Dunkel war der Wald. Dunkel und still. Unheimlich still. Kein einziger Lichtstrahl drang durch das dichte Blätterwerk.
Die Bewohner des nahen Dorfes wussten als einzige Bescheid über den Grund, der zerstörten Schilder, auf denen in allen bekannten Sprachen Warnungen standen, die besagten, dass dieser Wald unter keinen Umständen zu betreten war.
Sie kannten den Grund. Sie kannten die Wahrheit, doch wurden fremde Reisende nur gewarnt und nicht daran gehindert hineinzugehen.
Das Unterholz knackte schaurig.
Blut tropfte von den Lefzen eines riesigen Wesens. Der letzte Wanderer lag, von scharfen Klauen zerfleischt, am Boden.
Er hatte die Rufe der Dorfkinder nicht gehört. Nun war sein Schicksal besiegelt worden und seine Familie wird ihn nie wieder sehen. Sie werden nicht einmal die Chance haben ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Ein trauriges Lächeln auf den Lippen und ein abenteuerliches Funkeln in den glänzend silbernen Augen trug das Mädchen, das in späten Abendstunden ins Dorf kam.
Ihr Haar war dunkel und der Wind spielte liebevoll mit den einzelnen Strähnen.
Einige Kinder des Dorfes waren noch draußen und spielten. Sie hielten die bösen Geschichten des Waldes und der Vorhersage in ihren Herzen. Als sie das Mädchen erblickten, erstarrten sie schaudernd. Sie überlegten, ob sie zu ihr laufen sollten. Sie warnen sollten, nicht in den Wald zu gehen, doch sie waren wie gelähmt und in ihnen wuchs der Wunsch auf Befreiung.
Ehrfürchtig staunend wurde die Fremde betrachtet, wie sie ruhigen Schrittes die kleine staubige Straße passierte. Auch die Erwachsenen und die Alten traten auf die Straße, um die Fremde mit den spitzen Ohren zu sehen.
Diese war es gewohnt angestarrt zu werden und so beachtete sie die Blicke nicht, die sie auf sich zog. Sie blieb nicht stehen, sondern ging einfach weiter.
Ihre Füße führten sie von ganz allein aus dem Dorf, das ihr schweigend bis zum Wald folgte und dort wie angewurzelt stehen blieb, doch sie ging zielsicher weiter und schon bald hatte die Finsternis des Waldes sie gänzlich verschluckt.
Den Dorfbewohnern stockte der Atem.
Würde sich die Prophezeiung nun erfüllen und sie wieder frei sein?
Doch was würde mit der jungen Frau geschehen? Würde sie sterben oder würde ihr etwas Schlimmeres als der Tod beschert werden?
Diese und mehr Fragen schlichen sich durch die Köpfe der Bewohner, doch niemand kannte die Antwort.
Hinter ihr krachte es im Holz. Sie wandte den Kopf hektisch herum. Die langen Haare peitschten dabei in ihr blasses Gesicht. Ihr Herz schlug in einem schnellen Takt hart gegen ihre Brust. Ihre feuchten Finger spielten nervös miteinander und sie schloss tief durchatmend die Augen. Ihr Mund war längst trocken und sie blies schnell keuchend Luft aus. Dieser Wald war seltsam. Vielleicht waren die Dorfbewohner deswegen stehen geblieben, dachte sie sich.
Es knackste wieder und ein tiefes Schnauben war zu hören.
Ein Schauer jagte über ihren Rücken, da sie sich einbildete den feuchten, warmen Atem eines großen Tieres im Nacken spüren zu können.
Und da war wirklich etwas.
Ein beißender Geruch nach Moder und Verwesung breitete sich ganz in der Nähe aus.
Sie würgte heftig. Es brannte ihr in den Augen und ließ sie schwindlig werden. Taumelnd stützte sie sich gegen einen Baum, doch hier war der Gestank noch stärker.
Ein Blick zur Seite reichte nun aus, um ihr den letzten Hieb zu versetzen.
Direkt neben ihr, vielleicht noch zwei Schritte weiter, lagen die Überreste eines Menschen.
