl mischte sich allerdings auch die Sorge über das, was er gesagt hatte. Er wolle nicht, dass ihm etwas zustieß? Was sollte das heißen? Gab es noch mehr von seiner „Art“ hier in der Nähe?
Er wollte nicht aus Gatwick weg. Jetzt erst Recht nicht.
Sicherlich wollte er immer lieber bei seinem Vater als bei seiner Mutter leben, aber er liebte Gatwick.
Seufzend hängte er sich aus dem Fenster in die kühle Nachtluft, nicht wissend, dass es einige Kilometer weiter in der Hütte ungefähr genauso ablief.