Unruhig stand der Bote da und versuchte in den Minen der Gesichter derer zu lesen, welche die Handschrift Dolvis in Händen hielten.
Bevor das Dokument umhergereicht wurde, gab er in eigenen Worten wieder, was selbiger Mann ihm auftrug. Danach brach er das Siegel und reichte das Schreiben weiter. Niemand sprach oder urteilte vorschnell. Zuvor musste sie die Möglichkeit nutzen, zu lesen und zu interpretieren, was der letzte Nachkomme des damaligen Großjarls mitzuteilen hatte. Ein jeder wog für sich, dessen Sippe und im Nachhinein alle Eventualitäten ab, die sich ihnen als Gemeinsamkeit aus den Worten ergeben mochten. Dolvi gab unmissverständliche Anweisungen und teilte eben das auf, was er für gerechtfertigt erachtete.
Sein Blick erhaschte gleichgültige Züge, krause von Furchen durchzogene Stirnpartien und vor Unglauben weit geöffnete Augen. Er war es, der den Brief als Erster umherreichte und wart nun der Letzte, der ihn zu lesen in den Händen hielt. Er kannte zwar das ihm aufgetragene aber nicht den Inhalt dieser Nachricht.
»Stimmen diese Worte mit den deinen überein?«, verlangte derselbe Alte zu erfahren, der ihn kürzlich vor einer schmerzhaften Schelle bewahrte.
Was sollte die Frage? Jeder hatte gehört, was er zu berichten wusste und anschließend Gleiches gelesen. Er kannte weder die gängigen Geflogenheiten noch die Abläufe solcher Ratstreffen und so nickte er bloß.
Auch sein Gegenüber, der Sprecher, nickte und bedachte ihn mit einem Lächeln. »Du weißt von dessen ...« Sein Blick und Handzeichen deutete auf die Botschaft. »... Tragweite und Konsequenzen? Was diese Worte für uns, für unser Volk bedeuten?«
»Altvordern, das ist Wahnsinn«, gab einer der Jarls zu bedenken.
Ein Zweiter nickte zustimmend und trat vor. »Das sind doch nur Kindergeschichten. Es gibt keine Passage nordöstlich Agreas. Niemand der auch nur halbwegs bei Sinnen ist, führt dort eine Barke hindurch geschweige denn ein Schiff.«
»Wir haben weder Schiffe noch Lastenbarken«, gab ein weiterer zum Anlass das Wort zu ergreifen. »Vergesst nicht, aus welchem Grunde Dolvi uns verlassen hat. Wenn auch nur ein geringer Teil dessen stimmt, was er uns hier mitteilt ...«
»Wenn. Ich kann diese vielen wenn nicht mehr hören«, warf nun ein anderer ein und unterbrach seinen Vorredner, der ihn mahnend besah und die Augen zu Schlitzen verengte. »Gibst du dich mit den Einteilungen die Dolvi vorgibt nicht einverstanden oder misssprichst du dem mit Blut besiegelten Eid, den unsere Stammväter bestimmten?«
In ruhigem, fast schon gelangweilten Ton, wie als spräche er mit lausigen Bengels, hob der Ratsälteste die Arme. »Haltet ein. Bevor wir uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, hört was wir darüber zu sagen wissen. Dinge, die auch ihr bei Zeiten erfahren würdet, wenn ihr anstatt unser hier debattiert.«
»Es gib diese besagte Passage«, begann der wohlmöglich älteste Mann, der auf den Inseln sein Leben harrte. Welch Kämpfe und Zwiste dieser in all seinen Jahren erlebt und durchlebt haben mochte, konnte man nur erahnen. Dieser bereits klapprige Greis war ganz offensichtlich der Wissende des Rates. Seine Stimme klang brüchig und monoton, durchdrang jedoch die eingetretene Stille wie ein Widerhall.
