In einer Nacht voller Eis
Scheint klar und präsent
Ein Licht ganz leis’
Am Firmament
«Es war einmal vor sehr, sehr langer Zeit eine junge Königin mit einer Seele so rein, wie Sternenlicht und einem Herzen, in dem jeder einen Platz fand. Sie war fromm und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Hoffnung und Frieden in ihrem ganzen Reich zu verbreiten. Sie zog umher, half den Armen und brachte Liebe in die Herzen ihrer Untertanen.
Doch dann brach ein fürchterlicher Krieg los, der all ihre Arbeit zunichte machte. In dem grauenhaften Kampf gab es keine Hoffnung, keinen Frieden und keine Liebe. Doch anstatt zu fliehen, stellte sich die Königin ihren Feinden und fiel im Kampf.
Als ihr Herz aufhörte zu schlagen, begann ihr ganzer Körper zu leuchten und ihre Seele löste sich aus der sterblichen Hülle. Mit letzter Kraft bannte sie den Feind, bevor das Leuchten aus ihr wich. Das ganze Land suchte die Seele der Königin, aber niemand fand sie. Kurz darauf entbrannte ein neuer Krieg, der bis jetzt kein Ende gefunden hat.
Und die Legende erzählt, dass die Seele der Königin immer noch in einem Wald ist und darauf wartet, dass der Krieg endet und sie endlich Ruhe findet. Denn sie kann erst gehen, wenn ihre Aufgabe getan ist, wenn Hoffnung und Liebe in die Welt zurückgekehrt sind.»
Mit diesen Worten beendete die Frau ihre Erzählung und schaute seufzend auf ihren schlafenden Sohn. Wenn er im Reich der Träume war, wirkte er so unbeschwert, als ob alle Sorgen von ihm abgefallen wären. Seine Gesichtszüge waren entspannt. Liebevoll strich sie ihm über die Wange, bevor sie sich erhob und den kleinen Raum verliess.
«Mama, wann kommt Matthew wieder?» Es war wie jeden Tag die erste Frage, die Jonathan seiner Mutter stellte. Er sass aufrecht im Bett und das Licht fiel durch einen Spalt zwischen den Vorhängen in sein Zimmer hinein. Einst war es auch das Zimmer von Matthew gewesen, aber der war schon lange fort.
«Bald mein Schatz, er kommt bald wieder.» Jonathan sah das traurige Lächeln im Gesicht seiner Mutter und nickte. Sie sagte immer, dass Matthew bald wiederkommen würde, aber es war schon so lange her, seit er gegangen war.
«Zieh dich jetzt bitte an, das Frühstück ist gleich fertig.» Der weggetretene Ausdruck auf dem Gesicht der Frau war verschwunden und sie lächelte wieder.
Kaum war seine Mutter gegangen, schlug der kleine Junge eilig die Decke zurück und griff nach Hemd, Hose und Strümpfen. Nachdem er in die Kleider gestiegen war, hüpfte er fröhlich hinüber in die Küche.
Seine Mutter sass bereits am Spinnrad und spann die Wolle zu einem dünnen Faden. Die Arbeit sah leicht aus, aber Jonathan hatte es schon selbst versucht – es war ziemlich schwierig.
Nach den Frühstück zog er sich schnell seine guten Schuhe und die warme Jacke an, bevor er die Türe der kleinen Hütte öffnete und hinaus trat. Ihr Haus lag ein Stück vom nächsten Dorf entfernt und weit und breit sah man nichts weiter als sanfte Hügel und ein paar Büsche.
Jonathan rannte hinters Haus, wo sich ein kleiner Stall befand, in dem sie eine handvoll Schafe hielten. Er öffnete das Gatter und scheuchte die Tiere hinaus.
Es war ein schöner, sonniger Tag. Der letzte Schnee war vor ein paar Tagen geschmolzen und langsam wurde es wärmer. Jonathan führte die Schafe zu einer grünen Wiese an einem kleinen See, der in einer Senke lag. Etwas über dem See gab es einen grossen Stein, auf den man klettern konnte. Früher hatte Matthew ihm immer helfen müssen, aber jetzt konnte Jonathan das schon alleine.
