Thorstein stieß die Tür auf und fand sich inmitten der undurchdringlichen Dunkelheit eines späten Herbstabends wieder. Ohne ein Licht würde er in dieser Finsternis nicht weit kommen. Doch andererseits würde er dort, wo er zuerst suchen wollte - nämlich im Stall bei Hrimfaxi - kaum eine Fackel entzünden können. Zu groß war das Risiko erneut einen Brand auszulösen. Also tastete sich der Krieger ohne Licht zu dem dunklen Gebäude vor, in dem sein Pferd und eine seiner Färsen untergebracht waren. Rúna wollte nach der kleinen Fjordstute sehen, hatte sie gesagt.
Doch es war stockdunkel im Inneren des Stalles. Selbst bei offener Tür war niemand darin auszumachen. Und seine Gefährtin würde wohl kaum im Dunkeln bei den Tieren ausharren, oder?
Schon wollte Thorstein sich abwenden und es bei Jorunn versuchen, als sein Pferd ihn spürte und leise schnaubte. Ein Rascheln antwortete dem leisen Geräusch und eine leise Stimme wisperte in der Dunkelheit: "Was ist los, Hrimfaxi? Kannst du auch nicht schlafen?"
Der Krieger erstarrte ertappt. Rúna war hier. Und sie hatte offenbar nicht vor, den Stall an diesem Abend noch einmal zu verlassen, wenn sie schon mit dem Pferd über dessen Schlaf sprach. Thorstein blieb still. Zu sehr verunsicherte es ihn, dass seine Gefährtin offenbar hier übernachten wollte, wo sie doch bei ihm warm und trocken unter den Pelzen hätte ruhen können. Er verstand sie einfach nicht. Immerhin hatte er sie nicht geschlagen und sie auch nicht davongejagt. Dass sie auf den Hof zurückkehren sollte, war doch nicht schlimm. Oder doch? Unbeweglich verharrte der Steuermann. Vielleicht konnte er ja mehr erfahren, wenn er Rúna einfach zuhörte? Falls sie denn weiter mit Hrimfaxi redete … was an sich auch seltsam war! Konnte sie denn mit der Stute sprechen aber nicht mit ihm?
Thorstein hörte, wie das Stroh raschelte, als sich seine Frau bewegte. "Ich weiß einfach nicht, was ich denken oder fühlen soll", verriet Rúna dem ruhigen Tier. "Es fühlt sich alles so leer an!" Wieder raschelte es und das zufriedene Schnauben des Pferdchens deutete darauf hin, dass es gestreichelt wurde. "Du hast es gut, Reifmähne", fuhr Rúna leise fort. "Du weißt genau, wo du hingehörst und zu wem." Sie seufzte leise. "Ich aber weiß gar nichts mehr." Wieder raschelte es und Thorstein war sich sicher, dass sich Rúna zurück ins Stroh hatte fallen lassen. "Heute tut es besonders weh", gab sie dann vor der Stute zu. "Ich habe mir schon oft gewünscht, Ragnar hätte mich nie gefunden oder einfach getötet, anstatt mich zu verschleppen. Doch dann war da Thorstein und ich war so glücklich, dass ich bei ihm sein durfte."
Eine Zeitlang herrschte Stille und der Genannte wusste nicht, was er von diesem Geständnis seiner Gefährtin halten sollte. Was hätte ihr denn Besseres widerfahren können, als zu ihm zu kommen? Warum also sprach sie in der Vergangenheit?
"Glaubst du auch manchmal, dass du Skinfaxi gar nicht kennst?", flüsterte Rúna weiter. "Oder fühlst du nichts für ihn?"
Thorstein glaubte vor sich zu sehen, wie sie die Stirn runzelte. Es war immer niedlich, wie sehr man es ihr ansah, wenn sie angestrengt nachdachte. Er musste sie nicht sehen, um ihren Gesichtsausdruck zu erahnen.
"Ich glaube, dass ich Thorstein liebe", gab sie vor dem Pferdchen zu. "Doch er tut das nicht. Warum sonst würde er mich wegschicken?"
Wieder schwieg sie eine Weile und Hrimfaxi konnte ihr keine Antwort auf die unausgesprochenen Fragen geben.
"Vielleicht gefällt ihm mein Körper?", überlegte die junge Frau halblaut. "Oder er ist zufrieden, wenn er und seine Männer auf dem Moorseehof gut versorgt werden?"
