Auch wenn Thyra eine begabte Hexe war und sie sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als nach ihrem Schulabschluss nach Morac zu ziehen und sich rund um die Uhr wie eine Hexe verhalten zu können, gab es noch diese Pflichten, die ihre Mutter ihr auferlegte. Sie empfand es als lästig, aber solange sie in der Menschenwelt lebte, musste sie sich auch an ihre Spielregeln halten.
Dazu gehörte in Lupor die Schulpflicht für diejenigen, die noch unter einundzwanzig waren. Zu denen gehörte Thyra. Ihr Bruder Aramis litt mit ihr, denn Shywa bat ihn, mit dem Umzug nach Morac zu warten, bis seine Schwester ihn begleiten konnte.
Die Geschwister glaubten, dass es nur der verzweifelte Versuch einer Mutter war, ihre Kinder zu halten. Sie sahen die Hoffnung in ihren Augen, dass sie ihre Meinung bis zum besagten Tag ändern würden. Aber Thyra und Aramis waren sich in nichts so sicher, wie in dieser einen Sache. Sie wollten in Morac leben, unter ihresgleichen.
Als um sieben Uhr morgens ihr Wecker ging, konnte sie kaum glauben, dass es bis zum Sommer noch so lange hin war. Die Sommerferien bedeuteten das Ende. Das Ende einer langen Wartezeit. Das Ende ihrer Schulpflicht.
Doch es war erst Herbst. Die Oktoberferien standen kurz bevor und wenigstens konnte Thyra für ganze drei Wochen die Menschenwelt verlassen und ihre Freunde wiedersehen.
Nun aber dröhnte das Klingeln des Weckers in ihren Ohren und ermahnte sie aufzustehen, um in die Schule zu gehen. Erinnerte sie daran, dass sie Dinge lernen musste, die sie in Morac nicht mehr bräuchte.
Thyra seufzte, blieb einen Moment auf der Bettkannte sitzen, um sich zu sammeln und war froh, eine Hexe zu sein. Der Vorteil daran bestand vor allem in einer Sache. Man konnte viele Dinge wesentlich schneller erledigen. Dazu zählten auch das Anziehen von Kleidung und das Richten der Frisur.
Nachdem sie aus der Dusche trat, starrte sie in den Spiegel und sah, dass ihr schwarzes Haar wild von ihrem Kopf abstand. Sogleich zauberte sie es gepflegt glatt und zwinkerte ihrem Spiegelbild zufrieden zu.
Zu oft hatte sie sich daran gestört, dass ihr langes, lockiges Haar den Erzählungen und Filmen über Hexen in dieser Welt so sehr entsprach. In ihren Augen war es ein Klischee, denn nicht alle Hexen sahen so aus. Da sie sich selber so sehr daran störte, passte sie sich an. In ihrem Aussehen, wie auch in ihrem Verhalten.
Das Gleiche hatten sie und ihr Bruder auch mit dem Haus gemacht. Äußerlich, auch bei einem Blick durch die Fenster, wirkte es wie ein ganz normales Vorstadthaus, aber sobald man es betrat, wurde einem klar, dass man von Magie umgeben war.
Der Fußboden bestand aus knarrenden Dielen, die Treppe zur oberen Etage war morsch. Folgte man den Stufen, konnte man eine ganze Ahnengalerie an der Wand entdecken. Auf dutzenden Fotos waren Verwandte und Freunde abgebildet.
Thyra eilte die Stufen hinab, die bei jedem Schritt knarzten. In der Küche umarmte sie ihre Mutter und ihren Bruder und anschließend knuddelte sie auch Jaromir, der es über sich ergehen ließ, weil er zu höflich war, um sich zu beschweren.
„Guten Morgen“, erwiderte er freundlich und reichte ihr das Frühstück für die Schule.