Wenn er auf dem Felsen sass, dann fühlte er sich immer wie ein König, der stolz über sein Reich schaute.
Den ganzen Tag über lag Jonathan in der Sonne, beobachtete die Wolken, die über den Himmel zogen, oder schaute in die Ferne. Als er jeden Tag zusammen mit Matthew hier draussen verbracht hatte, erzählte sein grosser Bruder ihm immer Geschichte von tapferen Kriegern und Helden.
Als es schliesslich Abend wurde und die Sonne dicht über dem Horizont hing, machte er sich zusammen mit seinen Schafen wieder auf den Rückweg. Bei dem Steinhaus angekommen, führte er die Tiere wieder in den Stall und verriegelte die Türe ordentlich.
Als er hinein kam, stand die Suppe schon dampfend in einem grossen Topf auf dem Tisch. Das Essen war herrlich, aber Jonathan schlang es so schnell hinunter, dass er kaum etwas davon schmeckte und ging dann zu der Nische hinüber, die mit einem Fell bequem eingerichtet worden war.
Der Junge sass jeden Abend in dieser Nische und beobachtet den Weg, den Matthew nehmen musste, um zu seinem Zuhause zu gelangen. Jonathan wollte unbedingt der erste sein, der seinen Bruder sah, wenn er nach Hause kam.
Der Weg, der eine sanfte Kurve machte, war nur als heller Strich in der zunehmenden Dunkelheit zu erkennen. Das Gras war kurz und der Himmel, an dem man jetzt die ersten Sterne funkeln sah, klar.
«Vielleicht schaut Matthew genau jetzt auch die Stern an», dachte der kleine Junge, als der Schlaf ihn sanft umarmte.
Die Tage zogen ins Land, Jonathan hütete die Schafe und das Gras entlang dem Weg, wurde höher. Blumen spickten das unendliche Grün und der Mond nahm zu und dann wieder ab.
An manchen Tagen verliess Jonathan das Haus gar nicht, während er an anderen kaum zurückkehren wollte, aber er sass jeden Abend in der Nische und wartete auf seinen Bruder.
Von Tag zu Tag wurde das satte Grün der Gräser brauner, bis sich schliesslich der erste Schnee wie eine hauchdünne Decke über die Landschaft legte. Von da an ging der kleine Junge nicht mehr mit den Schafen nach draussen, sondern sass immerzu vor dem Fenster und drückte sich die Nase an der Scheibe platt.
Weihnachten verbrachten sie zu zweit und Jonathans Mutter verbachte ganze Tage damit, ihm von seinem Vater zu erzählen.
Eines Abends, als das Feuer im Kamin prasselte erzählte sie von dem Tag als sie ihren Mann das letzte Mal gesehen hatte. «Weisst du Schatz, er hat mir damals versprochen, dass er wiederkommen würde. Damals war ich gerade schwanger mit dir und er wollte unbedingt seinen kleinen Sohn sehen, wenn er nach Hause kam. Aber er kam nicht. Stattdessen schickten sie einen der schwarzen Reiter vorbei. Schon als dieser den Weg entlang ritt, wusste ich, dass dein Vater nicht mehr am Leben war. Ich weinte Tag für Tag und vermisste ihn schrecklich, aber ich hatte ja euch, meine beiden Söhne, dich und Matthew, und so würde er immer bei mir sein», schloss sie.
Jonathan schaute sie einen Moment nachdenklich an, bevor er fragte: «Heisst das, dass Matthew auch nicht wiederkommen wird? Er hat es mir nämlich auch versprochen.» Mit bebenden Schultern und Tränen in den Augen sah er seine Mutter an.
Diese nahm ihn in den Arm und hielt ihn ganz fest. «Nein mein Schatz, Matthew wird wiederkommen, ganz sicher. Er kommt bald wieder.»
Ein lauer Frühlingswind wehte die begeisterten Rufe und Schreie übers Land hinweg, als die Botschaft kam, mit der keiner mehr gerechnet hatte.
