Der Tod tappte erneut auf leisen Sohlen heran, nur diesmal traf es nicht unsere Familie. Im Rückblick bin ich immer noch erschüttert, wenn ich an das Unglück denke, das drei Familien das Liebste nahm - ihre Töchter.
Zwei leben heute noch in der ländlichen Gemeinde und es muss auch heute, nach all den Jahren, noch furchtbar sein. Ein Kind zu verlieren ist grausam. Kaum zu ertragen. Die Tragik hinter der Geschichte war schon damals unfassbar und auch heute legt sich ein grauer Schleier um mein Herz, sobald ich nur daran denke. Ob ich diesen See hasse? Hass ist ja so ein hartes Wort. Mir wäre lieber, er wäre irgendwann einfach zugeschüttet worden. Schon immer zog er Jugendliche magisch an. Das alte Bootshaus war ein beliebter Treffpunkt. Es wurde gegrillt, getrunken und auch dort übernachtet. Ursel hatte früher selbst dort gefeiert. Das Schwimmen war eigentlich nur in der Nähe des Bootsstegs gestattet, aber es wurde ja weder kontrolliert, noch beaufsichtigt. Martin hatte uns versprochen, dort besonders vorsichtig zu sein. Lieber sah ich es, wenn er mit uns ins Freibad ging, aber logischerweise wollte er lieber mit seinen Freunden unterwegs sein. Ein absolutes Verbot hatten wir nie ausgesprochen, hätte es doch sowieso nichts bewirkt.
Wir hörten von dem Badeunfall, als wir noch auf Texel waren. Sanders riefen uns an. Wir kannten die beiden verunglückten Mädchen nicht. Eines war noch vor Ort verstorben, das Andere kämpfte in der Uniklinik um sein Leben. Doch die Sauerstoffversorgung war zu lange unterbrochen gewesen, sie starb am folgenden Tag. Ein drittes Mädchen war dabei gewesen und körperlich unverletzt. Sie stand allerdings unter einem schweren Schock. Als wir wenige Tage später nach Hause kamen, lag die ganze Nachbarschaft in einer Schockstarre. Die Beerdigungen fanden noch vor dem Schuljahresbeginn statt und wir hatten uns lange mit Martin und Jan zusammengesetzt. Überall im Dorf wurde über das Unglück gesprochen, man kam nicht daran vorbei. Unsere Jungs reagierten, wie immer, vollkommen unterschiedlich.
Martin war vollkommen entsetzt über das, was passiert war. Ein Fussballfreund war mit dem Mädchen befreundet, das überlebt hatte. Er wusste zu berichten, dass sie sich furchtbare Vorwürfe machte. Er sprach viel in der Zeit mit uns und meldete sich, in seinem praktischen Sinn, bei einem Rettungsschwimmerkurs an. In diesem Punkt kam er völlig auf Paul. Und Martin hatte Geduld mit mir, als ich ein wenig zu fürsorglich wurde und am Liebsten über jeden Schritt Bescheid wusste. Jan hatte im Gegenzug kaum eine Reaktion gezeigt. Die Mädchen waren ein knappes Jahr älter als er gewesen, ich hatte mit vielen Fragen des 13jährigen gerechnet. Aber sie blieben aus. Mir behagte es schon damals nicht. Daher versuchte ich, ihn besonders im Auge zu behalten. Fragte ihn regelmäßig, ob er darüber reden wollte. Über den Unfall, den Tod, über Jakob oder grundsätzlich. Aber Jan sperrte mich aus seiner Gedankenwelt aus.
Ich legte in den nächsten Wochen meine Vorsicht nur zögerlich ab. Es erleichterte mich, dass sich das Wetter deutlich verschlechterte und es im Dauerregen auch Martins Clique nicht mehr zum Bootshaus zog. Meine Ahnung sagte mir, dass noch etwas lauerte und ich sollte Recht behalten.
An Allerheiligen stand das Leben still.