„Liebes …“ Shywa wandte sich an ihre Tochter und lächelte. „Bleibt es bei dem Abendessen?“
„Ja“, antwortete Thyra. „Wir haben vorher noch diese Sache zu erledigen, aber danach kommen wir, versprochen.“
„Dass du mir nur gut auf sie aufpasst.“
Ihre Mutter sprach natürlich von den Jägern. Sie machte sich keine Sorgen um ihre Tochter. Sie wusste, dass Thyra auf sich achten konnte. Aber sie wusste auch, dass jede Malefica eine Gefahr bedeutete und daher sorgte sie sich um das Wohlergehen der Menschen, die leicht zu verletzen waren. Auch sie hatte die Jäger im Laufe des letzten Jahres in ihr Herz geschlossen.
„Bist du schon gespannt?“
Aramis warf die Frage so beiläufig in den Raum, dass Thyra einen Moment überlegen musste, wovon er sprach.
„Auf Tristan?“, hakte sie nach und ihr Bruder nickte zustimmend. „Er weiß vermutlich gar nicht mehr, wer ich bin. Er war so lange weg, aber es wird ihn vermutlich schwer erwischen, wenn er von … mir erfährt.“
Shywa setzte sich grinsend zu Aramis an den alten Holztisch und hakte ihre Finger ineinander. Aiden betrat den Raum und er war es, der das Thema auffing und seiner Stieftochter einen interessierten, aber verwirrten Blick zuwarf.
„Wer genau ist denn Tristan?“
„Er ist seit der Grundschule in meine Klasse gegangen“, wies sie ihn darauf hin. „Du kennst ihn. Groß, sportlich, dunkle Haare und typisch Mensch. Mama hat immer gesagt, dass aus ihm mal ein stattlicher, junger Mann wird.“
Thyra lächelte verlegen. In Wahrheit fand sie das auch, schon immer. Sie kannte Tristan ihr halbes Leben, wenn man es wirklich so bezeichnen konnte, denn sie hatten nie viel miteinander geredet.
Sie hatte ihn aber aus einiger Entfernung immer heimlich beobachtet und ihn angehimmelt. Tristan war ein gutaussehender Junge gewesen und sie hatte sein gutes Wesen schon früh erkannt.
Die Tatsache, dass sie heimlich in Tristan verknallt gewesen war, brachte ihre Mutter in diesem Augenblick zum Grinsen. Shywa wusste sehr wohl, dass ihre Tochter, schon seit der Grundschule, heimlich einen Menschen anhimmelte.
„Wir werden sehen, was aus ihm geworden ist“, bemerkte Thyra schließlich und verstaute ihr Frühstück in ihrem Rucksack. „Er war die letzten Jahre bei Verwandten im Ausland, brauchte Abstand von seinem Vater und der Hexenjäger-Sache. Das hat Silas mir zumindest erzählt. Was genau hinter seinem Verschwinden steckt, das werden wir wohl nie erfahren.“
Aiden gab sich mit dem Gesagten vorerst zufrieden. Thyra wusste, dass es ihm nicht darum ging, ob Tristan ein Jäger war. Für ihren Stiefvater war Tristan einfach nur ein junger Mann, auf den er achten wollte. Schließlich liebte er sie wie eine Tochter und wollte sie beschützen.
Aramis meldete sich zu Wort. „Er weiß nicht, wer du bist. Stell‘ dich darauf ein, dass er versuchen wird, dich zu töten.“
Thyra seufzte.
„Er wird einsehen, dass er das nicht kann“, bemerkte sie leise. „Aber ja, er wird es mit Sicherheit versuchen, wenn er noch immer der Jäger ist, der damals die Stadt verlassen hat.“
Jaromir kam in kleinen Schritten auf sie zu und blickte mit seinen Kulleraugen zu ihr hoch.
„Soll ich für den Neuankömmling ein Hexengericht kochen, oder lieber etwas für Sterbliche?“
„Ich wäre mal wieder für die gute, alte Hexenküche“, schaltete Aramis sich ein.
Thyra sah ihn verblüfft an. „Isst du etwa mit uns zusammen?“
„Nein“, entgegnete er direkt. „Jaro kann mir etwas hochbringen. Du hast diese Menschen gern, aber ich fühle mich in ihrer Gegenwart nicht wohl. Es ist und bleibt gegen die Natur der Dinge, dass eine Hexenfamilie eine Gruppe von Jägern beköstigt.“
Das stimmte.
