Der mechanische Wecker auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett klingelte, während alle andere Bewohner des kleinen Ortes noch tief und fest schliefen. Bernhard jedoch hatte keine Wahl, er musste aufstehen. Mit geübten Handgriffen stellte er das nervige Stück Metall ab und setzte sich im Bett auf. Es brauchte einige Zeit bis er überhaupt so weit war aufzustehen. Mit seinen mittlerweile 67 Jahren war jede Bewegung eine Qual. Die Gelenke waren geschwollen und von seinem Magen schossen ihm fast dauerhaft Schmerzen durch den ganzen Körper. Vorsichtig griff er nach dem Krug und goss sich ein Schluck Wasser ein, danach trug er die Salbe auf, die der Bader ihm gegeben hatte. Beides gab ihm die Kraft langsam aufzustehen. Stöhnend begab er sich zu seiner Kleidung. Es half nichts, das Dorf erwartete Brot und Gebäck egal wie schlecht es ihm ging.
Bernhard war weit über die Grenzen des Dorfes bekannt. Sein Brot war erschwinglich und so gut wie nie verunreinigt oder gar verdorben. Die Gebäcke wurden sogar von höher gestellten Damen und Herren gekauft. Er konnte sich wirklich nicht beschweren. Zu seinen Angestellten gehörten ein Lehrling und eine Verkäuferin, Letztere war bereits so lange bei ihm, dass er vergessen hatte wie lange schon. Mehr konnte er sich nicht leisten, aber mehr brauchte er auch nicht. Geheiratet hatte er nie, warum war ihm selbst nicht klar, aber eine Frau hatte er eigentlich nie gewollt. Auch Kinder hatten nie zu seinen Lebenszielen gezählt. Nun im Alter bereute er diesen Entschluss manchmal, aber nur manchmal.
Wenige Stunden später schob er mit jahrelang geübten Handgriffen den Brotschieber mit den letzten Backwaren in den großen Ofen, bevor er sich mit einem Tuch den Schweiß abtupfte. Es war heiß in der Stube, aber der Geruch nach frischem Brot entschädigte für vieles. Zufrieden mit sich nahm er seine Pfeife und den Tabak und ging in den Hof. Die Sonne war gerade aufgegangen und die Luft war noch angenehm kühl. Sorgfältig stopfte er die Pfeife, bevor etwas in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Dreck glitzerte etwas Silbernes. Er hatte etwas Mühe sich zu bücken, doch die Schmerzen im Rücken waren es wert, denn er konnte kaum glauben, was er in der Hand hielt: Eine Silbermünze so rein wie er sie noch nie gesehen hatte. Schnell wischte er sie an der mehlbestäubten Schürze ab und besah sich die Prägung. Auf der einen Seite war es ein Stern, auf der anderen waren es Worte in einer Sprache, die er nicht verstand. Er konnte überhaupt nur die notwendigsten Dinge schreiben und lesen. Die Schrift begann zu verschwimmen, dann wurde alles dunkel um ihn herum.
Als er erwachte, saß er in einem schummerigen Raum, der scheinbar ganz in Rot gestaltet war. Er fühlte sich leicht, er hatte keine Schmerzen mehr, lediglich ein leichter Nebel schien ihn daran zu hindern genaues zu sehen. Dann kam eine Gestalt auf ihn zu. Ein Mann, ein junger Mann mit dunklen Locken. Er verbeugte sich tiefer vor Bernhard, als es nötig gewesen wäre und deutete auf das Tischchen neben dem Sessel, in dem er saß. Die Münze lag darauf.
»Willkommen im Vorraum des Todes und erschreck nicht, denn es klingt endgültiger, als es ist. Es ist ein Raum der Entscheidungen, des Glücks, des Neubeginns.«
Syke lächelte erstaunlich freundlich und ließ sich neben ihm auf den Boden sinken. Er nahm eine Hand des alten Mannes und strich beruhigend darüber. Der Bäcker wollte antworten, doch konnte es nicht. Er musste träumen! Eine andere Erklärung gab es nicht.
»Du bist verwirrt, das verstehe ich. Aber die Münze hat dich gefunden und sie ist wählerisch.«
Weiter streichelte er die Hand des Mannes, fuhr über die Schwielen und Narben von Verbrennungen, welche sich über die Jahre gebildet hatten. Im Raum hing der Duft eines schweren Parfums, der es Bernard nicht gerade einfacher machte sich zu konzentrieren.
