Ladira fühlte sich wie in Schwebe, als wäre kein Boden mehr unter ihr. Langsam öffnete sie die Augen und erblickte wieder die tiefvioletten Augen, in die sie gesehen hatte. Sie gehörten zu dem jugendlichen Gesicht eines Mannes mit halblangem schwarzen Haar. Das Gewand, das er trug, war in gedeckten, dunklen Farben gehalten und auf seinem Kopf saß ein geflickter Hut mit breiter Krempe und einer langen violetten Feder daran. Er lächelte sie an.
"Wie fühlst du dich?"
"Kalt", erwiderte sie und staunte darüber, wie brüchig ihre Stimme war. Ein Zittern lag darin, das sie sich nicht erklären konnte, "Kalt und irgendwie ... Meine Haut spannt."
"Du hast geweint. Das ist nur das Salz deiner Tränen auf der Haut. Komm mit mir mit", zwei kräftige Hände, die in schwarzen Handschuhen, deren Finger abgeschnitten waren, steckten, fassten ihre Arme und zogen sie auf die Beine.
"Warum habe ich geweint?"
"Ist das denn wichtig oder erinnerst du dich daran?", fragte er zurück und führte sie zum Wasser. Ihre Schritte waren unbeholfen und sie ließ den Blick schweifen. Sie nahm die Gegend wahr, doch ihr fiel nicht ein, wo genau sie war. Alles, was sie verstand war, dass hier ein See mit schimmernden Grund war und der Himmel über ihr allein durch Mond und Sterne erhellt.
"Wo bin ich?", fragte sie zögerlich, als ihr der Fremde half am Ufer niederzuknien.
"Schöpf Wasser mit den Händen und wasch dich. Es wird dir helfen", flüsterte er und fuhr mit seinen Fingern in ihr Haar, um es nach hinten zu streichen und festzuhalten, während Ladira begann sich Hände und Gesicht zu waschen, "Erinnerst du dich an deinen Namen?"
"Ladira", antwortete sie, ohne nachzudenken und sie stutzte. Woher kam diese Sicherheit, als sie den Namen aussprach? Er war so vertraut und dennoch ... Sie hob den Kopf und blickte den Fremden an. Ein dumpfes Dröhnen lag ihr in den Ohren und sie griff sich an den Kopf. Alles schien im Nebel zu versinken.
Hektisch sah sie sich um. Wo war sie hier? Wer war der Mann neben ihr?
"Ein schöner Name", er zog sie auf die Beine und lächelte warm, "Sei gegrüßt, Ladira. Dies ist der See der ewigen Nacht, mein Zuhause, denn ich bin ein Kind des Sees und man nennt mich Elijah. Dies kann nun auch dein Zuhause sein, schöne Rose."
"Danke. Wenn ... Wenn ich nur wüsste, wer ich bin", sie ließ den Kopf sinken, "Mein Name ist Ladira, aber mehr fällt mir nicht ein. Wie bin ich hierhergekommen?"
"Das kann ich dir nicht sagen, es tut mir leid", er lächelte wieder und fasste sie am Arm, um sie um den See herumzuführen, "Es scheint etwas Furchtbares passiert zu sein, dass du dich nicht mehr erinnerst. Ruh dich hier aus und leiste mir etwas Gesellschaft."
"Vielleicht sollte ich das tun, ja", Ladira griff sich erneut an den Kopf und verzog ihr Gesicht schmerzerfüllt. Das Dröhnen nahm noch einmal zu und mit jedem Schritt an seiner Seite verschwammen ihre Erinnerungen mehr und mehr, bis sich ein Schleier über ihre Augen legte und sie ihn mit ausdruckslosem Gesicht ansah.
Elijah schmunzelte zufrieden, hob die Hand und streichelte ihr über die Wange. "Lass uns gehen, schöne Rose. Dort drüben ist ein netter Platz, wo wir uns niederlassen können. Du musst hungrig sein", schlug er vor und sie lächelte matt zurück: "Ich folge Euch, Elijah."
Ein von ihr unbemerkter Blick zurück an die Stelle, wo Ladira zuvor zusammengebrochen war, ein Winken mit seiner freien Hand und der Nebel wallte auf und verschlang ihren Rucksack, den Dolch und den Körper ihres Meister. Sie verschwanden ohne eine Spur zu hinterlassen und Elijah wandte sich lächelnd an Ladira, deren Blick so leer geworden war, wie bei jemandem, der in Trance gefallen war.
