Die ersten Tage bekomme ich nicht sehr viel mit. Jemand bringt mir etwas zu trinken, flößt es mir ein und zieht mich um.
Aber zum Glück senken sie nach den ersten paar Tagen schon die Dosis.
Ich merke es daran, dass ich endlich etwas von meinem Umfeld mitbekomme.
Es ist die Schwester, die jeden Tag so an die drei Mal nach mir sieht.
Am liebsten würde ich sie bitten mir keine Spritzen mehr zu geben, aber ich kann weder sprechen noch mich bewegen.
Das einzige was ich machen kann, ist hier zu liegen und zu beobachten.
Ob nun die Decke, sie oder Nolan, der auch ab und zu, zu mir kommt, um nach dem Rechten zu sehen. Nicht einmal meine Arme kann ich bewegen.
Es ist schlimmer als ich befürchtet habe.
In nur drei Wochen verkümmern die Muskeln, die ich mir aufgebaut habe und ich magere wieder merklich ab.
Am liebsten würde ich es abbrechen, mir den Magen voll schlagen und mit Marco und Nolan abhängen.
Aber am meisten fehlt mir komischer weise Helia.
Sie ist wirklich zu meiner Schwester geworden.
Egal wie sehr ich mir auch wünsche, dass sie zu mir kommt, sie kommt nicht.
Ab der dritten Woche setzen sie die Dosis immer weiter ab, bis ich mich langsam wieder bewegen kann.
Die Schwester merkt das aber nicht einmal.
Sie kommt immer, wenn ich schlafe.
Ende der dritten Woche kann ich mich vollständig bewegen und auch wieder sprechen.
Nachdem die Schwester bei mir gewesen ist, wache ich auf und gehe zum Spiegel.
Ich sehe aus wie eine Wandelnde Leiche.
Na ja, fast zumindest.
Mir kriechen keine Maden oder Würmer im Gesicht rum oder so, was schon mal ein deutlicher Vorteil ist, aber meine Haut hat einen gräulichen Farbton und ich habe tiefe Augenringe.
Meine Klamotten sind viel zu groß, ich würde locker gleich zwei Mal hineinpassen.
Als es mir zu langweilig wird mich im Spiegel zu betrachten, gehe ich duschen. Und dass ordentlich lange.
Als ich fertig bin, ziehe ich mir passende Klamotten an, was sich als schwieriger gestaltet als gedacht.
Ich werde fast ohnmächtig vor Schreck, als Helia direkt vor mir auftaucht.
Sie lächelt mich freundlich an und nimmt mich in den Arm.
Als sie mich wieder loslässt, fragt sie neugierig:
„Wie hast du es geschafft jetzt schon wieder wach zu sein?“
„Das ist doch einfach, da sie die Dosis runtergenommen haben. Also ist das gar nicht so besonders.“
„Da bist du wohl falsch informiert Mädel.“
„Wie meinst du das?“
„Sie haben die Dosis nicht verringert.“
„Aber... wie kann es dann sein, dass das Mittel nicht mehr wirkt?“
Sie überlegt angestrengt und zieht dabei ihre Nase kraus.
Am Ende meint sie:
„Ich denke, dass du inzwischen dagegen immun geworden bist und es deswegen nichts mehr bringt. Aber das solltest du nicht gleich in der ganzen Welt herum schreien okay?“
„Mhm...“
Ja sie hat recht, das kann gut möglich sein, oder?
So langsam gewöhne ich mich an diesen ganzen Magischen, übernatürlichen Krimskrams.
Ich meine ich stecke ja auch mitten drin.
Helia sieht mich nachdenklich an und sagt dann so fröhlich wie immer:
„Nun gut, ich denke wir sollen dann anfangen.“
„Womit anfangen?“
„Na deinem Knöchel geht es doch anscheinend wieder gut, oder nicht?
Aber ich kann es verstehen, wenn du noch nicht trainieren willst.“
„DOCH!“
Ich will unbedingt trainieren auch, wenn ich mich anscheinend als Engel nicht unter Kontrolle habe.
Ich muss mehr lernen, ich muss stärker werden. Niemals wieder darf ich die Kontrolle verlieren.
Helia nimmt mich an der Hand, verwandelt sich und fliegt mit mir durch das Fenster raus.
Es ist einfach wundervoll zu fliegen, den Wind in den Haaren zu spüren.
Frei zu sein.