»Du bekommst eine besondere Chance liebster Bernhard«, säuselte Syke leise. »Wenn du zu uns kommst, kannst du um deine Zukunft spielen. Ein Glücksspiel deiner Wahl mit einem von drei Gewinnen, vertrau mir, wenn ich dir sage, dass auch der Tod für einige einen Gewinn darstellt.«
Die Lichter des großen Leuchters flammten auf und am anderen Ende des Raumes wurden drei Türen sichtbar. Auf den ersten Blick sahen sie gleich aus, doch wenn man genauer hinsah, konnte man die Schnitzereien im dunkelbraunen Holz erkennen. Die mittlere Tür zeigte tanzende Frauen, eine davon deutlich schwanger. Die rechte Tür zeigte scheinbar einen kranken Menschen in einem Bett, der von einem Arzt behandelt wurde. Die linke Tür allerdings war fast blank und ohne jede Schnörkel, nur der Stern, der ihm schon auf der Münze aufgefallen war, war darin eingelassen. Bernhard ließ den Blick von einer Tür zur anderen wandern, dann sprach Syke erneut zu ihm.
»Wenn du Erlösung möchtest, dann komm ins Crossroads du wirst den Weg finden, das verspreche ich dir. Dann kommst du zu mir und wir spielen. Ein Glücksspiel deiner Wahl. Falls du gewinnst, erhältst du die Wahl zwischen einer Wiedergeburt oder der Heilung deiner Krankheit. Verlierst du, erwartet dich der Tod und damit ebenfalls das Ende deiner Schmerzen. Du wirst nicht mehr leiden egal, wie das Spiel endet. Wir erwarten dich.«
Geweckt wurde er von seinem Lehrling nur wenige Minuten später. Bernhard war verwirrt und scheuchte ihn in die Backstube zum Arbeiten. Er selbst wollte es als Traum abtun, vielleicht war er ohnmächtig geworden. Doch als er die Hand öffnete, spürte er die Münze in seiner Hand. Er begriff, es war real und jemand hatte wohl seinen geheimsten Wunsch erhört. Keine Schmerzen mehr, keine Einsamkeit. Es wurde Zeit, dass er Dinge regelte. Warum noch länger warten?
Viel Zeit hatte dafür nicht aufwenden müssen. Noch am gleichen Tag hatte er einen Notar aufgesucht und seine Backstube seiner Verkäuferin überschrieben, auch seinen Lehrling hatte er bedacht für den Fall, dass er verlor und nicht geheilt nach Hause kam. Ein paar Dinge hatte er trotzdem gepackt und war nun auf dem Weg seinem Schicksal entgegen.
Die Münzen führte ihn auf eine nicht zu beschreibende Weise, denn er fühlte einfach ganz instinktiv, wohin er gehen musste. Ohne Reittier dauerte die Reise fast eine Woche. Manchmal dachte er auch daran umzukehren, doch selbst wenn er das alles nur geträumt hatte, würde er der Sache nachgehen. Umso näher er dem Ziel kam, umso öfter traf er Menschen, die ihm von dem Etablissement erzählen konnten. Abgesehen von den guten Speisen und den wirklich wunderschönen Huren und Lustknaben rankten sich auch viele Mythen und Geschichten um das Gebäude. Türen, die nirgendwohin führten, Menschen die nicht zurückkehrten und Bewohner, die scheinbar ewig jung blieben. Jede dieser Erzählungen bestärkte den alten Bäcker darin, dass er nicht geträumt hatte. Der hübsche junge Mann und die Türen existierten.
Bernard traf an einem verregneten Abend vor dem Crossroads ein. Der Anblick war beeindruckend und er brauchte einen Moment sich davon zu erholen. Die Schmerzen in seinem Körper waren durch die lange Reise beinahe unerträglich geworden, sodass die wenigen Stufen zur Eingangstür ihm wie ein Berg erschienen.
»Du bist so weit gekommen Bernard, gib jetzt nicht auf«, murmelte er zu sich selbst, nahm allen Mut zusammen, erklomm die Stufen und wurde schon an der Tür erwartet.
