„Was ist denn hier los?“, fragt Marvin der Grauwolf und sieht verwundert über das Chaos.
Meine Wenigkeit, Marvin der Erzähler, steckt im Moment im Körper von Samstag Asparagin und hämmert zwei Balken zusammen. Als der Grauwolf auftritt und ich den Kopf wende, trifft der Hammer mit der in solchen Situationen üblichen Zielstrebigkeit auf Sams Daumen. Während eine Welle von Schmerz durch die Hand den Menschen jagt, verlasse ich meinen vorübergehenden Wirtskörper und schwinge mich auf die luftige Riege der personalen Erzählsicht.
„Große Umbaumaßnahme“, erklärt Samstag dem Wolf nach einem ausgiebigen Fluch und steckt sich den schmerzenden Daumen in den Mund. „Der Herr Erzähler plant gerade alles um!“
„Was?“, fragt der Grauwolf und blickt über die mühsam verteidigte Grafschaft. Zugegeben, diese Grafschaft sah niemals besonders beeindruckend aus, doch inzwischen wurden die Zelte wieder abgerissen und überall zwischen den sehr bunt zusammengewürfelten Gebäuden liegen Holzbalken und Planen herum und arbeiten unterschiedliche Figuren an den verschiedensten Bauwerken. Der Wolf blinzelt. Irgendwie … scheint die Aussicht hier zu flimmern, zwei Bilder überlagern einander wie Blaupausen.
„Ja, das ist auch furchtbar. Ich habe schon Kopfschmerzen“, sagt Sam, als er bemerkt, wie der Wolf die Pfoten über die Augen legt. „Das sind die beiden Profile auf Fanfiktion.de und Belletristica, die sich hier überschneiden. Wenn du immer ein Auge zukneifst, wird es leichter.“
Der Wolf kneift erst das rechte, dann das linke Auge zu. Sam seufzt. „Ein Auge müsstest du schon öffnen.“
„Oh.“
Durch das linke Auge blickend sieht Marvin eine Unzahl alter, teilweise verwitterter Bauten auf dem Berggipfel stehen. Durch das rechte Auge betrachtet verschwinden viele der kleineren Gebäude und auch der weitläufige Palast der ‚Reise durch Phantasma‘. Alle Häuser auf der rechten Seite wirken neu und geradezu unbewohnt. In beiden Welten werden Fassaden gestrichen oder ausgebessert und teilweise noch Wände hochgezogen oder Zimmer angebaut.
„Huch, die sind neu!“ Der Wolf verweist auf mehrere Gebäude, die nur in der Rechtsaugenwelt zu sehen sind.
„Rechts, das ist Belletristica, das neuere Profil unseres Erzählers.“ Sam hat endlich den Daumen aus dem Mund genommen und betrachtet die beeindruckende Schwellung. „Ein paar Geschichten gibt es nur hier, sozusagen als Ausgleich für die ganzen Gedichte und Kurzgeschichten, die nur bei Fanfiktion sind.“
Bei den Gedichten muss es sich um die unzähligen kleinen Hüttchen handeln, die durch das linke Auge zu sehen sind.
Sam streckt sich. „Wir arbeiten jetzt daran, beide Profile so gut wie möglich in Einklang zu bringen, damit dieser schreckliche Wackelbildeffekt aufhört.“
Der Wolf bemerkt ein großes Segelschiff am Abhang, an dem mehrere skurrile Gestalten herumhämmern. Das Schiff ist in beiden Versionen zu sehen, doch es ist keines der üblichen Häuser, in denen die Figuren einzelner Geschichten für gewöhnlich wohnen.
„Die da hinten kenne ich noch gar nicht. Was will der Erzähler mit einem Schiff auf einem Berg?!“
„Oh, das ist die MS ‚Schattenmann‘, sein ganzer Stolz“, erklärt Sam mit säuerlichem Gesichtsausdruck. „Die soll im Februar starten, und zwar per KDP- und BoD-Luftantrieb.“
„Das heißt … Veröffentlichung?!“, stammelt Marvin.
Sam nickt.
„Aber … was ist mit uns? Wir waren ja wohl zuerst da! Und was ist mit Maurizo und den Goldtieren? Die Geschichte ist seit Jahren fertig!“
„Du kennst ihn doch“, seufzt Sam. „Vermutlich will er die Geschichte um Maurizo noch ein paar Mal neu schreiben.“
Der Grauwolf schüttelt entgeistert den Kopf. „Das würde doch aber auch mit weniger Chaos gehen, oder?“
„Das Chaos sind die ganzen Kapitel, die der Herr Erzähler nicht rechtzeitig fertig gekriegt hat“, mischt sich jemand in das Gespräch ein.