In allen Dörfern der kleinen Gemeinde herrschte tiefe Betroffenheit. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Am See, diesem Ort der Trauer, war eine Leiche gefunden worden. Am Abend wusste jeder im Umkreis von 20 Kilometern, dass sich die Freundin der beiden verunfallten Mädchen am See das Leben genommen hatte. Selbstmord.
Nein, Suizid, so der korrekte Begriff, wie ich heute weiß.
Sanders waren mit ihren Söhnen bei uns, wir versuchten es den Jungen gemeinsam zu erklären. Mir fehlten die Worte. Und ich war Claudia unglaublich dankbar, dass sie und Paul es übernahmen. Ulli lehnte am Fenster und betrachtete Alex und den etwas jüngeren Oliver. Die beiden Kleineren spielten derweil vor dem Kamin, mit ihren vier und sieben Jahren waren sie noch zu jung. Jan saß neben seinem besten Freund und hielt seinen Blick auf dem Notenblatt, das er noch von der Übungsstunde vor sich liegen hatte. Martin fuhr sich mit beiden Händen durch das halblange Haar. In wenigen Wochen würde er 18 Jahre alt werden. Er schüttelte seinen Kopf. Er konnte nicht begreifen, warum überhaupt jemand diesen Weg wählte. Sofort schimpfte er und bedauerte die Eltern.
"Sie kann nichts dafür, das haben doch alle gesagt. Sie war zu weit weg und hätte nichts tun können. Und dafür wirft sie ihr eigenes Leben weg?", fragte er in die Runde.
Paul zuckte mit den Schultern.
"Was genau in ihr vorging, das werden wir nie erfahren. Aber vermutlich war sie sehr verzweifelt", antwortete er. Alex´ Augen ruhten auf seiner Mutter. Dann wanderte sein Blick zu mir.
"Aber ihre Mama hätte sie doch bestimmt getröstet und ihr geholfen", meinte er leise. Neben mir seufzte Claudia tief auf.
"Daher ist es immer ganz wichtig, dass ihr zu uns kommt, wenn euch etwas bedrückt oder beschäftigt. Es gibt für alle eine Lösung", antwortete sie, und Paul nickte dazu.
"Immer. Und manchmal hilft es ja, wenn man sich die Sorgen einfach mal von der Seele redet", ergänzte ich. Dann sah er zu Jan, der mit den Fingern die Linien des Notenblatts nachzog.
"Und wenn das alleine nicht hilft, dann können Mama oder ich schauen, wie man ein Problem lösen kann."
Paul war meinem Blick bei seinen Worten gefolgt. Ähnliches ließen Claudia und Ulli ihre Kinder wissen. Sie blieben noch eine Weile und verabschiedeten sich erst, als es Zeit für das Abendbrot wurde.
Zusammen mit Jan, der wenig gesagt hatte, deckte ich den Tisch. Wir wollten kalt essen und ich reichte meinem Sohn Wurst und Käse aus dem Kühlschrank. Wortlos kam er meiner Bitte nach, ein bisschen Salatgurke zu schneiden, während ich Tee aufsetzte.
Martin und Paul kamen in die Küche, sie hatten draußen Sunny versorgt und die Gatter überprüft. Die beiden letzten Pensionspferde würde ich später nochmal versorgen.
"Vor allem bringt es die anderen Beiden nicht zurück. Daher war es nur dumm, was sie getan hat", urteilte Martin, als er sich auf seinen Stuhl fallen ließ.
"Vor allem ist es traurig, insbesondere für die Eltern", wies ich ihn milde zurecht. Die Mutter, so hörte man, war bei der Todesnachricht ihrer einzigen Tochter zusammengebrochen. Jan brachte die Schüssel an den Tisch und schob sich auf die Eckbank.
"Wer tot ist, kommt nicht zurück", ließ er leise verlauten. Mit einem sehr eindringlichen Blick sah er mich an. Seine Stimme war fest und ruhig gewesen.