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
Anstatt mit mir zu lachen, sieht mich Helia verwundert an und fragt:
„Warum lachst du?“
Ich zucke nur die Schultern und genieße die frische Luft.
Zu meinem Entsetzen landet sie mit mir auf der Lichtung, wo die Beiden Engel gekämpft haben. Aber noch erschreckender ist, dass wir nicht alleine sind.
Auf der Lichtung sind bereits einige am Kämpfen, allerdings alle unverwandelt.
Es könnte genauso gut ein treffen der Spinner sein, die alle auf kämpfen stehen.
Anscheinend sind sie schon einige Zeit am Kämpfen denn ein Mädchen schläft schon tief und fest an einen Baum gelehnt.
Als ich in ihre Richtung sehe meint Helia:
„Das ist Lucretia und ihr Wiesel heißt Charlie.“
Stimmt, zuerst habe ich ihr Wiesel gar nicht bemerkt, aber jetzt, da Helia es erwähnt sehe ich es auch.
Es ist ein kleines braunes Wiesel, irgendwie süß.
Das Mädchen, Lucretia, hat wohl schon einen heftigen Kampf hinter sich, denn um ihr eines Bein trägt sie einen blutigen verbannt.
Sie hat hell blaue Haare und sie sieht aus, als wäre sie irgendeinem alten Film mit Rebellen entsprungen. Ihre Haare sind wild und sie trägt eine Art improvisierte Lederrüstung?
Als ich mich weiter umsehe, bemerke ich mehrere Gesichter die mir bekannt sind.
Estelle, Sandra, Moira, Franzi, Laila und Blue sind auch da.
Nur ein Gesicht kann ich nicht zuordnen.
Das Mädchen hat rote, leuchtende Haare und kommt mir einem riesigen Schwert in der Hand, auf mich und Helia zu geschlendert.
Sie sieht irgendwie so aus, als würde sie gleich in den Krieg ziehen wollen.
Bevor ich fragen kann wer sie ist, flüstert Helia:
„Das ist Mona, sie ist die älteste und auch die stärkste hier. Leg dich bitte nicht mit ihr an, sie ist leicht reizbar und ich könnte dir dann nicht mehr helfen.“
Sie scheint allerdings ganz nett zu sein, denn sie kommt gleich zu mir und schüttelt mir kräftig die Hand.
Sie hat einen ziemlich festen Händedruck, fast schon wie ein Mann.
„Gegen wen willst du kämpfen?“
Diese Frage verwirrt mich gleichermaßen wie sie mich schockiert.
Zum Glück antwortet Helia für mich:
„Sie wird heute noch nicht kämpfen, Mona.“
„Warum das denn nicht?“
„Sie ist noch nicht so weit.“
Mona sieht mich verärgert an. Als ob ich was dafür kann!
Aber auf einen Schlag ist sie wieder putzmunter.
Sie sagt: „Aber das ist doch egal, wir können sie doch zusammen trainieren, oder nicht?“
Ja, warum eigentlich nicht?
„Nein! Das ist meine Aufgabe!“
Helia überrascht mich mit ihrem Einwand, und nicht nur mich, wie es mir scheint.
Auch Mona entsetzt ihr Verhalten regelrecht.
Sie dreht sich beleidigt um und stürzt sich in den nächsten Kampf.
„Was sollte das denn?“
„Sie wollte doch nur sehen, ob du Flügel hast oder nicht! An dir ist sie gar nicht interessiert, nur an deinen Flügeln und deinen Fähigkeiten.“
„Wieso sollten sie meine Flügel interessieren?“
Sie atmet einmal tief durch und erklärt dann ruhig:
„Weißt du, es gibt nicht nur Engel mit Flügel, es gibt auch welche ohne, so welche wie Mona. Sie haben es nie gelernt sich richtig zu verwandeln und können es auch gar nicht. Sie sind flügellos.
Darum will Mona wissen, ob du Flügel hast. Sie ist regelrecht davon besessen, alle Engel ohne Flügel um sich zu scharen und zu ihren Sklaven zu machen.
Ich wollte dich nur vor ihr beschützen.“
„Jetzt verstehe ich das einigermaßen, Mona ist also so eine Oberzicke.“
„Ganz genau.“
Helia lächelt mich verschwörerisch an und führt mich weiter.