Als Marvin sich umdreht, sieht er eine hochgewachsene, schlanke und schwarzhaarige Elfe vor sich, deren Frisur eine kahlrasierte Kopfhälfte, einen kurzen Irokesenschnitt und eine geflochtene, blau gefärbte Strähne mit langen, seidigen Strähnen kombiniert.
„Hallo, Caryellê!“, grüßt der Wolf höflich, worauf die Elfe schnaubt, die Arme vor der Brust verschränkt und weiterläuft.
„Eine Menge Geschichten sind liegen geblieben“, raunt Sam verschwörerisch und sieht der Elfe hinterher. „Sogar ‚Niemandsmond‘, obwohl es heißt, da läge es an der Zeichnerin, die nicht rechtzeitig hinterher gekommen ist. Jetzt sind die Bilder zwar da, aber die Geschichte wurde trotzdem runtergestuft und kriegt jetzt nur noch alle zwei Wochen Updates. ‚Enderdragon’s Song‘ auch.“ Sam nickt in Richtung eines großen, schwarz-purpurnen Gebäude mit einem ziemlich auffälligen ‚Minecraft‘-Logo über der Tür, das zu zwei Fünfteln fertig ist. „Die betroffenen Figuren sind stinksauer!“
„Dann wechseln sich die beiden Geschichten in Zukunft ab? Aber sie sollten froh sein, so kriegen sie noch längere Zeit Updates!“
„Das habe ich ihnen auch erzählt.“ Sam hämmert ein wenig weiter und wirft einen bösen Blick nach oben, wo ich als unsichtbarer Erzähler vor mich hin schwebe. „Sie sind trotzdem nicht begeistert, vor allem die aus dem Drachenlied nicht, weil eigentlich genug Kapitel da wären. Dafür kommen zwei komplett neue Geschichten, die sich mit ‚Niemandsmond‘ und ‚Enderdragon’s Song‘ abwechseln. Da vorne.“
Der Wolf bemerkt zwei weitere Geschichtshäuser. Ein buntes Hochhaus mit einem blinkenden ‚Disney‘-Logo und ein gemütliches, strohgedecktes Holzhaus, umringt von einem Netz bisher ins Nichts führender Wege, die geplante Folgebände verraten. Allerdings … „Auf Belletristica sind beide ja schon draußen!“
„Das ist das Problem.“ Sam nickt. „Die Geschichten werden jetzt nur nachträglich bei Fanfiktion hochgebaut, aber der Erzähler zieht sie sorgfältig auf, damit sie ein paar Leser abbekommen. Vor allem die ‚Niemandsmond‘-Leute sind sauer. Sie hatten bisher ziemlich viel Erfolg und haben jetzt Angst, das alles für ein paar Emporkömmlinge zu verlieren.“
„Und immer noch kein ‚SCHATTENengel‘“, murmelt der Wolf nachdenklich und steigt über ein paar Holzbalken. „Was für ein heilloses Durcheinander! Wir haben doch sowieso schon ein Platzproblem, obwohl wir die Logik für unseren Bereich komplett abgedreht haben. Jetzt haben wir eine bald startende Veröffentlichung, lauter Baustellen und zwei Profile, die in Einklang gebracht werden müssen!“
Das, so muss ich hier einwenden, ist aber nicht meine Schuld, sondern die von Lyssa, meiner übereifrigen Fantasie.
Marvin und Sam starren in die Luft zur Erzählerposition. „Faule Ausrede!“
Ehrlich, Jungs … denkt ihr, ich könnte mir den ganzen Quatsch hier selber ausdenken?
„Da hat der Erzähler recht“, meint der Wolf nachdenklich. „Er kann ja nur mit Worten umgehen.“
Sam nickt und hämmert wieder an den Balken herum.
Das war jetzt schon etwas verletzend, mäkele ich herum, erhalte aber von meinen Figuren nicht mehr besonders viel Beachtung. Ein wenig beleidigt schwebe ich in die Höhe und lass den Blick über die riesige Baustelle schweifen.
Ich hasse Chaos. Aber diesmal ist es für einen guten Zweck, rede ich mir ein. Danach wird bestimmt alles viel ordentlicher!