Von Angesicht zu Angesicht sah der Mann, der ihn willkommen hieß und ihm ein feuchtes Handtuch reichte, sogar noch mysteriöser aus als in seinem Traum, nein in seiner Vision.
«Ihr müsst völlig erschöpft sein«, bemerkte Syke besorgt und bot dem alten Mann seinen Arm an. Wollt ihr euch zuerst erholen, etwas Essen oder Trinken? Für euch geht alles aufs Haus heute Abend.«
Bernhard war versucht das Angebot anzunehmen, doch war er sich sicher, dass er den Mut verlieren würde falls er es zu lange hinauszögerte. Die Augen aus einem riesigen Frauengemälde trafen ihn in der Eingangshalle so unvorbereitet, dass ihm die Luft wegblieb. Auch ihr Blick riet ihm, keine Zeit zu verlieren.
»Nein, ich möchte es hinter mich bringen, wenn ihr erlaubt.«
Er versuchte sich so gewählt wie möglich auszudrücken. In einem so eleganten Haus schien es ihm angemessen. Der braungelockte junge Mann zuckte mit den Schultern und deutete auf die Tür direkt unter dem Bild.
»Dann tretet ein und nehmt am Tisch in der Mitte Platz.«
Geräuschlos öffnete sich die massive Tür vor den beiden Männern. Der Raum war diesmal hell ausgeleuchtet und bot einen beeindruckenden Blick auf die drei Türen. Eine rothaarige Frau in einem sehr aufwendigen weiten Kleid stellte gerade ein Glas und eine Karaffe Wein bereit, bevor sie einladend auf den Stuhl deutete, der besten Blick auf die schicksalhaften Türen bot.
»Dies ist Larxene. Sie wird das Spiel begleiten und für Annehmlichkeiten sorgen. Ich hörte, ihr mögt den Wein des Steinhäuser Weinbergs sehr. Wir haben ihn für euch vorbereitet. Habt ihr euch für ein Spiel entschieden? Ach und ich heiße Syke, der Geschäftsführer. Wie dumm von mir, dass ich mich damals gar nicht vorgestellt habe.«
Syke lächelte freundlich und nahm dem sichtlich überforderten Bäcker, erst den Mantel und dann alle Habseligkeiten ab. Zum Schluss schob er ihm noch den Stuhl zurecht. Bernhard hatte darüber nachgedacht und sich für Black Jack entschieden. Es gab kaum ein Spiel, in dem er wirklich gut war, doch wenn er schon spielte, dann wollte er es damit versuchen. Einen Augenblick später saß Syke ihm gegenüber und legte bereits die bekannten Karten bereit. Verblüfft sah er den jungen Mann an.
»Erschreckt nicht, wir machen das hier schon sehr lange und ein bisschen Magie hat noch niemandem geschadet.«
Bernhards Blick glitt zu der stillen Frau namens Larxene, bevor er einen Schluck aus dem Glas nahm. Der Wein war perfekt temperiert und floss samtig seine Kehle herunter. Es war Jahre her, dass er sich so etwas hatte gönnen können.
»Wie sind die Bedingungen?«
Syke lächelte auf diese Frage und faltete geschäftsmäßig die Hände.
»Wir spielen drei Runden, meistens. Wir können auch auf fünf erhöhen oder sieben. Je nachdem wie lange ihr das Ergebnis herauszögern wollt. Um selbst zu entscheiden, müsst ihr nur mehr Partien gewinnen als ich. Danach hab ihr die Wahl zwischen der sofortigen Heilung oder einer Wiedergeburt. Zweites klingt oft nicht erstrebenswert, aber ihr könnt noch einmal von vorne beginnen. Diesmal vielleicht eine Familie gründen. Ihr behaltet eure Erinnerungen, euch wird ein zweites gesundes Leben geschenkt.«
Bernhard dachte darüber nach und sah zu der mittleren Tür. Die schwangere tanzende Frau machte ihm klar, wohin diese Tür führen würde.
»Gewinnen wir, werdet ihr einen völlig schmerzlosen Tod erleben. Keine Hölle, kein Himmel oder an was ihr sonst so glaubt. Einfach Erlösung.«
Auch diese Worte nahm Bernhard schweigend auf. Er wusste, dass sein Magengeschwür ihn über kurz oder lang töten würde. Sicherlich schmerzhafter als alles was ihn hier erwartete.
