Was machst du grade, Tom?"
Sarah beugte sich interessiert nach vorne, um einen Blick hinter die breiten Schultern ihres besten Freundes zu erhaschen, der konzentriert auf seinen Schoß starrte.
Wie ertappt drehte sich der dunkelhaarige Junge zu ihr um und schob gleichzeitig einen kleinen Gegenstand an seine Brust.
"N...nichts, Sarah. Ich hab nur gerade meine Stifte gespitzt.", stammelte er und setzte ein Grinsen auf.
"Als ob ich dir auch nur ein Wort glauben würde. Jetzt zeig schon her.", meinte sie mit einem neugierigen Funkeln in den Augen.
"Ich weiß nicht, wovon da sprichst.", antwortete Tom mit Unschuldsmiene. In Wahrheit wusste er es nur allzu gut, denn in seiner Hand befand sich ein Geschenk für Sarah, dass er gerade fertig gemacht hatte. Morgen hatte sie Geburtstag und er wollte sie mit etwas Besonderem überraschen, weil sie jemand ganz Besonderes für ihn war. Er war schon lange in sie verliebt und hatte den Entschluss gefasst, ihr am morgigen Tag seine Gefühle zu gestehen. Seine Wangen nahmen allein schon bei der Vorstellung einen verräterischen Farbton an. Sarah beugte sich noch weiter vor, mit der einen Hand berührte sie den Jungen an der Schulter, ihre Haare striffen seine Wange.
"Du weißt genau wovon ich spreche...", sagte sie und griff nach seiner zur Faust geballten Hand und versuchte seine FInger auseinander zu ziehen.
Wenn überhaupt möglich wurden Toms Wangen noch röter. Sein Herz wummerte wie der Bass im Hintergrund eines Hardrock-songs. Bisher hatte er seine Gefühle immer kontrollieren können, er wollte nicht, dass Sarah sich in seiner Gegenwart unwohl fühlte. Doch jetzt gerade brannten bei ihm förmlich alle Sicherungen durch. Ihr langes blondes Haar kitzelte an seiner Nase, als sie ihm ihr Gesicht zuwand. So nah! Viel zu nah! Er durfte jetzt nicht die Beherrschung verlieren. Mit eisernem Griff umschloss er das Geschenk und erwiderte etwas unsicher den Blick ihrer blauen Augen. Sein Magen schlug Saltos.
"Ach bitte, Tom.", meinte sie und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. Er war gerade zu keiner Antwort fähig, sein Blick war auf ihre Lippen gerichtet und der Drang sie zu küssen stieg ins Unermessliche.
Mit glühendem Gesicht beugte er sich leicht vor. Sarah wich ein wenig zurück, so als wäre sie sich seiner Nähe erst jetzt bewusst geworden. Ein rosaner Schimmer huschte über ihre Wangen, oder war das nur seine Einbildung? Keine Sekunde später klatschte Sarah ihre kleine bleiche Hand auf seine Stirn.
"Hey, ist alles okay? Du bist ja krebsrot und kochend heiß!", meinte sie besorgt.
"Ach naja...", brachte er nur über die Lippen.
"Nichts naja, entweder hast du Fieber oder du warst zu lang in der Sonne gesessen. Nichts von beidem ist besonders gut für dich.", fuhr sie aufgebracht fort. "Geh am besten gleich nach Hause!"
Oh Gott wie peinlich... Täte sich jetzt neben Tom ein Loch im Boden auf, würde er dankbar hineinspringen. Stattdessen winkte er lächelnd ab.
"Schon in Ordnung, mir geht es gut. Es liegt wohl wirklich an der Hitze."
Pah, von wegen, aber besser, er ließ sie in diesem Glauben... Würde sie den wahren Grund kennen, stürbe er vor Scham. Immerhin schien sie den Gegenstand in seiner Hand vollkommen vergessen zu haben. Puh, nochmal Glück gehabt.
"Knall dich das nächste Mal einfach nicht mitten in die Sonne rein, klar?"
Der Junge nickte und salutierte wie ein Soldat. "Ja, Sir."