"Warum leuchtet das Wasser?", sie musterte den See, dessen Oberfläche sich sanft kräuselte.
"Die Steine am Grund sind magisch", erklärte Elijah, "Sie spenden Licht und Leben, Heilen, Lindern Schmerzen und ... Helfen, wenn man etwas vergessen will." Er sah sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an, "Wie fühlst du dich, schöne Rose?"
Ladira antwortete nicht. Ihr Kopf dröhnte noch immer. Er bemerkte das Aufflackern ihres starken Willens in ihren tiefblauen Augen, die sie immer wieder zusammenkniff, um den Schmerz aus ihrem Kopf zu verbannen.
Mit einem Aufschrei machte sie sich von ihm los, griff sich an den Kopf, raufte ihr Haar und sank auf die Knie. Erinnerungen überkamen sie, rauschten an ihr vorbei wie ein Zug, der auf schnellstem Weg ins Schwarze raste. Wortfetzen und Sätze hallten durch ihre Ohren.
"Komm bald zurück"
"Wir brauchen dich hier!"
"Pass auf die Mädchen auf, Ladira, pass auf sie auf, beschütze sie mit deinem Leben."
"Ich komme schon klar, Schwesterherz. Folge Odin nur in die Außenwelt und erzähl uns dann, was du alles erlebt hast."
"Kann ich mitkommen, Ladira?"
"Ladira? Bitte kann ich mitkommen!"
Das sommersprossige Gesicht eines gerade mal siebenjähriges Mädchens mit schwarzem, zerzausten Haar ...
Im Landhaus in Elensar stolperte Finn die Treppe hinunter. Seine Laune an diesem Tag war bereits durch zwei Dinge auf das Niveau des Kellers gesunken. Erstens war über Nacht ein großer Pickel auf seiner Nase gewachsen, der den Hormonwahnsinn seiner jugendlichen Jahre zurückzuführen war, jedoch genug Anlass für seine Ziehschwestern gab, über ihn zu spotten. Das war schlimm genug. Zweitens fand er seine kleine Schwester nirgends und das war noch viel, viel schlimmer als jeder ärgerliche Pickel in seinem Gesicht. Shanora schien spurlos verschwunden zu sein. Er wusste, er musste mit Pyrofera reden und sie bitten, sie zu suchen. Celles und Saphira waren zu beschäftigt, um mit Vanessa an deren Windmagie zu arbeiten und mit ihren eigenen Studien. Es fiel beiden ausgesprochen schwer, auch nur irgendeinen Elementarzauber auf die Reihe zu bekommen, geschweige denn, durch die innere Gabe Wasser oder Feuer bändigen zu können. Einfache Zauber konnten sie mittlerweile sehr gut. Finn wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas Grundlegendes die beiden hemmte und sei es nur seine Einbildung, aber er fand es schon früher komisch, als er noch nicht so lange im Hause Dunkler lebte, dass die rothaarige Celles eine Affinität zu Wasser hatte, während die blauhaarige Saphira die Wärme des offenen Feuers suchte. Irgendwie hatte ihn dieser Anblick stets irritiert.
"Tante Pyra?", er stieß die Tür zur Küche auf, blickte sich um. Der Küchentisch war verwaist, die Stühle ausnahmsweise ordentlich dazugestellt und das Geschirr verräumt. Eine Braue verwundert hochziehend, denn er konnte schwören, gerade noch das Sperren von Keramik gehört zu haben, durchmaß er den Raum. Einem Instinkt folgend, riss er sämtliche Schränke auf, in der Hoffnung, seine Schwester habe sich in einem dieser versteckt.
"WAH!!!", Finn prallte mit einem erschrockenen Aufschrei zurück, "Was zum Henker?!"
In einem der Schränke befand sich tatsächlich etwas Anderes als Geschirr, doch es war nicht das, was er sich gewünscht hätte.
An einer Scheibe Brot knabbernd lagen im Küchenschrank zwei dreifärbige Katzen, das Gesicht halb schwarz, halb rot-braun und beige, der Rücken ebenfalls halb und halb, wie auch der Schwanz, der Bauch und die Pfoten hell.