Aber die Zeiten hatten sich geändert. Der Krieg hatte sie verändert. Die Gefahr, die über Morac schwebte und auch die Gefahr der Maleficas in Lupor, brachten eine neue Ära. Sie machte aus dem Feind des Feindes einen Freund.
In der Schule ging Thyra den Hexenjägern jedoch an diesem Tag aus dem Weg, als sie Tristan entdeckte. Wie damals schon, hielt sie sich in einiger Entfernung zu ihm auf und beobachtete ihn. Sie wollte herausfinden, ob er sich verändert hatte.
Äußerlich hatte er das. Tristan wirkte älter und reifer. Er sah noch immer unverschämt gut aus und Thyra fühlte sich gleich wieder zu ihm hingezogen.
Es fühlte sich so an, als wäre er nie fort gewesen. Sie konnte erkennen, dass seine Abwesenheit seiner Freundschaft zu den anderen keinerlei Schaden zugefügt hatte. Finley hieß seinen besten Freund Willkommen und wich ihm keinen Meter mehr von der Seite.
Die Freude über Tristans Rückkehr war augenscheinlich sehr groß, bei allen Jägern. Thyra belächelte es, aber in Gedanken bereitete sie sich bereits auf den Abend vor, der vor ihnen allen lag.
Der Versuch, Tristan zu meiden, funktionierte bis zum Läuten der Schulglocke, am Ende des Unterrichtstages, ziemlich gut. Als Thyra allerdings damit beschäftigt war, ihre Tasche in menschlicher Manier einzuräumen, entschied sich das Schicksal einfach um.
Tristan schien offenbar daran interessiert zu sein, das Gespräch mit ihr zu suchen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann er das zuvor je freiwillig getan hatte. Er steuerte geradewegs auf ihren Tisch zu, zog sich einen Stuhl vom Sitznachbarn heran, setzte sich verkehrt herum darauf und legte die Arme auf die Rückenlehne.
„Die kleine Thyra.“ Seine Stimme klang stark und selbstbewusst. Sie erwiderte bloß ein sanftes Lächeln. „Du hast dich kaum verändert.“
Sein Blick durchbohrte sie und sie bemühte sich, ihm standzuhalten. Seine grünen Augen waren auf sie gerichtet und strahlten Freundlichkeit aus.
„Es sind einige Jahre vergangen“, entgegnete sie ebenso höflich. „Aber ich kann nicht behaupten, dass ich mitbekommen habe, dass du mich heute genug beachtet hättest, um eine derartige Feststellung treffen zu können.“
Tristan lächelte. „Ich habe dich scheinbar schon immer mehr im Blick gehabt, als du weißt.“
Thyra konnte nicht leugnen, dass diese Aussage sie überraschte. Sie wusste nicht, dass sie Tristan jemals aufgefallen war.
„Was hast du so getrieben in den letzten Jahren?“, erkundigte er sich.
Sie hängte sich den Gurt ihrer Tasche über die Schulter, stand auf und verließ den Klassenraum. Tristan folgte ihr.
„Es lohnt sich kaum, die Dinge hier und jetzt zu erwähnen“, wich sie ihm aus. „Ich war hier. Und wo warst du?“
„Auf der Flucht vor meinem Vater“, entgegnete er prompt. „Und vor dem Leben hier.“
„Du bist wieder da.“ Thyra schlenderte neben ihm durch den Gang und hinaus auf den Schulhof. „Was ist passiert, dass du deine Flucht aufgegeben hast?“
Tristan hielt abrupt inne und Thyra drehte sich zu ihm. Sie sah ihm interessiert in die Augen. Er wich ihrem Blick nicht aus, starrte sie geradewegs an. Sie schmolz beinahe dahin, weil sie von seiner Erscheinung so überwältigt war. Er war tatsächlich stattlich, ganz wie ihre Mutter es vorausgesagt hatte. Er wirkte stark und selbstsicher.
