Viktor sah Luca noch einen Moment hinterher, als dieser fast fluchtartig die Hütte verließ. Der Vampir konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wenn er an den schon nahezu geschockten Gesichtsausdruck des Anderen dachte. Was hatte der denn geglaubt? Dass er, Viktor, ihn aufs Bett werfen und Besitz von ihm ergreifen würde? Nein, das hätte der Adlige mit Sicherheit nicht getan. Luca hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er Viktors Anwesenheit hier nicht wünschte. Und wäre dieses dumme Pferd nicht fortgelaufen, dann wäre er schon längst auf dem Rückweg.
Warum hatte Luca nicht einfach seinen Onkel gebeten, ihn, Viktor, abzuholen? Das wäre sicher kein Problem gewesen, denn so weit waren sie ja nun nicht vom Gestüt entfernt.
Während er darüber nachdachte, zog er sich die Sachen an, die der junge Mann ihm herausgelegt hatte.
Schließlich verließ er das Schlafzimmer und ging langsam zurück Richtung Haustür, während er sich etwas genauer im Wohnzimmer der Hütte umsah.
Platz, um hier zu schlafen, wäre ja genug vorhanden, aber es fehlte ... ein Sofa.
In dem Raum standen lediglich zwei alte Ledersessel und ein
Couchtisch. Und zwei Sessel zusammenzurücken, um darauf zu schlafen? Nein! Nach so einem unbequemen Nachtlager stand Viktor nicht der Sinn ... und Luca bestimmt auch nicht. Also würden sie beide wohl oder übel zusammen in dem Bett nebenan schlafen müssen.
Der Vampir seufzte leise und setzte seinen Weg zum Ausgang der Hütte fort. Dort blieb er stehen, lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete Luca einen Moment, der an dem Steg stand und den Blick der gegenüberliegenden Seite des Sees zugewandt hatte.
Viktor lauschte dem noch weit entfernten Donnergrollen, das sich für seine empfindlichen Ohren allerdings anhörte, als ob sich der Ursprung unmittelbar über der Hütte befinden würde. Auch konnte er den Geruch des Regens wahrnehmen, den das aufkommende Unwetter mit sich bringen würde und ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut spüren, was diesen Umstand bestätigte. Nein, das Gewitter würde nicht an ihnen vorbeiziehen, dessen war der Vampir sich sicher.
Einen Moment lang überlegte er, ob er Luca nicht vorschlagen sollte, das Motorrad zu nehmen und einfach wieder zum Gestüt zurückzufahren, aber dann wischte der Adlige diesen Gedanken beiseite und ein Grinsen huschte über sein Gesicht.
Die Vorstellung, mit dem jungen Mann während dieses Unwetters hier „gefangen“ zu sein, reizte ihn einfach zu sehr.
Er wusste, dass er Luca sehr verunsichert hatte mit dem Geständnis über sein wahres Wesen. Nicht, dass der junge Mann Angst vor ihm, Viktor, hatte. Die Offenbarung war nur ein weiterer Punkt auf einer Liste von Dingen gewesen, die der Adlige Luca vorenthalten und erst nach und nach gestanden hatte.
So war es nicht verwunderlich, dass dieser erst einmal Zeit brauchte, um darüber nachzudenken und es zu verarbeiten. Der Unsterbliche war allerdings fest entschlossen, dem jungen Mann seine Zweifel zu nehmen … so schnell wie möglich.
Viktor löste sich aus dem Türrahmen und machte ein paar Schritte in Lucas Richtung, der immer noch den Himmel beobachtete. Hinter dem Jungen blieb der Vampir stehen und strich ihm durch die Haare.
»Ich hoffe, du bist jetzt angezogen.«
Der Adlige lachte leise, neigte den Kopf und küsste sanft Lucas Nacken.
»Natürlich ... was denkst du denn von mir?«
»Wenn ich das wüsste, dann wäre es nicht so kompliziert.«
Viktor legte die Hände auf die Hüften des Anderen und drehte ihn zu sich herum. »Hör zu ... es war nicht in Ordnung, dir zu Anfang einige Sachen vorzuenthalten, darüber bin ich mir im Klaren. Andererseits ging es nicht anders und das weißt du genau. Im Endeffekt war ich ehrlich und du hast alles von mir selbst erfahren und nicht erst durch andere. Also könntest du bitte aufhören zu schmollen?«, er strich mit dem Finger über Lucas Lippen, »Auch, wenn das sehr sexy aussieht.«
Der junge Mann hob den Blick und sah dem Vampir in die Augen. Seine Mundwinkel zuckten verräterisch, als er erwiderte: »Na, mal sehen, ob
sich da was machen lässt.«
Dann legte er eine Hand in Viktors Nacken, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn fordernd.
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Das Gewitter braute sich immer mehr zusammen. Hohe, dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel und verwandelten das sommerliche Blau in ein hässliches Schwarz-Grau. Blitze zuckten über das Firmament und der Donner krachte ohrenbetäubend. Als schließlich die ersten dicken Tropfen fielen, suchten die beiden Männer fluchtartig die Hütte auf und keine Minute später schüttete es wie aus Eimern.
Zum Glück hatten die zwei geistesgegenwärtig Viktors Sachen und das Bettzeug, welches ja noch zum Auslüften auf der Bank vor dem Haus gelegen hatte, mit hinein genommen und die Anziehsachen über die Sessel gelegt. Trocknen würde sie hier zwar nicht so gut wie vorher in der Sonne, aber das war nicht mehr zu ändern.
