Sture hatte die völlig außer Rand und Band geratene Læva kurzerhand in den Schuppen gesperrt und vielleicht hätte sich die verwirrte Sklavin einfach beruhigt und ihre Arbeit später williger wiederaufgenommen, nachdem sie ein wenig zu sich gekommen wäre. Doch so leicht machten es die Götter den Bewohnern Midgards nicht. Auch wenn Læva sich schließlich beruhigte und über sich selbst und ihren unbändigen Zorn erschrocken war - die Folgen ihrer Tat ließen sich nicht rückgängig machen.
Sædís lag mit zerschlagenem Oberkörper auf dem Boden und nachdem Sture seine Gefangene gut verwahrt wusste, hob er das bewusstlose Mädchen seufzend vom Boden auf. Dass es aber auch immer jene treffen musste, die es am wenigsten verdient hatten! Und die kleine Schüchterne, die er jetzt ins Innere von Ragnars Haus trug, hatte es wirklich nicht verdient, für all die Schmach, die ihr der Jarl angetan hatte, nun auch noch zusammengeschlagen zu werden.
Ja, der Hofaufseher war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass zwischen den beiden Sklavinnen ein großer Unterschied bestand. Læva war in der Lage, sich ihre Vorteile auszurechnen und selbst die Begierde des Jarls für sich zunutze zu machen.
Sædís hingegen war von ihrer Mutter von klein auf dazu erzogen worden zu dienen. Auch diese war eine Sklavin gewesen und hatte nur weitergegeben, was sie aus ihrem Leben gelernt hatte. Das aber war ihrer Tochter eingebläut worden: dem Herrn in allem zu dienen, was dieser forderte. Und so hatte sie sich den Wünschen des Jarl gebeugt, auch als dieser ihren Körper und wahrscheinlich - so vermutete es zumindest Sture - ihre Jungfräulichkeit eingefordert hatte. Wenn Sædís dafür mehr Anerkennung gefordert hätte, es wäre ihm lieber gewesen. Doch die Kleine schämte sich viel zu sehr für das, was der Jarl mit ihr gemacht hatte. Und sie schien froh zu sein, dass sie in Lathgerthas Nähe dessen Nachstellungen erst einmal entging.
Sture trug die Verletzte zu einer der Bänke im vorderen Teil des Hauses, dorthin, wo die nächsten Bediensteten des Jarl auch sonst schliefen. Eine Magd kam dazugeeilt und er trug ihr auf, nach Lathgertha zu suchen, die sich den Schaden ansehen musste. Dann schaffte er ein wenig Wasser herbei und begann, Sædís´ Kopfwunde vorsichtig auszuwaschen.
Das inzwischen geronnene Blut hatte ihr langes braunes Haar verkrustet und Sture brauchte eine Weile, bis er den schmalen Riss genauer sehen konnte, der eine gute Handbreit über den Hinterkopf der Sklavin reichte. Zum Glück ließ sich auf dem Wundgrund nicht das gefährliche weiße Schimmern erkennen, das verriet, wenn der Knochen blank lag. Auch auf den leichten Druck seiner Finger hin gab der Schädel nicht nach. Sædís aber regte sich unter dem ihr zugefügten Schmerz ein wenig. Und so sehr es ihn störte, ihr durch seine Behandlung weh getan zu haben, so froh war Sture auch, dass ihre Ohnmacht nicht allzu tief war.
Dann, als Lathgertha mit einer Handvoll Leinenstreifen zu ihm trat, überließ er der erfahreneren Frau willig das Feld. Sædís wurde gründlich auf weitere Verletzungen untersucht und ihre Wunden verbunden. Dann hieß die Schildmaid eine ältere Sklavin bei ihr zu wachen und bat Sture an den großen Tisch. Ausführlich ließ sie sich von dem Vorfall im Hof berichten, dabei aufmerksam auf alles achtend, was der Aufseher ihres Mannes gehört und beobachtet hatte.
Seufzend rieb sich die Schildmaid über die Stirn. "Ich werde Ragnar davon berichten müssen", legte sie fest. "Es sind seine Sklavinnen und somit sein Besitz, der Schaden zugefügt und Schaden genommen hat." Sie zuckte mit den Schultern. "So, wie es aussieht, wird Sædís wohl mit dem Schrecken davonkommen. Die Wunde am Kopf wird sich schließen und zum Glück hat Læva ihr keine Knochen gebrochen. Sie haben also beide Glück gehabt."
Nachdenklich betrachtete sie Sture, der ebenso grüblerisch aussah, wie sie selbst. "Es ist nicht gut, wenn die Sklavinnen untereinander um die Gunst ihres Herren buhlen", gab sie dann zu. "Ich kann es Ragnar zwar nicht verbieten, sich hin und wieder eine von den Weibern auf sein Lager zu holen, auch wenn ich es wirklich gern täte. Doch ich werde noch einmal mit ihm reden und ihn bitten, etwas zurückhaltender zu sein."