„Ich habe nun eingesehen, dass ich wohl einfach hierher gehöre“, antwortete er und griff nach ihrer Tasche.
Sie wich ein Stück zurück, als ihr bewusst wurde, dass der Jäger in ihm noch vorhanden war. Er hatte sich letztlich für den Weg entschieden, den sein Vater ihm aufgezeigt hatte. Es ehrte ihn. Immerhin wollte er die Welt ein kleines Stückchen besser machen. Dieser Gedanke trieb seinen Vater an, also vermutlich auch ihn.
Tristan ignorierte ihr scheues Verhalten und zog ihren Rucksack an sich. Er schwang ihn sich lässig über die Schulter und lächelte sie an. „Kann ich dich nach Hause bringen?“
Die Frage erübrigte sich von selbst, als er sich zielstrebig und mit ihrer Tasche bepackt, auf den Weg machte. Ihr blieb nur die Möglichkeit, ihm zu folgen.
„Es muss schön für dich sein, dass du nun weißt, wo du hingehörst“, setzte sie zögernd das Gespräch fort.
Noch immer konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären.
„Freiwillig bin ich natürlich nicht hier.“ Tristan schüttelte leicht den Kopf. „Doch mich hält hier etwas.“
Thyra war durchaus bewusst, wovon er sprach. Dennoch lenkte sie davon ab und lächelte ihn entschlossen an.
„Finley hat sich über deine Rückkehr sehr gefreut“, wies sie ihn darauf hin.
Tristan warf ihr einen freudigen Blick zu und nickte schließlich.
„Es ist schön, sie alle wiederzusehen“, offenbarte er sich ihr. „Finley ist mein engster Freund und mir kam zu Ohren, dass ich ihn nun teilen muss. Mit dir.“
Thyra lächelte verlegen.
„Es tut mir leid.“ Die Entschuldigung enthielt keine Bedeutung. Es war eine Phrase. „Ich würde ihn dir niemals wegnehmen.“
Sie versuchte, zu scherzen und Tristan stimmte ihr mit einem offenen Lachen zu. Sie kamen vor Thyras Haus zum Stehen und er hielt ihr ihren Rucksack entgegen.
„Das würdest du auch nicht schaffen. Aber das spielt auch keine Rolle für mich. Mir geht es um etwas anderes.“
„So und um was?“ Thyra genoss das lockere Gespräch mit ihm sehr.
Es ließ sie hoffen, dass er ihr wahres Ich gelassen aufnehmen würde, wenn er es erfuhr.
„Ich hatte nun endlich einen vernünftigen Grund, dich einmal anzusprechen.“ Es klang wie ein Geständnis und Thyra bemühte sich sehr, dass er ihre Überraschung nicht bemerkte. Sie hoffte außerdem, dass ihr Lächeln nicht verriet, wie sehr sie sich über diese Worte freute. „Es ist doch leichter die Freundin meines besten Freundes anzusprechen, als das fremde und schweigsame Mädchen, das mir schon vor Jahren gut gefallen hat.“
Tristan wirkte nicht wirklich wie ein Mann, der im Umgang mit Frauen unsicher war. Er versuchte offenbar nur, einen Weg zu finden, sich langsam an das Thema heranzutasten. Thyra glaubte nicht eine Sekunde, dass er ein Problem damit gehabt hätte, es anders zur Sprache zu bringen.
Sie vermied den Blickkontakt. Nicht, weil sie schüchtern war oder ihr das Gesagte unangenehm war. Sie fühlte sich in diesem Augenblick unbehaglich, weil sie glaubte, mit jedem Wort zu lügen, das sie aussprach.
Tristan wusste nichts über ihre Herkunft. Solange das der Fall war, konnte sie seinen Worten keinerlei Bedeutung beimessen.
„Die Sache, wegen der du zurückgekommen bist …“ Sie nahm ihre Tasche entgegen und ließ den Blick gesenkt. „Ist sie denn so wichtig?“
Tristan seufzte hörbar. „Du hast ja keine Ahnung.“
Thyra hob den Blick. Er hatte ja keine Ahnung. Doch schon bald sollte sich das ändern.