Nashoba hatte das Tipi verlassen, um nach seinen Pferden zu sehen. Als er auf die Lichtung trat, spürte er sofort die fremde Aura der Heilerin. Sie war stärker geworden, auch wenn das Amulett Onatahs sie schützte. Es war ein angenehmes Gefühl, ihre Energie zu spüren. Er lächelte. Offenbar ging es ihr besser, wenn ihre Präsenz so intensiv war. In dieses Lächeln hinein betrat Solinacea die Lichtung. Noch ganz in die Nachwirkung der Magie versunken, war sie vom Bach zurückgekehrt, ohne die Anwesenheit des Mannes zu bemerken.
Später dachte Solinacea oft, dass sie viel früher über diesen Moment hätte nachdenken sollen, sich vorbereiten, Sätze in Gedanken bereitlegen. Dass sie nun dem Krieger gegenüberstand und vor Überraschung keine passenden Worte fand, ließ sie vor Scham erröten. Dennoch konnte sie den Blick nicht von der großgewachsenen Gestalt lösen, der sie sich zu dieser frühen Morgenstunde gegenübersah. Es war eines, über die Wolfskrieger zu lesen oder zu sprechen – einem von ihnen gegenüberzustehen, war eine völlig andere Sache.
Das Gesicht des Mannes war ihr in ihrer verschwommenen Erinnerung an die ersten Stunden in Ipioca begegnet. Nun aber umgab ihn die machtvolle Aura des Kriegers und sein forschender Blick musterte sie ausgiebig. Er flößte ihr zwar mit seiner gründlichen Betrachtung nicht unbedingt Furcht ein, dennoch konnte sie nicht vermeiden, dass sie von der Ausstrahlung und Gelassenheit, die von ihm ausging, beeindruckt war. Sie neigte den Kopf und hob die geschlossenen Hände vor die Brust zu einer rituellen Begrüßung.
Nashoba folgte ihr in diese Bewegung und deutete ebenfalls eine rituelle Begrüßung an. Innerlich lächelte er der Frau zu, die sich sichtlich bemühte, ihre Überraschung zu verbergen. Gewiss war es noch sehr früh am Morgen und sie hätte ein Recht darauf gehabt, ihre magische Handlung ohne Störung zu vollziehen. Dennoch gefiel dem Minági gerade diese winzige Unsicherheit, die bewies, dass die Frau vor ihm trotz ihres offensichtlich hohen Rangs empfindsam war. Nashoba lächelte.
»Es freut mich, dich gesund vor mir zu sehen, Solinacea von Dakoros.«
Er schloss jene Geste an, mit der die Dakoraner ihre Priesterinnen grüßten. Diese kleine Bewegung war Solinacea so vertraut, dass sie ihre erste Unsicherheit überwand und mit einem verhaltenen Lächeln den magischen Krieger begrüßte.
»Auch mich freut es, dich zu sehen. Ich möchte dir für meine Rettung danken.«
Sie sprach leise und Nashoba stellte fest, dass ihm der Klang dieser Stimme angenehm war. Die Inokté mochten eine knappe, besonnene Sprache. Laute, ausschweifende Gespräche kamen bei Nashobas Volk kaum vor. Dass die Heilerin intuitiv leise und zurückhaltend sprach, entsprach den Inoktévorstellungen von Respekt und Rücksichtnahme.
»Das war selbstverständlich und bedarf keines Dankes.« Nashoba nickte der Magierin freundlich zu. »Du bist hier willkommen.«
Inzwischen fröstelten beide bereits nach diesen wenigen Worten. Im Herbst waren die Morgenstunden im Gebirge ausgesprochen kühl und die Lichtung kein passender Ort für ein längeres Gespräch. Nashoba wandte sich halb seinem Tipi zu, das er eben verlassen hatte und wies einladend in dessen Richtung.
»Vielleicht sollten wir uns besser drinnen weiter unterhalten«, schlug er vor. »Noch ist der Morgen recht kühl …«
Wie schon beim ersten Mal fiel es ihm schwer, den Blick von Solinaceas tiefblauen Augen zu lösen. Sie waren faszinierend. Schließlich wandte er sich um und hob erneut seine Hand in Richtung des Tipis. Sie folgte seiner Einladung und er ließ sie eintreten. Immer noch schweigend bot er ihr einen Platz am Feuer.
