"Soll ich gehen, Thorstein?" Die Frage hallte in den Ohren des Steuermannes wider, obwohl Rúna so leise gesprochen hatte. Der Krieger sah auf und betrachtete die junge Frau, die halb abgewandt von ihm vor ihrem gemeinsamen Lager kniete. Warum gelang es ihm einfach nicht, sie in solchen Situationen auf seiner Augenhöhe zu halten? Wann immer er etwas strenger oder lauter wurde, verschloss sie sich wie eine Auster und fiel zurück in jenes Verhalten, dass ihr erster Herr ihr mit Prügeln und Peitschenschlägen eingetrichtert hatte. Dann ging sie vor ihm auf die Knie und wurde so klein und wehrlos, dass er sich wie der letzte Dreck vorkam, obwohl er mit ihr nicht anders umging als früher mit Snót. Doch Rúna konnte ihm nicht widersprechen. Und eigentlich sollte er das inzwischen begriffen haben.
Thorstein stand langsam auf. Er wollte sie nicht schon wieder einschüchtern. Allerdings musste sie trotzdem einsehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie sollte ihm gegenüber ehrlich sein - immer! Also trat er nur ein wenig näher und ließ sich dann auf einen Hocker fallen, der dichter vor Rúna stand als die Bank, auf der er gerade noch gesessen hatte. Er beugte sich ein wenig vor und sah ihr in die Augen.
"Nein, Rúna. Du musst nicht weggehen", ließ er sie leise wissen und sah förmlich, wie die Erleichterung sie übermannte. "Doch ich kann das, was du getan hast, auch nicht einfach unter den Tisch kehren", nahm er dann seinen Worten ein wenig das Weiche, Liebevolle. Jetzt und hier würde er klarstellen, wie er sich ihr weiteres Zusammenleben vorstellte und dabei ging es nicht an, dass sie Heimlichkeiten vor ihm hatte. Nicht solche!
"Es musst dir klar sein, Rúna", legte er fest, "dass du auch als meine Gefährtin mir gegenüber Pflichten hast."
Die Stimme Thorsteins war kalt und empfindungslos, fand Rúna. Und als der Steuermann nun aufzählte, was er von ihr erwartete, nickte sie nur still. Ehrlichkeit, Offenheit, aber auch Verschwiegenheit gegenüber Dritten - das alles verstand sie ja. Es waren grundlegende Dinge, die der Mann nannte. Doch die Art und Weise, wie er von ihr forderte und forderte, war beängstigend. Der harte Ton erinnerte sie nur zu sehr an Àri und dessen Befehle. Also nickte Rúna eifrig und versuchte, nicht in Gedanken dorthin abzugleiten, wo sie solche und ähnliche Anweisungen schon einmal gehört hatte - auf einem Hof weiter im Süden, weiter im Osten, der auch nicht viel anders gewesen war als all das hier. Auch dort gab es solche und solche Tage und wie dort gab es auch hier Tage wie diesen - schlimme Tage.
Ja, sie hatte Thorstein gesagt, dass sie ihn liebte. Und so war es wohl auch. Doch als Gegenleistung für ihr Geständnis hagelte es Befehle. Rúna lächelte traurig. Was hatte sie denn erwartet? Dass er ihr dankte? Dass er sie verstand? Doch wohl kaum! Ja, es war schon ein großes Glück, dass er sie nicht sofort verstieß.
Der Mann vor ihr schwieg schließlich und die junge Frau fand mühsam aus ihren Gedanken zurück in die Gegenwart. Sie spürte, wie Thorstein sie weiterhin musterte und zog sich mit einer sparsamen Geste ihr Unterkleid über. Der Tag war so endlos lang gewesen und sie war eigentlich nur noch müde. Deshalb nahm sie auch gar nicht richtig wahr, wie viel Zeit eigentlich verging, bis Thorstein weitersprach.
Der jedoch hatte seine Gefährtin genau beobachtet und sehr wohl bemerkt, dass sie gedanklich weit fortgetragen worden war. Sie war so schnell zu verletzten. Wie, bei allen Asen sollte er seine kleine Frau an einem Ort wie Straumfjorður schützen, wenn sie so wehrlos war? Thorstein grübelte. Dazu kam, dass er ihr diese Lehre einfach erteilen musste. Sie durfte kein weiteres Mal Dinge vor ihm verheimlichen, die ihn betrafen. Mit Reden allein war er nicht wirklich zu ihr vorgedrungen, das hatte er deutlich gesehen und gefühlt. Schlagen wollte er sie nicht. Was also konnte er tun, damit sie seine Anweisungen verinnerlichte?
Schließlich kam ihm eine Idee, mit der er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte - er würde Rúna auf den Moorseehof zurückschicken! Dann war sie in Sicherheit und gleichzeitig hatte sie bis zu seiner Rückkehr Zeit, sich darüber klarzuwerden, was er von ihr erwartete.
Thorstein stand auf. Leicht fiel es ihm nicht, seine Gefährtin nun doch wegzuschicken. Allerdings würde sie ja nicht sofort auf den Hof zurückkehren. Vorher musste er sich mit Jorunn besprechen und auch Teitr sollte erst wieder in Straumfjorður sein, da sie nicht alleine reiten konnte. Bis es soweit war, würde sie schon ausreichend zur Ruhe gekommen sein.