"Nie mehr", schob er nach.
"Nein", antwortete ich
"Aber vielleicht tut es dann nicht mehr weh." Jans Satz riss mich aus meinen Gedanken. Paul warf mir einen Seitenblick zu.
"Wie meinst du das, Schatz?", fragte ich behutsam nach. Mir schlug mein Herz bis zum Hals.
Jan fuhr sich mit einer Faust über den Brustkorb und murmelte so leise, dass wir es kaum verstehen konnten. "Da drinnen eben." Ich hielt die Luft an.
"Was tut dir weh, Jan?", fragte mein Mann vorsichtig. Er war neben die Bank getreten und vor Jan in die Hocke gegangen. Jan biss sich auf die Lippe, als hätte er sich verraten.
"Möchtest du darüber reden?", fragte ich nach. Ehe ich reagieren konnte, fegte Jan die Schüssel und die Teekanne mit einer einzigen schnellen Bewegung vom Tisch. Dabei war er aufgesprungen und funkelte Paul an.
"Nein!", rief er nur und versuchte sich an seinem Vater vorbei zu drängen.
"Langsam", versuchte es Paul mit Ruhe. Er versuchte, den Jungen in seine Arme zu ziehen.
"Lass mich los!", wehrte sich Jan in dessen Griff. Er wand sich, doch gegen Pauls Kraft kam er nicht an. "Lass mich los!", rief er nochmal, aber er wehrte sich schon nicht mehr ganz so heftig. Er trommelte mit seine Fäusten gegen Pauls Brustkorb, der hielt ihn unbeirrt fest. Fuhr mit der rechten Hand über Jans Rücken und zog ihn etwas näher an sich. Die Teekanne lag zerbrochen nur wenige Millimeter neben ihm, der heiße Tee hatte ihn wie ein Wunder verfehlt. Stumm hatte Martin einen Lappen geholt und stand unschlüssig neben mir.
Verbissen kniff Jan seinen Mund und die Augen zusammen, ein letztes Aufbäumen, dann gab er auf. Er fiel regelrecht in sich zusammen. Paul hatte ihn fest im Griff und ging auf die Knie, dabei strich er unserem Sohn über den Kopf.
"Es ist gut", flüsterte Paul leise und nun schluchzte Jan auf.
Während er sein Gesicht an Pauls Schulter vergrub und endlich die Tränen weinte, auf die wir fast ein Jahr gewartet hatten, stand Paul ganz langsam auf. Er machte nur die zwei Schritte zum Sessel und behielt Jan dabei fest in der Umarmung. Seine Hose war nass vom Tee und offenbar hatte Paul doch in eine Scherbe gegriffen. Stumm bat er nach einem Tuch und wickelte es sich um den Daumen. Unseren Sohn schüttelte es durch und mich traf sein Kummer tief. Es dauerte, bis sich Jan zumindest so weit beruhigt, dass Paul ihn ins Wohnzimmer bringen konnte. Mir war der Appetit vergangen und Martin hatte schon begonnen, alles wieder abzuräumen. Nur frischen Tee hatte ich aufgesetzt und die Scherben zusammen gekehrt. Auch Martin wollte nichts essen. Er nahm sich eine Flasche Wasser und verschwand in seinem Zimmer.
Leise betrat ich das Wohnzimmer. Paul hatte eine Decke über Jan ausgebreitet und stand am Kamin. Ich lehnte mich an ihn. Ich kann mich gut an meine Ängste an diesem Abend erinnern. Flüsternd unterhielten wir uns, während sich unser Sohn unruhig im Halbschlaf bewegte.
"Was machen wir nur mit ihm?", fragte ich nach einer ganzen Weile. Vorsichtig hatte ich mich auf die Lehne des Sofas gesetzt und fuhr dem Jungen durch die Haare, fühlte nach seiner Stirn. Er murmelte etwas, was ich nicht verstehen konnte. Paul seufzte und schlug vor, dass ich gleich am nächsten Tag mit ihm zum Arzt sollte.