Der Himmel war mittlerweile pechschwarz und es war so dunkel als ob es mitten in der Nacht wäre, dabei war es gerade einmal früher Abend.
Nebeneinander standen die beiden im Eingang des Häuschens und beobachteten wortlos das Wetterschauspiel vor der Tür, bis Luca das Schweigen brach. »So, nun sitzen wir erst mal in der Bude fest. Was jetzt?«
Der Vampir trat hinter ihn, zog ihn an sich und schnurrte ihm ins Ohr: »Fällt dir da wirklich nichts ein? Also mir schon.«
Eine Gänsehaut breitete sich auf Lucas Körper aus.
Kichernd sagte er: »Doch, wir könnten was essen. Oder ...« Er drehte sich in der Umarmung des Anderen um und grinste diesen an.
»Oder?«, wiederholte Viktor und musterte den Blonden schmunzelnd.
Dieser befreite sich aus den Armen des Vampirs und schob diesen dann rückwärts Richtung Schlafzimmer.
»Das zeig ich dir jetzt.«
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Es war bereits gegen Mitternacht, als Viktor aus dem Schlaf hochschreckte.
Im ersten Augenblick sah er sich etwas desorientiert um. Wo zum Teufel war er? Doch dann klärte sich sein Gedankenwirrwarr. Natürlich! Er war mitten im Wald, in einer Hütte, mit ... Luca.
Viktors Blick fiel auf den jungen Mann, der neben ihm lag, den Arm um die Hüfte des Vampirs geschlungen und leise schnarchend. Soweit schien alles normal zu sein. Aber was hatte ihn, Viktor, dann aus dem Schlaf gerissen? Der Adlige konnte spüren, dass sich die feinen Härchen an seinem ganzen Körper aufgerichtet hatten, ganz so, als sei er wegen irgendetwas in höchster Alarmbereitschaft. Der Vampir konnte sich jedoch keinen Reim darauf machen.
Vorsichtig, um den jungen Mann nicht zu wecken, befreite Viktor sich aus dessen Umarmung und setzte sich auf. Er lauschte in die Dunkelheit, aber außer dem Geräusch des Regens, der auf das Dach des kleinen Hauses trommelte, war nichts Außergewöhnliches zu hören. Leise stand Viktor auf und ging hinüber in das Wohnzimmer.
Ein leichter, kühler Wind wehte durch die noch offene Eingangstür hinein und der Vampir konnte durch die Öffnung sehen, dass noch immer Blitze den Himmel erhellten.
»Na, hoffentlich beruhigt sich das bis morgen wieder«, knurrte Viktor und drehte sich um, um wieder zurück ins Schlafzimmer zu gehen. Anscheinend hatten seine Sinne ihm einen Streich gespielt oder er hatte etwas geträumt, das ihn in Aufruhr
versetzt hatte. Aber es war müßig, darüber nachzudenken.
Viktor streckte sich und gähnte. Sinnvoller war es, wieder zurück zu dem Anderen unter die Decke zu kriechen.
Der Vampir hatte gerade wieder das Bett erreicht, als ein ohrenbetäubender
Lärm ihn herumwirbeln ließ. Er hörte, wie Luca aufschrie und in der nächsten Sekunde neben ihm stand, am ganzen Körper zitternd.
»Was zum Teufel war das?«, Schutz suchend drängte der junge Mann sich an Viktor.
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte dieser und schob Luca zur Seite, »warte hier. Ich schaue nach.«
Der Vampir ging in Richtung der Tür zum Wohnzimmer und blieb wie vom Donner gerührt dort stehen.
Allem Anschein nach hatte ein Blitz in die alte Eiche hinter dem Haus eingeschlagen und einen der dicken Äste abgespalten, denn ein solcher ragte jetzt durch ein riesiges Loch im Dach geradewegs ins Haus. Und als ob das nicht schon übel genug gewesen wäre, nahm der Regen in diesem Moment wieder an Stärke zu, sodass das Wasser munter ins Wohnzimmer lief.
»Na toll«, knurrte Luca, der neben Viktor getreten war und sich das Malheur ebenfalls anschaute, »ich denke ... wir sollten unsere Klamotten nehmen und zum Gestüt zurückfahren. Der nächste Baum landet vielleicht auf uns.«
Der Vampir nickte. »Ist wahrscheinlich das Gescheiteste. Na, dann lass uns mal zusammenpacken.«
»Ich hoffe nur, dass das Motorrad nichts abbekommen hat. Ich geh erst mal nachsehen. Ansonsten haben wir die Arschkarte.« Der Blonde holte sein Handy vom Nachttisch, schaltete die Taschenlampe ein und verschwand nach draußen.
Nach ein paar Minuten war er wieder zurück. »Die Maschine scheint in Ordnung zu sein. Also machen wir, dass wir hier verschwinden.«
Sie verstauten alle Sachen, die wichtig waren, in Lucas Rucksack und den Satteltaschen des Motorrads.
»Den Rest kann Alan morgen mitbringen, wenn er sich den Schaden anschaut«, sagte der Blonde, schwang sich auf die Maschine und startete den Motor. Grinsend hielt er Viktor den Helm hin. »Dann mal los.«
Der Adlige nickte und verdrehte seufzend die Augen. Dann nahm er hinter Luca Platz ...