Trotzdem! So ganz wohl bei dieser Sache war ihm dennoch nicht! Der Steuermann schritt unruhig auf und ab, während er Rúna seine Pläne, sie betreffend, mitteilte. "Auf dem Hof wirst du in Sicherheit sein", schloss er. "Dort hast du auch genug Zeit um nachzudenken, wie du in Zukunft mit mir leben willst."
Es gelang Thorstein nicht, seine Frau bei diesen Worten anzusehen. Schon, als er sie laut aussprach, kamen ihm seine Wünsche nicht mehr so perfekt und klug vor, wie zunächst gedacht. Doch nun war es gesagt und zurücknehmen konnte er seine Anweisungen auch nicht. Es würde schon alles gut werden!
Aufmerksam beobachtete er Rúna, die zu allem, was er anwies, nur still nickte. Mühsam kam sie danach auf die Beine. Schon wollte er aufstehen und ihr zu Hilfe eilen. Doch sie kam auch so zurecht. Sich von ihm abwendend, zog sie sich nun vollständig an, schlüpfte auch in ihre Schuhe und griff schließlich nach ihrem Fellumhang. Das irritierte Stirnrunzeln ihres Mannes versuchte sie zu übersehen, als sie sich der Tür zuwandte. "Ich werde nach Hrimfaxi sehen", ließ sie ihn vage wissen. "Und ich möchte ein bisschen alleine sein!"
Die Tür fiel zu und Thorstein blieb zurück in dem kleinen Grubenhaus. Er atmete durch. Vielleicht war es ganz gut, dass auch er jetzt ein wenig Zeit für sich hatte? Nachdenklich starrte der Steuermann in die Flammen der kleinen Feuerstelle. Was für ein gottverlassener Abend! Der Krieger begann, sich noch einmal alles ins Gedächtnis zu rufen, was er heute zu hören bekommen hatte.
Ragnar! Dieses Schwein! Wie hatte er Rúna so etwas antun können, nach allem, was sie für ihn und auch für den Jarl geleistet hatte? Thorsteins Erinnerungen drifteten ab und er spürte wieder ihre helfenden, weichen Hände, die ihn stützten und seine Schmerzen linderten, als er kurz nach dem Unfall kaum Atmen konnte. Sie war immer freundlich zu ihm gewesen, immer respektvoll - egal, was er getan hatte … und nun das!
Schwer wog, dass es gerade sein Freund gewesen war, sein Anführer, der Mann, in dem er immer ein Vorbild gesehen hatte, dem er nachgeeifert war. Noch ließ sich für den Steuermann kaum ermessen, was dieser Verrat wirklich bedeutete.
Ja und dann war da noch Jorunns Forderung nach einem Ritual. Auch hierüber würde er in Ruhe nachdenken müssen. Man konnte den Göttern nichts verweigern, was sie wünschten. Doch würde es nicht auch noch den letzten dünnen Faden zwischen Ragnar und ihm durchtrennen, wenn er dem Jarl mit einem Schwert in der Hand gegenübertrat? Und er selbst? Würde er dann noch Maß halten können, wenn er bedachte, was dieser Mann Rúna angetan hatte?
Thorstein saß lange mit dem Blick in die flackernden, gelb-roten Flammen und grübelte. Dass es gerade Rollo war, der Rúna gefunden hatte … ob er auch wusste …? Und Lathgertha? Doch viel mehr als die Meinung der Anderen zählte für ihn seine kleine Gefährtin. Wie auch er, hatte sie Ragnar sicher vertraut.
Ja und dann hatte sie sich einer Stärke gegenüber gesehen, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Thorstein wusste, dass der Jarl selbst seinem gut gebauten Bruder im Zweikampf überlegen sein konnte. Gegen Rúna musste er sich sicher nicht einmal sehr anstrengen … Sie aber hatte seine Kraft kennengelernt! Kein Wunder eigentlich, dass sie geglaubt hatte, ihn schützen zu müssen! Wäre er wirklich auch damals so ruhig geblieben wie heute?
Der Steuermann begann einzusehen, dass dem eher nicht so gewesen wäre. Vielleicht hatte seine Gefährtin doch Recht gehabt …? Er musste lächeln. Seine kleinen Rúna! Dass sie wirklich versucht hatte, ihn zu beschützen …!
Doch wo blieb sie eigentlich? Längst war es stockdunkel und auch das Feuer brannte schon nieder. Es wurde Zeit, dass sie zurückkam und mit ihm unter die Felle kroch, nicht ohne vorher mit ihm gegessen zu haben.
Unwillig runzelte der Krieger die Stirn. Wo konnte sie abgeblieben sein? Ruckartig stand Thorstein auf und ging mit schnellen Schritten zur Tür.
Nein! Nein! Das, was geschehen war, durfte sich nicht wiederholen! Er würde Rúna suchen, die längst hätte zurück sein müssen. Es war seine Aufgabe, sie zu schützen und dafür zu sorgen, dass es ihr gut ging! Einen Moment lang gestattete sich Thorstein noch, in den Gedanken an sie zu schwelgen. Eigentlich hatte sie ja genau dasselbe getan - ihn geschützt und dafür gesorgt, dass es ihm gut ging. Wie konnte er da noch zornig auf sie sein?