Aus seinen verfaulten Augen krochen fette, weiße Maden. Die eine Seite war aufgerissen und im bläulichen Fleisch tummelte sich bereits die hungrige Brut von Aasfliegen.
Unter dem Kadaver war der Boden von dunklem Blut getränkt.
Abermals ein Würgen, so unbeändig und stark, dass sie nicht anders konnte und den gesamten Inhalt ihres Magens dem Gebüsch übergab.
Grollend und geifernd teilte die mit verschmutztem Fell bedeckte Kreatur die Zweige und Äste, die in seinem Weg lagen, mühelos und fegte die Reste beiseite.
Sabber tropfte, von Blut durchschäumt, auf den braunen Boden.
Sie bemerkte es noch nicht. Erschöpft und mit einer nie enden wollenden Übelkeit geschlagen, klammerte sie sich an dem Baumstamm und ihr Blick war wie gebannt auf den Toten gerichtet, als gäbe es nichts Anderes zu sehen.
Ihre Augen waren vor Angst geweitet. Sie verkrampfte sich. Panik überkam sie, spätestens als sie den fauligen Atem der Bestie nun spürte und roch, doch war sie unfähig wegzulaufen.
Ihr Kopf drehte sich und sie warf ängstlich einen Blick über die Schulter.
Ein Paar stechend roter Augen mit einem sichtbaren Blutdurst bohrte sich in die ihren.
Die Lefzen zogen sich bedrohlich hoch und entblößten Reihen spitzer, langer Zähne, die nur mehr darauf warteten in frisches Fleisch beißen zu können.
Ihr Mund klappte auf und ein gellender Schrei schlüpfte aus ihrer Kehle und über über ihre Lippen ins Freie.
Die Dorfbewohner hörten in der Ferne den Schrei.
Reue überkam sie. Hätten sie das Mädchen doch nur gewarnt.
Sie nahmen ihre Kappen und Hüte ab. Tränen flossen aus ihren Augen. Auch aus denen der Kinder.
Kerzen wurden aufgestellt und eine Puppe aus Stroh wurde feierlich zu Ehren der, die für sie ihr Leben gab, verbrannt.
Sie waren frei. Frei nach so langer Zeit, denn in der Sekunde, in der der schier endlose Schrei verklungen war, war der Wald wieder lichter geworden und das Leben, das ihn einst verlassen hatte, kam allmählich zurück und mit ihm Tiere und Frieden.
Finsternis lag vor ihren Augen und Kälte umgab sie fröstelnd wie frisch gefallener Schnee. Sie roch den metallischsüßen Duft von frischem Blut, das ihre Haare verklebte. Es tropfte aus Wunden, die so tief wie lang in junges Fleisch geschnitten waren.
Es war ihr Fleisch.
Ihr Blut.
Sie fühlte sich schlecht. Beängstigend wich die vertraute Wärme des Lebens langsam von ihr. Verlies sie. Sie konnte nur mehr die eisige Hand spüren, die sie bereits zu sich in die Schatten und durch das Tor des Todes geleiten wollte.
Mit blutunterlaufenen Augen blickte sie um sich. Von der Bestie, der sie ihre Wunden verdankte, fehlte jede Spur und ihr jede Erinnerung an das, was geschehen war. Lediglich der Klang einer vertrauten Stimme, war in ihrem Herzen und ihre Glieder schmerzten nicht nur aufgrund der Verletzungen.
Auch von der Leiche, die eben noch hier lag, war nichts mehr zu sehen.
Stattdessen bohrten bunte Frühlingsblumen ihre Köpfe an jener Stelle durch die Erde und der Wald war in ein helles und schönes Licht getaucht. Das Licht der untergehenden Sonne.
Vögel zwitscherten in den Ästen der Bäume und Tiere streunten umher, als wären sie schon immer hier gewesen, doch hielten sie sich fern von ihr.
Als hätte es hier nie eine Dunkelheit und ein Monster gegeben. Ein Monster, dessen Proportionen nicht völlig übereinstimmten, denn es war gewaltig, aber auch wendig gewesen. Zu sicher war es gewesen. Zu lautlos und voller Geheimnisse. Wie ein riesiges Getier mit langen Eckzähnen, das sogar den aufrechten Gang beherrschte.