Als wir ein wenig mehr Privatsphäre haben, sagt sie:
„Ich denke wir sollten mit deiner Verwandlung anfangen, bekommst du das hin?“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schüttle enttäuscht den Kopf.
„Ich weiß nicht wie.“
Helia überlegt kurz und sagt dann fröhlich:
„Du musst dich nur konzentrieren. Wie ich dir schon einmal gesagt habe.
Wir können alles, solange wir uns nur konzentrieren.
Also probiere es aus.“
Nun gut, dass kann doch nicht so schwer sein oder?
Doch so sehr ich mich auch konzentriere ich schaffe es nicht.
„Es geht nicht!“
„Doch, probiere es weiter!“
Helia ist wirklich streng, sie lässt einfach nicht locker.
Doch am Ende bin ich nur total genervt und habe Kopfschmerzen.
Als sie mich immer noch nicht in Ruhe lässt, ticke ich aus.
Ich schreie so lange auf sie ein, bis ihr das dämliche Grinsen aus dem Gesicht fliegt.
Aber jetzt funkelt sie mich böse an und sagt:
„Wenn du es nicht lernen willst, können wir es auch lassen!
Was hast du denn gedacht, das du es in drei Minuten lernst?!
Natürlich kannst du es nicht gleich!
Es ist harte Arbeit, ich musste fast drei Monate üben bis ich es konnte!
Also hör auf zu flennen und mach weiter!“
Das schockt mich erst einmal.
Ich hätte nie gedacht, dass sie so ausflippen kann.
Aber irgendwie hat sie ja schon recht, ich benehme mich wie ein Kleinkind.
Meine Zuversicht wächst wieder und meine Kopfschmerzen sind wie weggeblasen.
Helia ist die perfekte Lehrerin für mich.
Ich murmle schnell eine Entschuldigung und setze mich dann auf dem Boden.
Ich schließe die Augen und stelle mir vor wie es ist durch den Himmel zu fliegen.
Wie es sich angefühlt hat sich zu verwandeln.
Frei zu sein.
Ich höre wie Helia auf keucht, kümmere mich aber nicht weiter darum.
Ich spüre wie mein Körper sich verändert, wie mir Flügel wachsen.
Und dann ist es vorbei.
Ich werde ohnmächtig.
Ich träume von meiner Mutter.
Sie ist hier bei mir.
Aber wo?
Ich sitze am Rand eines Sees, es ist Vollmond.
Und ich kann niemanden sehen.
Aber ich spüre, dass sie hier ist.
Und da, tatsächlich, sie kommt aus dem See gelaufen.
Sie sieht wundervoll aus, aber sie hat eine andere Haarfarbe und ihre Augen haben ihren Glanz verloren.
Sie sieht irgendwie traurig aus, doch als ich ihr tröstende Worte zu sprechen will, bekomme ich keinen Ton heraus.
Was ist hier los?
Sie sagt: „Meine süße kleine Tochter...
Wie ich dich vermisst habe.
Aber ich habe nicht viel Zeit, mein kleiner Engel.
Sie lassen mich nicht gehen.
Aber lass mich dich warnen, du darfst nicht
Weiter versuchen dich zu verwandeln, mein
Schatz.
Dadurch tötest du dich, oder besser
Gesagt du tötest den Menschen in dir.
Den, den ich versucht habe zu beschützen.
Also bitte hör auf damit!
Ich will dich nicht wieder verlieren!
Bitte höre auf mich und lass es bleiben!
Lebe dein Leben mein kleiner Engel.
Genieße es.
Wir sehen uns wieder.
Ich bin zu geschockt von ihren Worten, als dass ich ihr etwas erwidern kann.
Und als ich mich endlich wieder einkriege, ist sie schon verschwunden.
Einfach so weg.
Der See liegt ruhig vor mir. Und langsam komme auch ich zur Ruhe.
Ich lege mich hin und schlafe ein.
Als ich aufwache, liege ich wieder auf der Lichtung. Helia sitzt neben mir und hat schon Tränen in den Augen.
Als ich sie ansehe schlingt sie erleichtert ihre Arme um mich und fängt an zu weinen.
Genauso kenne ich Helia.
Aber, was ist hier eigentlich passiert? War das eben echt?
„Was ist passiert?“
Helia lässt mich los und sieht mich verwirrt an.
Dann meint sie:
„Das sollte ich dich eigentlich fragen. Eben noch verwandelst du dich, und im nächsten Moment liegst du bewusstlos am Boden und ich bekomme dich nicht wach.