»Aber wie kann ich sicher sein, dass es wirklich so geschieht, wie ihr es mir sagt?«
Larxene lachte leise. »Ihr seid ein cleverer Mann, aber eine Gewährleistung gibt es nicht. Ihr müsst uns vertrauen. Noch könnt ihr gehen, aber wenn ihr die erste Karte gespielt habt, ist diese Möglichkeit verstrichen.«
Bernhard ging nicht. Er hatte nichts zu verlieren.
»Bitte fünf Spiele.«
Die rothaarige Dame hatte den Platz des Croupier eingenommen und teilte jeweils zwei Karten aus. Eine ihrer Karten war aufgedeckt, ein Bube. Kein schlechter Start für sie. Bernhard selbst hatte bisher nur einen Kartenwert von zwölf. Nicht schlecht, aber auch durchaus noch riskant.
»Karte,« ließ er die Dame wissen und erhielt sofort eine aus dem hölzernen Kartenschlitten.
Missmutig sah er auf die dazugekommene zwei und orderte sofort eine weitere. Auch Syke hatte sich für eine Karte entschieden, die Geberin blieb dabei. Erleichtert nickte er in die Runde und offenbarte seine Punktzahl. Besser als zwanzig war kaum zu bekommen. Der dunkelhaarige Mann lächelte und zeigte seine achtzehn Punkte, während die Dame neunzehn hatte. Dieser Punkt ging an ihn.
Die folgenden Runden liefen schweigend ab und Bernhard trank sein ganzes Glas aus, auch wenn er das Gefühl hatte, dass es sich wieder füllte. Es stand vor dem letzten Spiel zwei zu zwei und seine Nerven waren kurz davor zu zerreißen. Wie war er darauf gekommen, sein Leben einzusetzen. Noch einmal dachte er an das, was er verlieren konnte und ihm kamen Zweifel.
»Macht euren Zug werter Bäcker,« bat Larxene höflich. Die Spannung war greifbar, dann erhielt er seine Karte und warf sie fast augenblicklich laut lachend auf den Tisch. »Black Jack, ich habe gewonnen!«
Danach ging alles sehr schnell und der Moment der Entscheidung war gekommen. Bernard stand vor den drei Türen und konnte seine Entscheidung treffen. Ob er auch den endgültigen Tod wählen konnte, hatte er gar nicht gefragt, aber er hatte gewonnen, also hatte er auch die Kontrolle über sein Leben wieder nicht wahr? Nachdenklich horchte er in seinen Körper hinein. Er war 67 Jahre alt. Wollte er die letzten Jahre die ihm blieben gesund und munter genießen oder wollte er einen Neuanfang.
»Wie haben sich andere hier entschieden?« fragte er seine beiden Gastgeber.
»Das ist sehr unterschiedlich und jeder muss seinen eigenen Weg finden«, antwortet Larxene.
Bernhard nickte, bevor er fragend den Kopf neigte. »Was habt ihr eigentlich davon?«
Daraufhin erhielt er Schweigen, mit einer Antwort hatte er eigentlich auch nicht gerechnet.
»Wenn ihr euch entschieden habt, nehmt eure Münze und drückt sie in die Vertiefung an der Tür. Wir wünschen euch eine gute Reise.«
Noch einmal sah er die beiden an, dann ging er auf die Tür mit der schwangeren Tänzerin zu, benutzte die Münze. Die massive Tür schwang nach innen auf und zeigte nichts als ein grünes Licht. Kein sichtbarer Pfad. Bernhard, der Bäcker schloss die Augen und trat hindurch, dann schloss sich die Tür.
»Ich habe gesagt, dass er sich so entscheidet meine Liebe.« Syke lächelte süffisant und nahm einige Münzen entgegen, die Larxene aus ihrer Damenhandtasche zauberte. Mit wiegenden Schritten ging er zur Eingangstür und ließ sie allein. Die magische Münze war in die Schatulle zurückgekehrt und draußen wartete bereits ein gehetzter Diener auf den Geschäftsführer. »Chef bei einer Dame haben plötzlich die Wehen eingesetzt...wir sollten eine Hebamme organisieren!«