Solinacea hielt zurückhaltend den Kopf gesenkt und trat in Richtung des ihr zugewiesenen Platzes. Sie hatte sich vor ihrer Reise ausführlich mit der Lebensweise und den Gebräuchen der Inokté vertraut gemacht, sodass sie wusste, dass eigentlich nicht ihr, sondern ihm der erste Platz am Feuer gebührte.
Als er nun darauf wartete, dass sie sich setzte, schüttelte sie still ihren Kopf und winkte ihm, seinem Vorrecht zu folgen. Nashoba setzte sich und nahm aus dem dampfenden Kessel über dem Feuer einen frischen Tee, den er Solinacea reichte. Hiermit hatte er ihr wiederum die höchste Ehre eines Gastes der Inokté erweisen.
Solinacea brach das Schweigen.
«Es ehrt mich wirklich, wie ihr mich empfangt, Erster der Inokté, aber es wäre mir um vieles angenehmer, wenn wir auf all diese Standesrituale zukünftig verzichten könnten. Ich kam mit dem Wunsch hierher, die alte Freundschaft zu den Inokté zu erneuern und um Unterstützung bei den voraussichtlich kommenden Auseinandersetzungen an der Grenze anzubieten. Es geht mir nicht darum, magische Macht zu demonstrieren oder Ehrungen zu empfangen.«
Überrascht wurde sie von dem Mann betrachtet, dem sie gegenübersaß. Nach dem, was er von ihr bisher gesehen hatte, hätte Nashoba alles erwartet, nur nicht, dass sie sofort zu ihrem Anliegen kommen würde. Im Stillen korrigierte er seine Vorstellungen von der Frau, die vor ihm saß. Sie mochte zurückhaltend erscheinen, ja fast schüchtern. Doch sie war gewiss zielstrebig und gewohnt, mit Respekt behandelt zu werden.
»Kühn und direkt, würde ich sagen, wie man es von einer Dakoranerin erwartet«, entgegnete er mit einem dünnen Lächeln. »Aber ich komme deinen Wünschen gerne nach."
Der Minági mochte ebenfalls keine langen Vorreden und so kam er sofort zu den Themen, die ihn interessierten.
"Du sagst, du kamst mit klaren Absichten zu uns. Erklär mir das genauer. Wir haben dich und dein Boot an unserer Küste gefunden. Dabei war es merkwürdig, dass sich eine Hohepriesterin von Dakoros in Seenot gebracht haben sollte, noch dazu ohne Eskorte …«
Solinacea lachte auf. Hatte sie geglaubt, dass die Wolfsmagier ihre Ankunft als Zufall betrachten würden?
»Den Wölfen entgeht nichts, oder?«, fragte sie scherzend nach. »Das Ganze ist eine längere Geschichte. Aber zunächst einmal hast du vollkommen recht, dass mein ›Schiffbruch‹ nicht wirklich ungeplant war.«
Und nun stürzte sich die Hohepriesterin von Dakoros in einen Bericht, in dessen Verlauf sie Nashoba vollkommen in ihren Bann zog. Sie berichtete ihm, dass die Dakoraner schon seit mehreren Monaten von ihren Spionen in Chromnos Informationen erhalten hatten, nach denen sich die Dunkelmagier auffällig oft zusammenfanden. Sie erzählte von den Befürchtungen, dass es erneut zu Auseinandersetzungen an den Grenzen kommen könnte und davon, dass sie gemeinsam im Hohen Rat der Priesterinnen den Beschluss gefasst hatten, den Völkern auf dem Festland endlich mehr Unterstützung durch die magischen Heilerinnen anzubieten. Sie wollten nach Möglichkeiten suchen, ihre Kenntnisse über Magie und Heilkunst an möglichst viele weiterzugeben und auch Wissen mit den verbündeten Magiern auszutauschen.
»In den letzten Jahrhunderten haben wir uns viel zu sehr auf unsere Sonderstellung auf den Inseln zurückgezogen. Aber die Heiler sollten zu den Menschen gehen – nicht umgekehrt, wie es bisher viel zu häufig war."