Was zum Teufel ist passiert?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich habe meine Mutter gesehen.“
„Vielleicht war dein Körper ja noch zu schwach. Wir sollten wohl erst einmal eine Pause einlegen. Und wegen deiner Mom, vielleicht vermisst du sie einfach nur zu sehr. Wenn du willst kann ich Nolan fragen, ob er dich demnächst mal zu ihr bringen kann.“
„Das wird nicht gehen.“
„Warum denn nicht? Hast du dich mit ihr zerstritten?“
„Schön wär´s, nein sie ist tot.“
„Oh mein Gott, das tut mir leid!“
„Ist doch jetzt auch egal. Aber ich glaube nicht, dass es nur ein Traum gewesen ist.
Es war so real!
Es kann kein Traum gewesen sein!“
„Aber was denn dann bitte?“
„Eine Warnung.“
„Was?!“
„Es war eine Warnung an mich. Ich soll mich nicht mehr verwandeln.“
Helia runzelt die Stirn und fragt mich dann:
„Wenn du deinem Traum glaubst, was sollen wir dann trainieren?“
„Wir können auch so Übungen machen. Meine Kraft kann ich auch so benutzen. Ich kann sogar schon einen Gegenstand beliebig lange schweben lassen.
Und einmal habe ich einen ganzen Tag lang Blumen in meinen Haaren fest gehalten. Ich werde mit der Zeit immer stärker. Ist das nicht cool?“
Helia reist ungläubig die Augen auf und fragt:
„Und du übertreibst auch nicht?“
„Nein ehrlich nicht!“
„Okay, ich kann es zwar nicht ganz glauben, aber gut. Dann können wir ja auch so üben. Ich bringe dich jetzt zurück und hole dich morgen wieder ab, sobald die Schwester weg ist.“
„Moment mal, warum kann ich den Anderen nicht beim Trainieren zusehen?
Ich kann mir ja etwas von ihnen abschauen.“
Helia überlegt einen Moment, nickt dann aber begeistert:
„Das ist eine super Idee. Nun gut, komm.“
Helia lässt mir freie Wahl, bei welchen Kämpfen ich zusehen will.
Sie weicht mir aber die ganze Zweit nicht von der Seite.
Wie ein Wachhund.
Die Kämpfe sind zwar für niemanden tödlich, gefährlich sind sie aber dennoch.
Jeder hat mindestens eine blutige Wunde, aber alle haben anscheinend Spaß daran zu kämpfen.
Der interessanteste und auch härteste Kampf, den ich zu sehen bekomme, ist der zwischen Mona und einem Mädchen, das kurz zuvor aufgetaucht ist.
Mona nimmt das Mädchen ziemlich hart dran.
Zudem ist Mona der erste Feuerengel den ich wirklich zu sehen bekomme.
Und, Wow, ich muss echt zugeben, sie ist wirklich stark.
Aber das Fremde Mädchen gibt einfach nicht auf und greift immer wieder an.
Sie hat schon mehrere Verletzungen, aber auch an ihrem Schwert klebt etwas Blut.
Mona ist aber im Vorteil, da sie mehr Kraft hat, kann sie gleichzeitig ihre Wunden heilen.
Am Ende hat Mona natürlich gewonnen, aber das Fremde Mädchen ist stolz auf sich, weil sie so lange durchgehalten hat und legt sich erst einmal schlafen.
Als ich schon zum nächsten Kampf will, zieht Helia an meinem Ärmel und raunt mir ins Ohr:
„Wenn wir jetzt nicht gehen, werden sie bemerken das du nicht mehr da bist.“
Ich nicke und sie verwandelt sich.
Kurz nachdem wir wieder in meinem Zimmer sind flüstert sie:
„Denk dran, niemand darf merken, dass du wach bist!“
Und schon ist sie wieder aus dem Fenster raus.
Ohne mir weitere Gedanken über sie zu machen, lege ich mich in mein Bett und tue so als würde ich schlafen.
Die Schwester kommt nach einer gefühlten Ewigkeit.
Sie gibt mir die Spritze und flieht dann regelrecht aus dem Zimmer.
Erst kann ich nicht schlafen, weil mir meine Mutter im Kopf rum spukt, aber schon bald überwältigt mich meine Müdigkeit und ich schlafe ein.