Der Krieg hatte ein Ende gefunden.
In dem kleinen Dorf, in dessen Nähe auch Jonathan und seine Mutter lebten, traten die Frauen singend auf die Strassen hinaus und die Kinder rannten voller Freude und Übermut umher.
Es zog sich weitere Wochen hin, aber nach und nach kamen die Soldaten, Ehemänner, Söhne, Väter, Brüder, wieder nach Hause. Jonathan sass noch viel ungeduldiger als sonst auf seinem Platz und konnte es kaum erwarten, dass sein Bruder endlich den Weg entlang gehen würde, an dessen Rand jetzt wieder kräftiges Gras spriesste.
Die Tage vergingen, aber Matthew kam nicht wieder.
Der kleine Junge versuchte sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, aber von Tag zu Tag runzelte er seine Stirn mehr und jeden Morgen dauerte es etwas länger, bis er aus seinem Bett geklettert war. Er weinte bloss stundenlang und auch die Mutter wurde zusehends stiller.
Eines Nachmittags kam seine Mutter zu ihm ins Zimmer und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Jonathan vergrub dem Kopf unter der Decke und tat so, als ob er sie nicht bemerkt hätte.
«Liebling?» Sie strich ihm sanft über den Rücken, bekam aber keine Antwort. Sie seufzte schwer. «Weisst du noch, was du Matthew versprochen hast, als er gegangen ist? Du hast gesagt, dass du auf ihn wartest und ihm entgegenrennst, wenn er den Weg entlang kommt. Was ist, wenn er jetzt kommt? Wer rennt ihm dann entgegen?»
Der Deckenberg bewegte sich und das verweinte Gesicht des kleinen Jungen kam zum Vorschein.
«Meinst du denn, er kommt noch?»
«Aber sicher doch! Er wird kommen. Es war noch kein Reiter da, also wird er kommen. Du weisst doch, wie weit es von da, wo Matthew war, nach Hause ist. Da braucht er eben eine Weile, wenn er zu Fuss reist.» Die Frau schenkte ihrem Sohn ein aufmunterndes Lächeln zu.
Von neuer Energie gepackt sprang Jonathan aus seinem Bett und rannte zu seiner Nische hinüber, wo er den ganzen Tag lang sitzen blieb. Aber mit jedem Moment, der verstrich, konnte man sehen, wie die Zweifel in ihm wieder wuchsen.
Es begann langsam dunkel zu werden und Jonathan sass mit angezogenen Knien immer noch an seinem Platz, also plötzlich eine Gestalt den Weg entlang kam. Obwohl Jonathan das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte, wusste er sofort, wer da auf ihn zukam.
«Matthew! Matthew!» Schreiend vor Freude sprang der Junge auf und rannte barfuss zur Türe hinaus.
Als der junge Mann die Gestalt sah, die auf ihn zu gerannt kam, breitete er seine Arme aus und sein kleiner Bruder flog geradewegs in sie hinein. Jonathan hatte so viel Schwung, dass Matthew nach hinten klippte und sie beide lachend und mit Freudentränen in den Augen auf dem Boden lagen.
Jetzt eilte auch ihre Mutter zu den beiden und zu Dritt schlossen sie sich in die Arme. Nach einer langen und innigen Umarmung zog Jonathan seine Familie ins Haus zurück, um Matthew zu erzählen, was er alles verpasst hatte.
Lachend und sich an den Händen haltend gingen sie zurück in die warme Hütte.
Und während dort drinnen eine Familie glücklich vereint vor dem brennenden Kamin sass und die Sterne über ihrer kleinen Hütte zu funkeln begannen, erstrahlte irgendwo, weit weg in einem Wald ein heller Schein auf, als sich eine Frau, geformt aus reinem Licht über die Baumwipfel erhob und zu den Sternen aufstieg.
Die Dunkelheit in Licht getaucht
Strahlend und geborgen
Die Hoffnung wird uns eingehaucht
Als gäbe es kein Morgen!