Sie veränderte ihre Position in dem abgetrennten Bereich, der für Hrimfaxi vorgesehen war, was erneut am Geräusch des Strohs zu erkennen war. "Doch am Ende könnte jede andere Frau dasselbe für ihn tun."
Thorstein hörte , wie Rúna leise schluchzte. "Aber am Ende bin ich nichts anderes für ihn als du oder Teitr. Und das habe ich bisher nicht verstanden." Der Steuermann spürte, wie seine Gefährtin nun von ihrem Kummer geschüttelt wurde. Es schien, als würde sie an dem warmen Pferdekörper Trost suchen. War das Tier ihr wirklich so viel näher als er, dass sie bei ihm Zuspruch suchen musste? Glaubte sie wirklich, dass sie für ihn ebenso wenig bedeutete wie eine ersetzbare Stute?
"Ich will, dass das aufhört!", flüsterte Rúna dem kleinen Pferd zu. "Es soll aufhören, weh zu tun!" Die junge Frau weinte nun lauter. "Du und ich, Hrimfaxi …", flüsterte sie zusammenhanglos. "Du und ich …"
Thorstein stand immer noch wie erstarrt. Bei Odin und allen Göttern! Wie hatte er seiner Rúna schon wieder so wehtun können? War er immer nur derjenige, der zuschlug, egal ob mit einem Seil oder mit Worten? Konnte er nur austeilen? War sie es, die für ihn stets und ständig leiden musste? Bei Mjölnir, den er um den Hals trug!
Sie hatte ihm doch gesagt, dass es für sie zu schrecklich gewesen war, um über ihren Schänder zu sprechen. Konnte er denn nicht einmal mehr hören? Ja, sie hatte ihm ihre Liebe gestanden, zu einem Zeitpunkt, wo sie ihm etwa ganz Anderes hätte sagen, ja vorwerfen können.
Er war es doch gewesen, der sie erst zu Ragnar geschickt hatte! Ohne nachzudenken, ohne für ihren Schutz zu sorgen - und das, obwohl Jorunn und Aodh ihn noch gewarnt hatten!
In der kurzen Zeit, in der Thorstein endlich begann, über seinen Umgang mit Rúna nachzudenken, hatte diese sich ein wenig beruhigt. "Morgen, Hrimfaxi", flüsterte sie in die Mähne des geduldigen Tieres. "Morgen werden wir auf den Moorseehof gehen. Du kannst Skinfaxi wiedersehen und musst nicht mehr alleine hier herumstehen. Und im Frühjahr, dann, wenn die Krieger in den Kampf ziehen, werde auch ich weggehen. Dann ist genug Zeit vergangen, dass es nicht mehr wehtun wird … Und es wird genug andere Höfe geben, die eine Magd nicht ablehnen werden …"
Der Steuermann hörte erneut das Stroh rascheln. Offenbar hatte seine Gefährtin sich nun endgültig hingelegt. "Es wird aufhören, nicht wahr, Hrimi?" flüsterte sie erneut. "Irgendwann wird es nicht mehr wehtun und ich werde nicht mehr vergessen, dass ich nur ein Nichts bin. Ein Nichts, dass man benutzen oder wegschicken kann, wie man es will. Ich bin keine freie Frau, Hrimi! Ich muss es nur irgendwann verstehen."
Unfähig, sich zu bewegen, musste Thorstein zuhören, wie sich Rúna in den Schlaf weinte. Das Dunkel zog sich drohend um ihn herum zusammen und kroch näher und näher. Das Atmen der Tiere, das Widerkäuen der Färse - alles erschien ihm laut wie Kriegsgeschrei. Niemals hätte er gedacht, dass er von Rúna so missverstanden werden könnte, dass sie in ihm nicht mehr den liebenden Gefährten sondern eine drohende Übermacht sehen könnte, die ihr gefährlich werden konnte wie ein Mann namens Ragnar. Dass sie ihn mit ihrem Schänder in einem Satz nannte, ihn mit dem Jarl auf eine Stufe stellte - der, der sie benutzte und der, der sie wegschickte. Doch war er wirklich anders?
Thorstein rief sich in Erinnerung, wie er mit Snót zusammengelebt hatte. Aber konnte er seine erste Gefährtin überhaupt mit Rúna vergleichen? Snót hatte ihren Wert durchaus gekannt. Wann immer sie sich von Thorstein falsch behandelt gefühlt hatte, war sie dagegen angegangen, mit Worten oder auch mit den Möglichkeiten, die nur sie als Frau gehabt hatte.