Sie spuckte Blut auf den Boden. Ihr Leib zitterte und sie konnte kaum noch aufstehen, so geschwächt fühlte sie sich und so viel Blut verlor sie, mit dem die Erde getränkt wurde.
Tastend, stolpernd und fallend kroch sie durch den Wald, in der Hoffnung, den Weg hinaus zu finden und auf Menschen zu stoßen.
Sie brauchte Hilfe.
Sie wollte Hilfe.
Zum ersten Mal brauchte sie wirklich jemanden, doch niemand war hier.
Stöhnend ging sie gekrümmt ihres Weges und hinterließ eine beträchtliche dunkelrote Spur.
Jeder Schritt kostete Kraft. Jeder Atemzug klang rasselnd und schien wie ihr letzter zu sein, doch war er es nie.
Sie ging weiter. Immer weiter und tiefer in den Wald, während über ihr die Nacht hereinbrach.
Wege kamen und verloren sich in dieser Wildnis. Der volle Mond schien schon bald fahl vom sternenklaren Nachthimmel herab und sandte sein silbriges Licht zur Welt.
Sie bemerkte, dass es ihr nicht schwer fiel sich im Dunkeln zu orientieren. Ein seltsames Gefühl beschlich sie durch all ihre Schmerzen.
Ein Gefühl von Stärke und Freiheit, doch auch verbunden mit dem Drang zu Jagen, zu Töten. Sie hatte das Bedürfnis Fleisch aus Körpern reißen zu wollen. Blut auf den Lippen zu schmecken. Fremdes Blut. Nicht ihr eigenes wie jetzt.
Kopfschüttelnd versuchte sie diese Gedanken zu verdrängen. Das war doch nicht sie, die so dachte und so sprach.
Tief in Gedanken versunken merkte sie nicht, wie Nebel sich heranschlich und sich um die Bäume schmiegte, als wollte er diesen ein grauschimmerndes Kleid anziehen, das die Sicht behinderte.
Nun, da sie nicht einmal mehr ihre eigenen Hände vor Augen sehen konnte, stolperte sie häufiger. Es war schwierig sich weiter fortzubewegen. Allmählich verklebte ihr Blut ihre Augen immer mehr und sie begann warme, rote Tränen zu weinen.
So allein, verlassen und hilflos hatte sie sich lange nicht gefühlt und sie hasste es. Sie hasste es sich schwach zu fühlen.
Lange irrte sie herum. Viel zu lange, so schien es ihr, doch schließlich erreichte sie eine Lichtung, an der der Nebel nicht so dicht lag, sondern den Blick freigab auf den Himmel und den Platz, auf dem sie stand.
Hier knickte sie wieder ein. Das Blut rann noch immer ungestillt aus ihren Augen, ihrem Mund und allen Wunden, die sie hatte. Sie spürte jene kaum mehr. Es war nur noch ein dumpfes, kaltes Pochen in ihrem Leib.
„Sterbe ich jetzt?“, klang diese leise Frage schwach über ihre Lippen. Sie spuckte erneut Blut, erbrach sich und ließ sich auf die Seite fallen.
Das kühle Gras tat gut. Aber es schnürte auch ihr Herz zusammen. Die Vorstellung hier zu sterben war nicht die Beste und diese Vorstellung war zu real, um sie verdrängen zu können.
Ein Knacken im Gebüsch schreckte sie auf und mit einem ungeahnten Satz, war sie auf den Beinen, doch war ihr soschlecht, dass ihre Beine sogleich wieder einknickten und sie niedefiel. Ihr Blickfeld war stark eingeschränkt. Sie konnte kaum etwas erkennen, außer einige wenige Umrisse und Röte.
Ein hochgewachsener Mann schälte sich aus dem Nebel und trat auf die Lichtung. Sie konnte ihn nicht gut erkennen, sah nur, dass sich jemand näherte und es gewiss kein Tier war.