"Aber was soll der machen?", fragte ich ihn hilflos. Im gleichen Moment fuhr Jan zusammen und schreckte hoch. Seine Augen waren weit geöffnet und er atmete hektisch.
"Komm her, Schatz", forderte ich ihn auf. Er sah mich erst etwas erstaunt, dann skeptisch an.
"Erzähl es mir, bitte." Meine Bitte war beinahe ein Flehen. Jan schüttelte den Kopf, rutschte aber näher zu mir. Anstandslos, das erste Mal seit Monaten, ließ er sich dann auch von mir in den Arm nehmen. Schmiegte sich fest an mich und begann lautlos zu weinen.
Nachdem er sich auch zwei Stunden später nicht beruhigt hatte, riefen wir unseren Hausarzt an. Erst vor wenigen Wochen war ich auch mit Jan vom Kinderarzt zu ihm gewechselt. Paul hatte den Jungen längst nach oben getragen und in sein Bett gebracht, aber Jan war auch dort nicht zur Ruhe gekommen. Dr. Niehues hatte ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt und uns gebeten, mit Jan in die Sprechstunde zu kommen. Besorgt hatte er uns zugehört und uns aber auch beruhigt. Manche Kinder und junge Erwachsene machten ihre Probleme häufig mit sich selbst aus, weil sie nicht nach Hilfe fragen wollten. Die Pubertät, hatte er gemeint. Wichtig war aus seiner Sicht, dass Jan etwas fand und nutzte, was ihn ablenken würde und ihm Freude bereitete. Mir fiel sofort das Singen ein. Nach dem anstrengenden letzten Schuljahr hatten es die Lehrer mit ihm langsam angehen lassen. Schließlich hatte er zahlreiche neue Fächer und mit den musischen Zusatzstunden hatte man abwarten wollen, wie Jan mit dem Stoff klar kam.
Ich saß in dieser Nacht noch lange bei Jan im Zimmer. Legte mich irgendwann zu ihm, weil er dann ruhiger war. Über seinem Bett leuchteten Die Sterne, die er zusammen mit Jakob vor einigen Jahren an die Decke gebastelt hatte. Unbedingt hatte seinerzeit diesen Sternenhimmel haben wollen und mein Schwiegervater hatte ihm diesen Herzenswunsch nur zu gerne erfüllt. Gleich morgen früh würde ich auch ein Gespräch mit Herrn Lüders suchen. Wir hatten Jan auf diese Schule geschickt, damit er seiner Leidenschaft gezielt nachgehen konnte, sie zu seinem Schulalltag gehörte. Er brauchte diese Zeitfenster, dringender denn je. Irgendwo musste er hin mit seinen Gefühlen, die sich ganz offenbar aufgestaut hatten. Irgendwie hatte ich da schon im Gespür, dass es ihm beim Singen leichter fallen würde.
Grundsätzlich war meine Idee nicht falsch. Der Gesang und auch das Klavierspielen waren durchaus therapeutische Maßnahmen. Aber wir hätten Sorge dafür tragen müssen, dass Jan redete. Wieder ließen wir ihm durchgehen, dass er sich in sein Schneckenhäuschen zurück zog. Weil wir ihn nicht quälen wollten. Weil wir ihn schonen wollten. Wieder einmal. Mitten in der Nacht spürte ich dann, wie Jan nochmal meine Nähe suchte, seine Arme um mich schlang und tief durchatmete.
"Mama, ich will nicht sterben", flüsterte er. Erschrocken blinzelte ich. Doch er gab keinen Ton mehr von sich, schien wieder eingeschlafen zu sein. Ich gab ihm einen Kuss und flüsterte ihm zu, dass er sich darüber keine Sorgen machen sollte. Aber ich, verdammt, ich hätte mir große Sorgen machen sollen.