»Sie ist nicht groß aber mit einer flachbauchigen Lastenbarke ohne Zweifel zu befahren.«
Niemand wagte Einwand zu erheben, gar den Mann zu unterbrechen. Sie hingen an den Lippen des vermutlich lebenserfahrenen der Altvordern.
Der Weise schien in den Jahren entrückt, als er in seinen Erinnerungen nach eben diesen Zeiten forschte, in welchen das damalige Seevolk jene tückische Route befuhr.
Noch bevor sich die Seemannen aus dem Inneren der Inseln auf das von Sonne beschienene Eiland heimisch niederließen und zur Einigkeit gelangten, trieb man mit einem abgeschiedenen Landstreifen des gegenwärtig bekannten Agreas Handel. Es war zu Zeiten, als ihr Volk nur wenige zählte und sich noch keinen Ruf der Seefahrt zu eigen machte.
Es gäbe dort einen schmalen Strandabschnitt, an dessen Ufer die damaligen Boote anlegten und ihre Last gegen eine andere tauschten. Der Mann schmunzelte, als er weiter berichtete.
»Diesen Punkt der Erzählungen habe ich nie geglaubt und werde es zu Lebzeiten wohl nie tun.«
»Was ist es Altvordern?«, bat der Bote, der gespannt lauschte und sich strafende Blicke der Jarls zuzog.
»Ja, mein Junge. Ähnlich wie du habe auch ich stets gefragt, wenn mich etwas begeisterte. Ich war wie du ... vor vielen Jahren.«
Donnerhall krachte laut und ein greller Lichtblitz erhellte, was von der einstigen Seefeste übrig geblieben war. Die Mannen standen wie angewurzelt da und ließen das Schauspiel emotionslos über sich ergehen. Sie kannten diese ungestümen Momente, wuchsen mit derlei auf.
Niemand glaubte an die unheiligen Niederschriften irgendwelcher Obrigkeiten aus dem Götterhain. Das, was ihnen dort auf den Kopf fiel, war schlicht Regen begleitet von wüstem Herbstwetter und nicht der Himmel selbst.
»Es solle vor vielen Generationen ein urtümliches hochgewachsenes Volk gelebt haben, welches unseren harten Stein, Eisen und einem seltenen Material gehandelt haben, welches nur hier auf den Inseln abzubauen war. Dieser Rohstoff schimmere angeblich blutrot und glühe im geschmiedeten Zustand auf, sobald sich eine verstorbene Seele in unmittelbarer Nähe barg.«
Weiter erklärte er, dass dieses metallische Mineral ›Seelenstein‹ getauft wurde. Keine bekannte Esse brannte jemals heiß genug, um es zu schmelzen und war somit für andere unbrauchbar.
Was sie im Gegenzug erhielten, waren angeblich unzählige Setzlinge und Jungbäume, die die Seemannen einst auf den Inseln pflanzten und den Grundstein für eine hinreichende Bewaldung sorgten. Dieses unbekannte Volk lehrte ihnen gleichfalls das Handwerk der Schmiede- und Baukunst, aus welchem Grunde ihre Festungen die rauen Gezeiten und dem Wüten des Feindes so lange strotzten.
»Das es diesen Strand, als auch eine Passage hindurch der Riffe gibt, ist unbestritten. Der Rest hingegen ist unbestätigt und vermutlich ebenso ein Hirngespinst wie, dass uns der Himmel auf den Kopf stürze«, bestätigte der vorherige Sprecher der Altvordern.