Was sie nicht sah, war die Kleidung des Fremden, die in schwarzen Tönen gehalten war. Auch nicht den eleganten Hut, der auf seinen längeren schwarzen Haaren thronte. So blieben ihr auch seine dunklen Augen und die langen, spitzen Eckzähne verborgen, die er bei einem Lächeln entblößte, als er die Verwundete am Boden sah.
Es war kein bösartiges Lächeln, aber auch kein amüsiertes. Es war fast undefinierbar, zwischen Höhnisch und Höflichkeit liegend.
Sie konnte hören, wie er sich ihr näherte und vor ihr in die Hocke ging und auch der Blick, wie er sie musterte, entging ihr nicht.
„Oh Himmel. Werde ich nun auch noch misshandelt, bevor mich das Leben endgültig verlässt?“, dachte sie bei sich und versuchte sich mühselig zu regen.
Eine warme, große Hand wurde auf ihre aufgeschlitzte Seite gelegt und streichelte ihr sanft, gar tröstend darüber.
„Du wirst sterben.“, flüsterte der Mann mit rauer Stimme, „Willst du sterben oder soll ich dich retten?“
Sie atmete tief, rasselnd und schwer ein. Ihre Gesichtsmuskeln verzogen sich nicht. Dafür fehlte ihr jegliche Kraft. „Rette mich“, hauchte sie leise und blutiger Speichel tropfte aus ihrem Mundwinkel zu Boden.
Im nächsten Moment spürte sie, wie sie sanft gepackt und hochgezogen wurde.
Der Mann strich behutsam ihr dunkles, blutverklebtes Haar beiseite, streichelte verspielt über ihren schlanken Hals und bettete dann seine Zähne in ihr Fleisch.
Ein Stechen durchfuhr ihn und eine Stimme hallte drohend in seinem Kopf wieder. Eine Stimme, die er noch nie zuvor gehört hatte und die von ihr ausgehen zu schien: „Wag es nicht! Du darfst sie retten, aber wag es nicht, sie vollends zu entstellen!“
Beinahe hätte er daraufhin von ihr abgelassen, doch war sein Durst stark und sie roch so süß und verlockend für ihn.
Die Zeit verging langsam, während er an ihrem Hals seinen Durst stillte und ihr dabei das Leben rettete und ihm wurde klar, was sie war. Er fragte sich, ob sie selbst es wusste.
Sie fühlte wie das Blut versiegte und all ihre Wunden sich zu schließen begannen. Ein Gefühl machte sich in ihr breit, das sie stöhnen ließ. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen, doch so plötzlich wie dieses Gefühl gekommen war, so war es wieder verschwunden.
Die Schmerzen wichen von ihr. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. Sie merkte, dass sie wieder leichter atmen konnte und ihr Blick schärfer wurde.
Der Vampir ließ schließlich von ihr ab, als die letzte Wunde sich verschloss und bettete ihren Kopf aufs Gras. Ihre silbernen Augen blickten zu ihm auf.
„Nun wirst du für immer so schön und jung bleiben.“, raunte er ihr zu und hielt ihr seine Hand hin, „Hier. Trink.“
Sie sah ihn verwundert an und wusste nicht so recht, wie sie das tun sollte.
Er lachte leise, riss eine Wunde in seine Hand und hob ihren Kopf mit den Lippen zu dieser, so dass sein Blut in ihren Mund strömte und sie trinken konnte.
„Ich hatte vergessen, dass deine Zähne erst wachsen, meine Schöne. Ich konnte dich retten, aber du wirst nie vollständig sein wie ich, aber auch nie wieder das, was du warst. In dir schlummert etwas Großes.“
Sie hörte schlagartig auf zu Trinken und blickte zu ihm hoch. Die Wunde an seiner Hand schloss sich.
„Etwas Großes?“, fragte sie unsicher, ob sie sich denn verhört hatte.
„Ja. Etwas Großes, sehr Mächtiges.“, erwiderte er und blieb ihr weitere Erklärungen schuldig, „Wie heißt du?“
Sie schloss kurz die Augen, überlegte und antworte dann: „Mein Name ist Lys Feu.“