Paul und sich saßen der Lehrerin gegenüber und hörten uns schweigend an, was sie über unseren Sohn zu sagen hatte.
Intelligent.
Beliebt.
Mit der beste Schüler, aber auffällig im Verhalten.
Martin störte den Unterricht, prügelte sich mit älteren Jungen im Schulhof und riskierte insbesondere gegenüber seinen männlichen Lehrern eine dicke Lippe. Im Sportunterricht war er letztens suspendiert worden. Seine Klassenlehrerin hatte zu einem Krisengespräch geladen und wir fielen aus allen Wolken. Zuhause zitierte Paul unseren Ältesten ins Wohnzimmer. Martin begriff augenblicklich, dass die Lage ernst war. Er trat die Flucht nach Vorne an. Rechtfertige sich, stritt ab und schlussendlich brüllte er seinen Vater an. Ich hielt den Atem an, als Paul ihm mit einer Ohrfeige antwortete. Noch nie war uns die Hand ausgerutscht. Für uns hatte immer außer Frage gestanden, dass wir genauso die Jungs nicht erziehen wollten. Sie sollten mit allem zu uns kommen können und nun fühlte es sich so an, als wären wir gescheitert. Martin war viel zu stolz um zu weinen, doch er rieb sich die Wange und funkelte Paul wütend an. Der atmete durch.
"Martin, das wollte ich nicht", meinte er leise.
Unser Sohn starrte ihn einfach nur an. Ich konnte Paul ansehen, dass es ihm furchtbar leid tat, aber es war nunmal geschehen. Und Martin wiederholte, was er vor knapp vier Jahren schon einmal gesagt hatte.
"Klar, Jan hättest du ja nie angerührt. Wetten?"
Mir rutschte das Glas aus der Hand, dass ich gehalten hatte. Es zersprang direkt auf dem Boden vor mir.
"Es tut mir leid, dass ich kein so Weichei wie mein Bruder bin. Aber wisst ihr was, ich pfeif drauf. Janni hier, Janni da. Ich hab die Schnauze voll", brüllte Martin los. Unbemerkt hatte Jakob das Zimmer betreten, später sagte er mir, dass er nicht hatte vorbeigehen können.
"Nun bist du ungerecht."
Alle fuhren wir herum und sahen den älteren Mann erstaunt an.
"Wirklich? Ich kann doch alles richtig machen, der Beste der Klasse, der Erste im Sport sein. Alles egal. Jan ist zu doof ein fehlerfreies Diktat abzuliefern, also bekommt er eure Aufmerksamkeit. Er heult, ihr tröstet ihn, obwohl er selbst schuld ist, dass er vom Fahrrad gefallen ist. Er mag sein Abendessen nicht, also bekommt er Pudding. Und während ich meine Hausaufgaben zu erledigen und vorzuzeigen habe, darf er einfach in diese bescheuerte Werkstatt abhauen, wo ihn Opa noch mit Spielzeug belohnt. Und ich? Ich wollte einfach nur neue Fußballschuhe haben. Dafür habe ich gelernt, wie es abgemacht war und dann kommt der blöde Theo und behauptet, ich hätte ihm ein Bein gestellt und ihr glaubt ihm!"
Martins Augen funkelten noch wilder als zuvor.
"Hat mich irgendjemand gefragt, warum ich das getan habe? Na?"
Ich zitterte. Die Sache lag nur ein paar Tage zurück. Theos Mutter war die Bürgermeisterin des Ortes. Wutentbrannt war sie bei uns auf der Matte gestanden und hatte uns von dem Vorfall erzählt. Theo hatte sich bei dem anschließenden Sturz eine Platzwunde zugezogen und wir hatten Martin damit bestraft, dass er auf die heiß ersehnten Schuhe noch würde warten müssen.
"Dann erzähl es uns", forderte Paul ihn auf. Kurz zögerte Martin, dann setzte er ein entschlossenes Gesicht auf. Er nickte und wählte seine Worte mit Bedacht. Als er dann erzählte, sah er auf den Boden.
"Theo ist ein Mistkäfer."
Ich zog scharf die Luft ein, wollte etwas erwidern, doch Jakob hob eine Hand, so schwieg ich.
"Er ärgert mit Vorliebe Mädchen und jüngere Kinder. Einfach nur, weil er böse ist. Ein paar Tage vorher hat er Sarah einfach ein paar Haare abgeschnitten. Und fragt mal Jonas, der war Zeuge, als Theo mit Steinen auf Katzen geworfen hat."
Unbehaglich ließ ich mich in einen Sessel fallen.
"Jan ist sein Lieblingsopfer auf dem Schulweg." Mir stockte der Atem. Theo ging auf die Hauptschule, die an Jans Grundschule grenzte. Er und Martin waren zusammen im Fussballverein. Sahen sich dort zweimal in der Woche zum Training und in der Kirche. Bewusst sah Martin nicht mich an, sondern seinen Vater.
"Normalerweise ist es Alex, der Jan beisteht, aber der war krank." Martin zuckte mit den Schultern. "Der ist übrigens echt klasse. Aber wie gesagt, er war an dem Tag nicht da. Theo wollte das ausnutzen und als es nicht bei harmlosen Sachen blieb, hab ich eingegriffen. Es ist doch mein Bruder."
Paul atmete durch.
"Möchtest du das konkretisieren?", fragte er. Martin schüttelte den Kopf.