Als der Jarl dann am Nachmittag zurückkehrte, hatte sich der Aufruhr in seinem Haus längst gelegt. Seine Gefährtin ließ ihn in wenigen Worten wissen, was sich zugetragen hatte und auch, dass Sædís inzwischen wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war. Das Mädchen hatte sich mehrfach übergeben und klagte über starke Kopfschmerzen. Doch das war nach einem solchen Schlag auf den Kopf nichts Ungewöhnliches und Gertha hatte ihr Ruhe und einen ordentlichen Weidensud verordnet. Damit sollte sich der schlimmste Schmerz beheben lassen.
Ragnar, den am Abend das Treffen seiner Ältesten erwartete, legte fest, dass er sich am kommenden Tag mit dem Problem auseinandersetzen wolle. Bis dahin sei Læva im Schuppen gut verwahrt. Eine Decke und etwas zu essen könne man ihr aber zugestehen.
Also hatte es Lathgertha auf sich genommen und sich auch um die Eingesperrte gekümmert. Kleinlaut hatte die Sklavin ihr gedankt und ein paar Worte der Entschuldigung gestammelt. Unwillig war die Schildmaid schnell wieder gegangen. Noch nagte der Groll zu sehr an ihr, als dass sie der Jüngeren gegenüber hätte gerecht sein können.
Dennoch wollte sie sich auch nicht zu unüberlegten Taten hinreißen lassen. Viel zu unwägbar war das Schicksal, als dass sie es herausfordern wollte. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf zog sie später am Abend auch jenes kleine Beutelchen aus ihrem Mieder, das so schnell ein Leben nehmen konnte, und vergrub es zuunterst in ihrer Truhe. Nein! Es war nicht die Zeit, um in das Handeln der Götter eingreifen zu wollen. Zu deutlich war deren Zorn schon greifbar.
Nachdenklich machte sie es sich auf ihrem Lager bequem und wartete auf ihren Gefährten, der mit seinen Beratern sprach und sicher später auch feierte. Ihre Mägde und ein Großteil der Sklavinnen war in der Schildhalle dabei, es den Männern so angenehm wie möglich zu machen. Lathgertha aber genoss die Stille des Hauses. Nur selten war es so ruhig, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte. Das Knarren der alten Balken und das Knistern des Feuers hatten etwas zutiefst Beruhigendes.
Doch das Schweigen im Haus hielt nicht so lange an, wie es sich die Schildmaid gewünscht hätte. Schon war das Feuer niedergebrannt und Lathgertha überlegte, ob sie noch einmal neue Scheite auflegen solle, als sie ein leises Wimmern von Sædís´ Lager aufmerksam werden ließ. Das leise Schluchzen riss nicht ab und so erhob sich die Schildmaid um nachzusehen.
Nur mit Mühe konnte sie den Schrecken verbergen, als sie zum Lager der jungen Sklavin trat. Sædís hatte die Decken von ihrem Körper geschoben und krümmte sich unter Schmerzen. Viel erschreckender aber als der angstvolle Blick der jungen Frau war ein dunkler Fleck auf dem hellen Leinen ihres Unterkleides, der sich über ihrem Schoß schnell vergrößerte. Gertha keuchte auf. Bei Frigg! Warum hatte sie heute nicht nach Jorunn geschickt? So sehr sie sich auch um das Mädchen gesorgt hatte, an etwas anderes als Platzwunden und Knochenbrüche hatte sie nicht gedacht. Und nun das!
Vorsichtig schob sie das Hemdchen der Sklavin ein wenig höher. Das verklumpte, metallisch stinkende Blut zwischen deren Beinen verriet alles. Das, was sie hier sah, hätte auch Læva getroffen, wenn sie ihr denn von dem Pulver der Völva etwas gegeben hätte. Sædís verlor ein Kind. Und so, wie der Tag verlaufen war, wusste Gertha auch, wessen Samen da in Blut und Schleim davonfloss.
Doch es blieb ihr keine Zeit für Erleichterung. Die Angst um das junge, schüchterne Mädchen war viel größer als die Gewissheit, dass von deren Seite keine Konkurrenz mehr für sie drohte. Lathgertha verlor keine Zeit. Vorsichtig deckte sie Sædís wieder zu und raunte der schluchzenden Frau ein paar tröstende Worte zu. Dann lief sie hinaus, um ihre Stute aus dem Stall zu holen. Ohne zu satteln, sprang sie auf den bloßen Pferderücken und galoppierte durch das dunkel Dorf. Sie musste Jorunn holen!