Mehr als einmal war sie ihrem gemeinsamen Lager fern geblieben, um ihre Wünsche deutlich zu machen. Und Thorstein hatte diese Gesten durchaus verstanden und war ihnen mit Nachdenken und gelegentlichem Einlenken begegnet. Rúna aber … An ihr haftete die Vergangenheit als Sklavin noch immer wie Pech an einer Fackel. Sie konnte sich ihm überhaupt nicht entgegenstellen. Sie duldete alles, was er sagte. Das sollte er doch endlich begriffen haben … Und sie hatte ihm ein einmaliges Geschenk gemacht, das er in seinem Zorn und in seiner Unsicherheit vollkommen ignoriert hatte - Rúna war offen zu ihm gewesen und hatte ihm ihre Liebe gestanden!
Doch er … Thorstein schüttelte sich angewidert. Er hatte ihr Geständnis mit einem Hagel an Wünschen und Befehlen beantwortet. Ja, er hatte ihr nicht einmal versichert, dass er ebenso empfand. Aber genau das tat er doch! Und es war noch nicht zu spät, Rúna eben das wissen zu lassen, oder?
Wenn er jetzt mit ihr sprach … Doch war es gut, wenn sie erfuhr, dass er alles gehört hatte?
Der Krieger hatte das Gefühl, Rúna unerlaubt belauscht zu haben. Sie wissen zu lassen, dass er ihre geheimsten Gedanken kannte, war sicher in diesem Augenblick nicht hilfreich. Es musste einen anderen Weg geben …
Leise tastete sich der Steuermann aus dem Stall hinaus. Die offenstehende Tür half ihm, unbemerkt ins Freie zu kommen. Doch was nun?
Wenn er zurück in den Pferdeverschlag ging und Rúna ins Haus holte, würde er wenig ändern. Doch er wollte seine Gefährtin auch nicht allein zurücklassen …
Nachdenklich ging Thorstein zu dem dunklen Grubenhaus, das dennoch wunderbar warm gegenüber dem zugigen Stall war. Angespannt dachte er nach, was zu tun sei.
Schließlich griff er nach einem Stapel Fellen und Decken, das ihr gemeinsames Lager bedeckte. Solvig war bei Jorunn. Es gab also keinen Grund für ihn, hier allein zu liegen, wenn Rúna sich einen anderen Schlafplatz gesucht hatte. Mit der Linken ergriff er die kleine blakende Tranlampe - er würde schon nicht gleich einen Brand auslösen - und machte sich auf den Weg zurück zu Rúna und Hrimfaxi. Wenn seine Gefährtin nicht zu ihm kam, ging er eben zu ihr!
Das erneute Eintreten des Mannes blieb nicht unbemerkt. Hrimfaxi kam auf die Beine und auch Rúna erwachte aus dem leichten Schlaf, in den sie gerade gesunken war. Ohne weiter auf die Stute zu achten, die von den beiden Menschen in ihrem Verschlag sicher überrascht war, warf Thorstein seine wärmenden Mitbringsel neben seiner Gefährtin auf den Boden.
"Ich bin ein sturer, eigensinniger Esel, Rúna!", gab er zu. "Ein Esel, der immer rechthaben will und der doch nicht alleine schlafen kann." Mutig kniete er sich neben der überraschten Frau auf das Stroh. "Lieber liege ich hier bei dir im Stall als ohne meine Gefährtin auf einem warmen, weichen Lager. Darf ich hier bei dir schlafen?"
Ohne noch auf eine Antwort zu warten, zog Thorstein die verwirrte Rúna in seine Arme. "Ich will nicht irgendeine Frau, nur damit ich es warm und bequem habe", gab er nun indirekt doch zu, ihre Worte gehört zu haben. "Ich brauche dich, Rúna, nur dich! Und auch wenn ich Esel es dir bisher nie habe sagen können, so liebe ich dich dennoch! Ja, und es war dämlich, dich wegschicken zu wollen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie der Winter hier ohne dich wäre. Wirst du also bei mir bleiben und es noch einmal mit mir versuchen? Ich will nicht, dass du gehst! Nicht auf den Moorseehof ohne mich und erst recht nicht an irgendeinen anderen Ort!"