"Ne, aber ich denke, dass Theo ihn in Ruhe lassen wird." Ein kleines Grinsen war kurz zu sehen, dann hatte er sich wieder im Griff.
"Und in der Schule, was soll das?", hörte ich Jakob fragen.
"Ihr wisst nicht, wie das ist." maulte Martin.
"Verdammt, dann erkläre es uns", entfuhr es Paul. Es blieb eine Weile still. Am Liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen, aber ich ahnte, dass er das nicht zulassen würde. Wir hatten ihn bestraft. Bestraft dafür, dass er seinen kleinen Bruder beschützt und verteidigt hatte. Und Martin hatte es so stehen lassen, sich erst jetzt erklärt, obwohl er sich furchtbar ungerecht behandelt gefühlt hatte.
"Im Verein gehöre ich zu den Großen. Darf mit den Älteren mitmachen. Immer schon. Und in der Schule fühle ich mich einfach falsch."
Traurig hob Martin seinen Kopf.
"Hol deine Jacke", sagte Paul mit einem Mal. Überrascht sah ich ihn an. Martin zögerte, dann ging er langsam aus dem Zimmer. Mit einem schnellen Schritt war Paul bei mir und gab mir einen Kuss. "Ich regle das, vertrau mir", bat er. Ich erwiderte den Kuss und lehnte mich an meinen Mann. Diesen Fels. "Ich mach das wieder gut", flüsterte er.
Nie habe ich erfahren, was genau Paul mit Martin auf diesem langen Spaziergang besprochen hat. Aber ihr Verhältnis war von da an anders. Augenhöhe. Respekt. Und Martin schien sich zu fangen. Wir blieben nah an ihm dran, auch meine Mutter suchte gezielt den Dialog mit ihm. Wir sprachen auch mit Jan. Wollten wissen, warum er uns nichts von den Angriffen Theos erzählt hatte. Wir suchten auch ein klärendes Gespräch mit der Bürgermeisterin und ihrem Mann, aber das erwies sich als nutzlos.
Bei Jan kamen wir kaum weiter. An schlechten Tagen endeten die Hausaufgaben nach wie vor in einem Tränenmeer, aber hier und da war es auf einmal Martin, der Jan etwas erklärte. Und ihm hörte der tatsächlich zu. Lange stand das Halbjahr auf der Kippe. Auch hier führten wir Krisengespräche. Wir mussten Entscheidungen treffen. An und für sich hielten es Jans Lehrer für besser, er würde einen zweiten Anlauf nehmen. Doch wir sahen unseren Sohn an und hatten dabei kein gutes Gefühl. Ihn von Alex und dem Rest der Klasse zu trennen, erschien uns falsch. Ihm ausgerechnet jetzt das Gefühl zu geben, dass seine Anstrengungen umsonst gewesen waren? Wir saßen viel mit seiner Lehrerin zusammen. Überlegten, was wir tun sollten. Eine andere Schule? Hier auf dem Land gab es nur zwei Grundschulen. Was würde es ändern, würde er 10 Kilometer entfernt die Schulbank drücken?
Hier kannten ihn die Lehrer. Alex war an seiner Seite. Die Wege waren kurz. Danach, ja, für die Zeit nach der Grundschule mussten wir uns frühzeitig Gedanken machen. Es gab noch eine Förderschule, aber davon wollte insbesondere Paul nichts wissen. Ihn beschäftigte, dass es von dort nur noch auf die auf die Hauptschule gehen konnte und dies war aus seiner Sicht keine Option für Jan. Wir setzten uns durch. Jans Klassenlehrerin trug unsere Entscheidung mit. Ob es richtig war? Darauf weiß ich tatsächlich bis heute keine Antwort.
Luigi sah uns immer an der Nasenspitze an, wenn wir unter Stress standen. Oft tischte er dann etwas besonderes auf und zauberte Leckerbissen abseits der Karte hervor. An diesem Freitag platzierte er ungefragt einen Teller mit Schokoladenmousse vor mir. Für Paul hatte er einen besonderen Grappa zur Hand und als das Lokal beinahe leer war, setzte er sich kurz zu uns. Luigi war Mitte 50, hatte drei erwachsene Söhne, die es vorgezogen hatten, andere Berufe zu ergreifen. Zudem lebten sie weit weg, was ihn und seine Frau sehr betrübte. Natürlich kannte er unsere Söhne. Ab und an kamen wir auch mit unseren Eltern und den Kindern.Nur nie Freitags. Ungewohnt ernst sah er uns an. "Passt auf euch auf", riet er, als er die Rechnung abkassierte.
Müde lag ich in Pauls Armen. Wir hatten uns geliebt und die Lust war gerade erst verebbt. Draußen stand der Mond hell und voll am Himmel. Wir schwiegen, genossen die Nähe und Ruhe. Wie sehr ich diesen Mann liebte. Wie müde mich der Alltag machte. Paul erzählte mir flüsternd, dass er einen großen Auftrag abgesagt hatte. Als ich wissen wollte warum, lachte er leise. Dabei spielte er mit einer meiner Haarsträhnen. Dann zeichnete sein Finger mein Gesicht nach.
"Weil ich in den nächsten fünf Jahren dann viel unterwegs gewesen wäre. Ich glaube, das wäre nicht gut."
Ich schmiegte mich an ihn. Meine Hand kam auf seiner Brust zum Liegen und ich atmete den vertrauten Duft ein. Er hatte wegen und für uns verzichtet.