»Recht gesprochen. Aberglaube hilft uns nicht weiter und bringt uns nicht die See zurück. Dolvi hingegen vermag es geschafft haben. Seine Anweisungen sind zu detailliert, als dass ich diese zu missachten wage.«
»Dolvi ...«
»Ging um zu tun, was ihm nötig erschien. Es ist müßig zu jeder Mondwende erneut, über seinen überstürzten Aufbruch zu debattieren.«
Gemurmel und hitzige Worte fielen und sorgten für ein spontanes durcheinander. Ein jeder übertraf den Nächsten in Wortwahl und Lautstärke. Die Einen waren sich der Treue des Erbjarls nicht sicher, die Übrigen hingegen gierten nach dem, was dieser Mann darbot. Diese fanden die Anweisungen der aufzuteilenden Mengen gleichfalls annehmbar. Es war mehr, als das, was ihnen bisweilen zur Verfügung stand.
Wut wallte im Inneren des jungen Boten auf. Er verstand einfach nicht, wie sich gestandene Männer, Bullen von Kerlen, wie kleine ungezogene Bälger streiten konnten, wenngleich im Hier und Jetzt etwas geboten wurde, was die Wende einleitete.
Holz, welches ihr Volk so dringend benötigte. Sie würden ihre eigenen Haine nicht schlagen müssen. Knorrige unbrauchbare Bestände würden den Häusern und Hütten ausreichend Wärme spenden, wenn zeitgleich Äxte, Sägen und Hobel Bretter, Bohlen und Balken fertigten.
Dolvi verlangt die Mengen zu dritteln. Je ein Stamm solle die Königsinsel erreichen. Ein weiterer allein zur Wiedererrichtung von Bauplätzen für Seefahrt und Boote. Der darauf Folgende für die Sippen. Diese Aufteilung hingegen war es, die für Uneinigkeit sorgte.
»Dolvi schert sich nicht um das Wohl des Volkes. Er will seine Festung errichtet wissen!«, schimpfte einer der Namenhaften.
»Verdammt noch mal! Ihr benehmt euch wie kleingeistige Rüpel!«
»Sieh an, wer sich traut, sein Gehege zu öffnen. Jucken dir die Zähne, Bursche?«
»Dem kleinen Pisser sind wohl Eier gewachsen?«
»Lasst ihn. Ihr tut gut daran, euch bei den Bärten zu fassen«, schlichtete abermals der Sprecher. »Sprich, was denkst du darüber, worum sich andere hier um den Hals reden?«
Verlegen schluckte der Knabe und knabberte an der Unterlippe.
»Nun?«
»Jeder Weiß, dass unser einzig wahrer Erbe des Großjarls ohne sich zu erklären die Inseln verließ.«
Geraune aber durchaus Zusprüche wurden laut. Widererwartend hielten sie inne und wollten offensichtlich hören, was der vorlaute Hänfling zu sagen hatte.
»Er ging nicht, weil er sein Volk verlassen wollte.« Mit den Armen deutete er um sich. »Er sein Heim hinter sich wissen wollte.« Kopfschütteln begleitete seine Worte. »Er ging nach Agrea. Suchte die dunkelsten Gossen Holmfirth auf, um jemanden zu finden, dem das Vertrauen der Semannen noch etwas bedeuten würde.«
Schweigend sah er sich um und versuchte in den Minen der Anwesen nach Anzeichen von Widerworten zu suchen.
»Was er fand, ist weit mehr. Soviel weiß ich euch hier und jetzt zu sagen. Bevor ihr fragt, mehr über das wie und wer, ist mir nicht bekannt. Dolvi trug mir auf, einen jeden zu vergewissern, dass die Seemannen sich die See zurückerobern werden. Nicht heute, nicht Morgen und auch nicht in einem Monat. Er verlangt von euch nicht die Hörigkeit, er erbittet euer Vertrauen. Nicht in ihn, sondern in dem, was sich zur selben Zeit in und um Agrea zusammenzieht.« Leise, fast einem Hauch gleich senkte er die Stimme, sodass die Mannen unweigerlich näher zusammenrücken mussten. Dem ältesten der Altvordern entwich ein Schmunzeln. »Es wird Sturm geben, wenn der ›Falke‹ fliegt. Der Donner wird hallen, wenn die Mannen der See ihren Ruf erschallen lassen.«