"Was zum Henker? Ich wünsch dir auch ein fröhliches Hallo. Wer bist du?", fauchte eine der beiden Katzen mit menschlicher Stimme. Finn legte den Rückwärtsgang ein, als die beiden elegant aus dem Schrank hüpften und ihn aus ihren strahlend blauen Augen musterten. Innerlich stöhnte er auf. Zwillingskatzen. Das Phänomen von Zwillingen schien ihn zu verfolgen, nur waren die beiden, mit denen er lebte, Zweibeiner und unterschieden sich sehr wohl in äußerer Erscheinung und Temperament.
"Schau nicht so blöde! Gibt's hier nichts zum Essen als Brot? Wir haben Hunger!", verlangten sie unisono und Finn öffnete mit einer Hand, ohne den Blick von den Katzen abzuwenden, die Tür ins Wohnzimmer.
"Ähhh...", war das Einzige, was er zustande brachte, bevor er den Kopf zur Seite drehte, weiterhin zu den Katzen schielend, und schrie: "CELLES? SAPHIRA? IRGENDWER? Wir haben irgendwie ... Gäste???!!"
Schritte auf der Treppe und schon tauchten hinter ihm ein roter, ein blauer und ein blonder Kopf auf. Er blinzelte. Blond? Seit wann war er nicht mehr der Einzige blonde im Haus?
"Was ist denn los, dass du so brüllen musst?", Celles drängte sich an Finn vorbei in die Küche und stutzte, als sie die beiden Katzen sah, "Oh."
"Sessy und Sassy, welche Überraschung! Gerade hat mich eure Mutter im Badezimmerspiegel erschreckt!", verkündete die genervte Stimme von Ladiras Schwester, die sich einen Weg durch ihre gemeinsamen vier Ziehkinder bahnte und sich neben Celles aufbaute. Die Hände in die Hüften gestemmt, der Blick feurig funkelnd und ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, überragte sie sämtliche Anwesenden. "Da wasche ich mir nichtsahnend meine Hände, bin allein im Badezimmer und plötzlich fragt mich eine Frau mit ägyptischer Herkunft, ob ich ihre Töchter gesehen habe! Was meint ihr beiden, wie sehr ich mich erschrocken habe!", fauchte Pyrofera, "Ich habe genug zu tun mit der Rasselbande hier vor Ort seit Ladira weg ist. Ständig muss ich ein Auge auf Zwei halbwüchsige Vampire kann ich wirklich nicht gebrauchen!"
Finn beobachtete, wie seine drei Ziehschwestern, erstaunt, wie die beiden Katzen zum Küchenschrank zurückwichen und sich dagegen drängten. "Wir wollten doch nur ... ", setzte eine der beiden an, doch Pyrofera war schneller: "Nichts wolltet ihr! Ärger machen wolltet ihr! Ihr seid ohne ein Wort zu sagen, abgehauen und ausgerechnet hierher nach Elensar! Denkt ihr, euer Vater hätte sich nichts dabei gedacht, als er zurück in die Außenwelt ging? Denkt ihr, er wäre stolz auf euch, dass ihr hierher zurücklauft? Ihr seid Verwandte der weißen Königin! Und die ist tot! Tut mir leid, Finn" - ein kurzer, entschuldigender Blick schnellte auf den blonden Jungen - "Ich will nur sagen, dass es vielleicht ein BISSCHEN riskant ist, wenn ihr nach Elensar zurückkehrt, solange der Dunkle noch da draußen sein Unwesen treibt."
"Wir wollen nur ein bisschen Zeit mit euch verbringen, ist das so falsch?", die linke Katze wiegte den Kopf schief und wuchs. Das Fell zog sich zurück und die Haut spannte sich über schnell wachsende Knochen und Sehnen. Die katzischen Züge verschwanden und wichen dem Gesicht einer hübschen jungen Frau mit großen schwarz umrandeten Augen, beinahe vollen Lippen und zweifärbigem Haar, das über ihre Schulter fiel, "Lass uns ein paar Tage hier bleiben, bitte! In Ägypten ist es so langweilig und Sethos ist die ganze Zeit am Hof des Pharaos bei dem jungen Prinzen."
"Ja, bitte. Wir bleiben auch im Haus und im Garten. Wir setzen nicht einen Fuß in den Wald, versprochen!", bettelte auch die zweite Katze, die sich ebenfalls verwandelt hatte. Finn stöhne laut auf. Noch mal zwei zweibeinige Zwillinge. Er wünschte sich so sehr, dass sich irgendwann mal ein anderer Junge in diesen Haushalt verwirrte. Er war entschieden in der Unterzahl. Eins zu acht. Wobei ... Er stutzte.