Hier unterbrach sich Solinacea für einen Moment und überdachte noch einmal die vielen langen Gespräche, die zu führen gewesen waren, bevor sie endlich hatte aufbrechen können. Davon, wie schwierig es gewesen war, ihr Anliegen durchzusetzen, würde sie dem Minági erst einmal nichts erzählen. Also fasste sie sich kurz und berichtete nur von den Ergebnissen ihrer Überlegungen und Diskussionen.
"Wir beschlossen, auf möglichst geheimen Wegen Heilerinnen zu den drei großen magischen Gruppen auf dem Festland auszuschicken, um mit ihnen in Kontakt zu treten und über unser Angebot zu sprechen. Der Weg zu den Inokté erschien uns besonders schwierig, weil er nahe an Chromnos heranführt. So kam der Vulkanausbruch gerade recht. Wir täuschten vor, zur Sicherheit eine komplette Evakuierung der Hauptinsel durchzuführen, in deren Durcheinander ein verschollenes Kleinboot nicht auffallen würde."
Die Dakoranerin lächelte verschmitzt.
"Schade, dass ich zu dieser Zeit noch nicht über Onatahs Amulett verfügen konnte. Es hätte mir eine Woche Fasten und Dursten ersparen können. Aber körperliche Schwäche war für uns bisher der einzige Weg, um unsere Aura ausreichend zu verbergen und letzten Endes hat es ja gut funktioniert und ich habe den Minági getroffen, viel schneller als ich dachte.«
Sie nickte Nashoba zu, der ihr schweigend zuhörte. »Ihr beschützt seit Jahrhunderten mit euren Kräften die Grenzen und habt es somit erst ermöglicht, dass wir unsere friedliche Kunst soweit vervollkommnen konnten, wie sie heute ist. Wir glauben, es ist an der Zeit, etwas davon an euch weiterzureichen als Ausgleich für den Schutz, den ihr uns gebt.«
Während er ihrem Bericht gefolgt war, hatte Nashoba die Heilerin aufmerksam beobachtet. Es erschien ihm zunächst so abwegig, dass sich eine Hohepriesterin von Dakoros mit einem solchen Angebot an sein kleines archaisches Volk wenden wollte, dass er sich im Stillen fragte, was sie wirklich an der Küste für ein Vorhaben verfolgen könne. Er lauschte ihrem Bericht und schloss sie dabei in seine Aura ein, um ihre wirklichen Ziele zu erkennen. Er durchforschte ihre Worte, prüfte ihre Schlüssigkeit und fand, dass es tatsächlich ihr Wunsch war, den Inokté ihre Heilkunst anzubieten. Er war so skeptisch, dass er widerwillig zu einer Möglichkeit seiner Magie griff, die ihn selbst abschreckte und die er sonst vermied, einzusetzen. Er brach, ohne um Erlaubnis zu bitten, in ihren Geist ein und erforschte ihre Gedanken.
Als Nashoba begann, sie mit seiner Aura zu umhüllen, fühlte Solinacea die mentale Berührung deutlich, aber sie verstand, dass der Minági dem, was sie ihm berichtet hatte, mit Vorbehalt gegenüberstehen musste. Deshalb ließ sie es zu, dass er ihre Beweggründe prüfte. Sie sprach weiter, als wäre nichts geschehen. Dann jedoch spürte sie den mentalen Einbruch in ihre Gedankenwelt und verstummte sofort.
Sie richtete sich auf und blickte dem Minági ruhig in die Augen. Was er hier tat, ging eindeutig über das hinaus, was sie ihm an Einblick gewähren wollte. Andererseits wollte sie ihn jetzt auch nicht abblocken. Er kannte sie nicht und sie kam ungebeten in sein Land und wünschte die Lebensweise seines Volkes zu verändern. Sie verstand, dass er in ihr eine Gefahr sehen musste. Aber sie wollte ihm auch zeigen, dass sie sein Eindringen zur Kenntnis genommen hatte und es nicht billigte.
So saßen sie sich stumm gegenüber, die Blicke ineinander versenkt, während Nashoba über die Ehrlichkeit ihres Angebots Klarheit gewann.