"Spinner...", murmelte Sarah, grinste aber trotzdem. Von weitem rief jemand. Tom drehte sich um und sah eine Freundin von Sarah winken. Sie stand an den Treppenstufen der Schule. Sarah folgte seinem Blick und winkte zurück.
"Also, ich muss los.", meinte sie. "Du kommst doch morgen abend, oder?" Sie sah ihn lächelnd an und Tom schmolz dahin wie ein Stück Butter.
"Aber natürlich!" Um nichts in der Welt wollte er diese Feier verpassen.
"Also dann bis morgen, ich freu mich auf dich!", sagte sie schon im Gehen gewand.
"Ich mich auch!", rief er noch schnell hinterher, woraufhin sich das Mädchen noch einmal umdrehte und ihm zuwinkte.
Er sah ihr hinterher, bis sie hinter der Schulmauer verschwunden war, in Gedanken ließ er das gerade Erlebte nocheinmal Revue passieren. Er war doch so ein Depp... Wie konnte er sich derart gehen lassen? Fast hätte er versucht Sarah zu küssen... Sie schien zwar nichts gemerkt zu haben, was den Umstand aber nicht schmälerte. Beinahe hätte er alles kaputt gemacht... Morgen war der große Tag, erst dann würde er sie küssen... wenn sie es wollte.
Er öffnete langsam seine zur Faust geballte Hand, wie ein Irrer hatte er sie zusammengequetscht. Hoffentlich, war nichts kaputt gegangen! Aber nein, das kleine Glasfläschchen war noch ganz. Im Inneren befanden sich die zierlichen Schirmchen einer Pusteblume, die in dem feinen Glasgefäß umherschwebten, wenn man es schüttelte. Sarah liebte es schon seit dem Kindergarten auf die weißen Ballen der verblühten Löwenzahnpflanzen zu pusten und die kleinen Elfen, so nannte sie die weißen Schirmchen, zu befreien und in die Freiheit segeln zu lassen. Aus jeder normalen Sache machte sie etwas Besonderes, dichtete allem gleich ein eigenes Märchen an. Auch das liebte er an ihr...
Verträumt blickte der Junge durch das Glas des kleinen Fläschchens und sah den winzigen Elfen beim Fliegen zu. Am Rand des Fußballplatzes, vor dem er gerade saß, gab es unzählige davon, von denen er vorhin einige in das kleine Gefäß gefüllt hatte. Zum Glück hatte er es vor den neugierigen Blicken seiner Angebeteten fernhalten können... Hoffentlich würde sie sich über die Kette freuen. Er war schon seit Tagen ganz nervös, fürchtete sich vor dem morgigen Tag, sehnte ihn aber gleichzeitig auch herbei. War es das wirklich wert, die Freundschaft aufs Spiel zu setzen für eine ungewisse Zukunft zu zweit? Wieder krochen die Zweifel, die er doch einst schon verbannt hatte, zurück in sein Herz. Aber wenn er jetzt schon wieder zauderte, würde ihm gewiss ein anderer zuvor kommen! Sarah war beliebt, auch ältere Schüler hatten schon ein Auge auf sie geworfen... Kein Wunder, sie war hübsch, freundlich und wusste immer genau die richtigen Worte zu finden. Eigentlich viel zu gut für einen Normalo wie ihn... Viel hatte er den anderen Verehrern nicht entgegen zu setzen. Doch er war immer noch derjenige, der sie am längsten kannte. Er hoffte, dass dies ihm den entscheidenden Vorteil verschaffen würde. Tom hatte keine Wahl, er musste handeln bevor es zu spät war! Mit neuer Entschlossenheit blickte er ins Licht der Sonne. Verdammt, er war so verliebt in dieses Mädchen!
Er fuhr sich durch sein verschwitztes Haar und ließ das kleine Geschenk vorsichtig in seine Hosentasche sinken. Die Hitze war wirklich unerträglich... Langsam erhob er sich von der alten Holzbank und griff nach seinem schwarzen Rucksack. Auf nach Hause, wo eine kalte Dusche auf ihn wartete!