Michael hatte mit seiner letzten SMS voll ins Schwarze getroffen. Silvia war hin und weg. Die letzten vier Jahre hatte sie nie mehr daran gedacht, sich nach einem Partner umzusehen. Ihre Mutter hatte oft gesagt, sie solle doch einmal unter Leute gehen. Wie oft hatte sie ihr angeboten, Tommy könne über Nacht bei Oma bleiben. Aber Silvia hatte gar kein Interesse dran. Sie lebte in ihrer kleinen Welt, in der sie alles für Tommy und sich aufs Angenehmste arrangierte.
Sie hätte so viele "Angebote" gehabt, die sie nicht einmal im Ansatz interessierten. Schöne Frauen werden naturgemäß oft angemacht. Allerdings hatte sie keine Lust, eine weitere Trophäe irgendwelcher Schürzenjäger zu sein, die dann womöglich die Nase rümpften, wenn sie erfuhren, dass sie Mutter war. Auch der Sex war ihr nicht abgegangen, sie hatte alles was sie brauchte. Sie hasste diese plumpen Vertraulichkeiten. Die Männer glaubten anscheinend, man müsse eine Frau angreifen, berühren, um sich mit ihr zu unterhalten! Aber dieser Michael...
Wie zart er ihre Stirn geküsst hatte und wie liebevoll er sie zurück in seine Arme gezogen hatte. Im Nachhinein betrachtet, war es auch angenehm gewesen, von ihm eingecremt zu werden. Weil seine Berührung immer etwas respektvolles hatte. Etwas... ja, etwas liebevolles. Und wie er mit Tommy umging. Wie ein Vater. Dass er in der SMS noch korrigierte: "An EUCH!" Er war etwas Besonderes. Wie wäre es ihm sonst gelungen, Ihr Verlangen nach seiner Nähe zu wecken. Und wie! Sie hatte es genossen, sich auf der rasanten Fahrt in den Hafen an ihm festzuhalten und auch, sich auf dem Weg zu seinem Wagen einzuhängen. Niemand hatte es bis jetzt geschafft, dass sie ihm von sich aus einen Kuss auf die Wange, geschweige denn, auf die Lippen hauchte. Dass sie Sehnsucht fühlte, seit sie sich auf den Heimweg gemacht hatten. Wieder betrachtete sie die Visitenkarte. Er hatte eine schöne Handschrift. "Eine besondere Nummer für eine besondere Frau! Bis bald, Silvie!" "Silvie". Es gefiel ihr, dass er sie so nannte. Er dominierte ihre Gedanken. Und das, obwohl... oder vielleicht gerade weil er sich in Zurückhaltung übte. Er wußte wohl genau, dass sie seinem Charme längst erlegen war, denn er ließ jede Annäherung von ihr kommen. Allerdings nicht, ohne ihr dafür Gelegenheit zu bieten. Er schien es zu beherrschen, ihr die Schritte der Annäherung zu überlassen, die er schon vorhersah. Seine Nähe hatte zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ein Verlangen in ihr geweckt. Gefühle von einer Natur, die sie nicht annähernd so schön in Erinnerung hatte. Erregung! Die letzte SMS war der Wahnsinn gewesen. "Ich werde auf deinen Schwingen schlafen..."
"Ach Michael, was hast du nur mit mir gemacht?" seufzte sie. "Wie konnte das passieren, dass ich mich soo verliebe?" Es war an der Zeit, schlafen zu gehen. Als sie aus dem Bad kam. tat sie etwas, was sie sonst nie tat. Sie holte sich ihr Handy und legte es auf den Nachttisch. Er würde sich nicht mehr melden heute Nacht. Das wusste sie! Aber wenn doch...