"Pyrofera!", platzte er heraus und duckte sich unter dem strengen Blick, der ihn prompt traf, "Ich weiß, ich weiß. Standpauke. Klappe halten. Zuhören. Schon klar, aber das ist wichtig! Ich kann Shanora seit Tagen nirgendwo finden!"
"Seit wie vielen Tagen genau?", Pyrofera verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich mit zusammengekniffenen Augen vor. Ihre Stimme war bebend. Jedes einzelne Wort betont.
"Vier?", fiepte Finn, als er sich so weit nach hinten lehnte, wie es sein Gleichgewicht erlaubte.
Pyroferas Augen wurden groß und sie starrte ihn einen Moment an, ohne ein Wort zu sagen. Dann begann sie leiser und mit zitterndem Tonfall: "Vier Tage ... Vier ... Und ich erfahre erst jetzt davon? Finn, warum bist du nicht schon eher zu mir gekommen?"
Er hätte mit allem gerechnet. Mit einer Standpauke, einer Ohrfeige, einer Explosion. Mit allem, aber nicht damit, dass Pyrofera an der geöffneten Tür zu Boden sank und das Gesicht in den Händen vergrub. Ihre Schultern bebten.
Sofort beugte sich Saphira, die Einfühlsame, über ihre Tante und legte beruhigend eine Hand auf deren Rücken.
"Ich halte das nicht aus ... Ihr macht mich wahnsinnig. Ihr alle! Zwei Mädchen waren es ursprünglich. Ladira und ich dachten, das kriegen wir schon hin. Jede schaut auf eines. Wird schon schief gehen. Dann wurden du und deine Schwester ans Ufer der Insel gespült. Noch zwei. Das eine ein Baby. Alles klar, kriegen wir hin", nuschelte Pyrofera, ihre Stimme von ihren Händen gedämpft, "Odin war ja auch noch da.", sie blickte auf, ihre Augen brannten, doch sie war unfähig eine Träne zu vergießen, "Und jetzt ... Jetzt seid ihr so viele und alle so gesegnet, aber noch so jung und unbeholfen. Vanessa, was hast du nur mit deinen Haaren angestellt? Was ist passiert mit dem violett? Magst du das blond so viel lieber? Finn, lieber Finn, wenn Shanora nicht aufzufinden ist, komm bitte gleich zu mir. Sie ist doch unsere Jüngste. Ich kann meine Augen und Ohren nicht überall haben."
"Es tut mir leid, Pyrofera ...", murmelte der Junge und blickte betreten drein, "Ich dachte, sie sei nur wieder in den Wald abgehauen. Da ist sie ja gerne und die Bäume tun ihr nichts."
"Nichts auf dieser Insel tut ihr was. Nichts im ganzen Wald", fügte Celles hinzu, "Solang sie auf der Insel bleibt, ist alles in Ordnung. Vielleicht schmollt sie nur wieder. Sie kommt immer nach Hause. Immer."
"Ich weiß ja", Pyrofera schüttelte seufzend den Kopf, "Sie ist ja schon öfter weggeblieben, aber jetzt, wo Ladira fort ist, würde ich gerne die Übersicht behalten. Von heute an, sagt mir jeder von euch, wann ihr wohin geht und was ihr macht, verstanden?"
"Auch, wenn wir aufs Klo gehen?", Finn konnte sich die Frage nicht verkneifen, "Oder uns die Zähneputzen?"
"Selbst das."
"Tante Pyrofera?", Sassy zog die Beine an den Körper. Sie lehnte Rücken an Rücken mit ihrem Zwilling, die in gleicher Pose auf dem Boden verweilte. Beide trugen sogar die gleichen Wickelkleider, nur hatte die eine links, die andere rechts, den Stoff um die Schulter geschlungen. "Dürfen wir über Nacht bleiben?", stellte Sessy die Frage, als ihre Tante aufsah, "Wir stellen nichts an und sind dann morgen gleich wieder weg. Wir wussten ja nicht, was hier los ist..."
"Natürlich dürft ihr das.", antwortete Pyrofera und richtete sich wieder auf. Sie strich ihr Gewand glatt und atmete tief durch. Mit wachsamen Auge blickte sie auf ihre versammelte Familie und die beiden Gäste herab. Was für ein anstrengender und wilder Haufen, der sie noch an den Rand des Wahnsinns trieb. Sie hoffte, dass Ladira bald wieder zurückkommen würde und ebenso die kleine Shanora.